Heute vor 10 Jahren ging in Hamburg das Webradio Byte FM an den Start. Damals von vielen belächelt hat sich das Projekt, das von einem Freundeskreis aus 5000 Unterstützer*innen getragen wird, schnell zum unverzichtbaren Bestandteil der deutschen Medienlandschaft gemausert. Der gebührenfinanzierte Rundfunk trudelt bei der Nischenmusik bis auf wenige erfreuliche Ausnahmen in einer Abwärtsspirale aus Einsparungen, Sendeplatzstreichungen und – besonders zynisch – Abzielen auf „Hörerfreundlichkeit“. Byte FM nutzt im Web die große Chance des Radios, die die Programmdirektoren und Intendanten der Öffentlich-Rechtlichen fahrlässig vertun: die eines vielfältigen, tiefenscharfen, hinterfragenden und interkulturellen Sendespektrums. Gratulation dem gesamten über hundertköpfigen Team um Ruben Jonas Schnell zum runden Geburtstag!
Allgemein
Von unserer Liebe, unserem Meer, unseren Nächten
Foto: Stefan Franzen
Unter allen Interviews, die ich 2017 geführt habe, war dieses eines der eindrücklichsten: Die katalanische Sängerin Sílvia Pérez Cruz kam Ende August nach Zürich, um dort mit dem Gitarristen Jaume Llombart ein Konzert am Seeufer zu spielen. Am Nachmittag habe ich mit ihr über das neue Werk Vestida De Nit gesprochen, das sie im Mai mit Streichquintett veröffentlicht hat, und auch ein bisschen über ihre Karriereschritte davor. Alex Sanchez hat mir über mein brüchiges Spanisch hinweggeholfen und wunderbar als Dolmetscher fungiert! Ich habe das Gespräch in ganzer Länge bislang nicht veröffentlicht.
Sílvia, unter all deinen CDs ist Vestida de Nit diejenige, die der klassischen Musik am Nächsten steht. Kannst du erklären, was dich als Sängerin daran fasziniert, mit einem Streichquintett zu arbeiten?
Sílvia Pérez Cruz: Zuerst möchte ich sagen, dass ich nicht in Stilen denke, nicht in Begriffen wie klassische Musik oder Rock. Ich denke in Gefühlen und Liedern. Zufällig hörte ich vor ungefähr zehn Jahren ein Streichquartett und ich erinnerte mich daran, dass ich immer schon mal mit einem Quartett singen wollte. Mit dem Kontrabassisten Miquel Angel Cordero und dem Cellisten Joan Antoni Pich hatte ich schon länger in verschiedenen Projekten gearbeitet, und die beiden habe ich gebeten, die übrigen Musiker zusammenzustellen. Der Kontrabass als Ergänzung zum herkömmlichen Quartett erzeugt dabei ein zusätzliches Gewicht und sorgt für reichere Farben. Ich sehe das nicht als klassisches Projekt, und ich bin stolz darauf, wie das Ergebnis jetzt klingt. Wert habe ich vor allem darauf gelegt, dass wir ohne Noten spielen, aus der Erinnerung, und dass wir keine Angst davor haben, auch mal Fehler zu machen, wie das eben in der populären Musik auch der Fall ist.
Für die Arbeit mit dem Quintett hast du auch Lieder ausgewählt, die du schon lange singst. War es dein Bedürfnis, diese Lieder auf ein „höheres“ Niveau zu heben und ein ganz anderes Gesicht zu zeigen, ihre Universalität vor Ohren zu führen?
Pérez Cruz: Die Hälfte der Lieder auf der Platte habe ich schon in anderen Versionen aufgenommen, die andere Hälfte ist neu. Der Grund dafür ist: Ich wollte mich auf ein Repertoire stützen, mit dem ich vertraut bin, sodass ich damit die Freiheit habe, die verschiedenen Klangmöglichkeiten und Dynamik des Quintetts auszuprobieren. Diese Lieder sind flexibel und großzügig, sie gestatten es mir, die Grenzen dieser Besetzung auszuloten, denn die war ja Neuland für mich. Als ich vor fast fünf Jahren mit diesem Projekt begann, war es nur dazu gedacht, in Konzerten gespielt zu werden. Die ersten Songs arrangierten Freunde von mir und ich selbst. Nach dem ersten Konzert stellten wir fest, dass diese Arbeit eine Fortsetzung verdiente. Es kamen dann neue Lieder dazu, auch neue Arrangeure. Ursprünglich sollte es gar kein Album werden.
Das Titelstück wurde von deinen Eltern geschrieben, die Streichquintett-Version ist so intensiv, dass sie zu Tränen rühren kann. Als Kind, so habe ich gelesen, fandest du das Lied langweilig. Kannst du erklären, wie deine Gefühle gegenüber „Vestida De Nit“ sich entwickelt haben, so dass du dich schließlich entschlossen hast, es aufzunehmen?
Sílvia Pérez Cruz & Càstor Pérez: „Vestida De Nit“
Quelle: youtube
Pérez Cruz: Dieses Lied ist so alt wie ich. Die Worte stammen von meiner Mutter Glória Cruz, die Musik von meinem Vater Càstor Pérez. Es ist eigenartig: Dieses Lied war ein Teil meiner Kindheit, wie viele andere. Es hat mich damals nicht bewegt, auf die Dinge, die zuhause passieren, legt man ja nicht so viel Wert, sie scheinen nichts Besonderes zu sein. Kurz bevor mein Vater starb, vor sieben Jahren, haben wir beide ein Konzert in Calella gegeben und Habaneras gesungen. Von diesem Moment an hat sich alles verändert: Die Leute fingen an, nach dem Lied zu verlangen, das Publikum dachte, das wäre ein traditionelles Lied. Auch meine Gefühle haben sich verändert: Ich fand es angenehm, es zu singen, fühlte mich zuhause in dem Lied. Sehr interessant, wie sich die Geschichte dieses Liedes in meinem Leben verändert hat.
Das dazugehörige Video entstand auf Mallorca. Ist das der Ort, der im Text besungen wird? Oder geht es überhaupt nicht um einen konkreten Strand, ein konkretes Meer?
Pérez Cruz: Es ist ein realer Ort, und er erzählt über die Landschaft in meiner Heimat. Aber es handelt sich nicht um einen konkreten Strand, von dem da die Rede ist. Das stammt alles aus der Vorstellungskraft meiner Mutter, es ist ihre typische Art, über das Leben zu erzählen. Sie spricht über die Natur, als wäre sie eine Person. „Vestida De Nit“ erzählt von unseren Seeleuten, unserer Liebe, unserer Landschaft, unserem Meer, unseren Nächten.
Es ist ja auch eine Habanera, und ich bin mir sicher, dass viele Leute in Mitteleuropa diese Form ausschließlich mit Kuba in Verbindung bringen. Doch sie ist auch in Spanien und Katalonien populär.
Pérez Cruz: Die Habanera ist kubanisch. Aber es gab eine Epoche, während der viele Katalanen nach Kuba gingen, und sie haben von dort nicht nur Ideen und Besitztümer, sondern auch Lieder mit zurück gebracht. Die Form und der Rhythmus sind in Katalonien die gleichen, doch die Texte haben sich natürlich verändert. Sie sprechen von ihrer Vorstellung von Kuba. In Kuba war die Habanera nicht sehr erfolgreich, sie ist nicht sehr tanzbar, in Katalonien und anderen Teilen Spaniens dagegen hat sie sich durchgesetzt. Wie sich die Habanera in Spanien während der Sommerfestivals kommerzialisiert hat, das mag ich nicht so sehr. Aber ich mag die Version, wie sie in den Tavernen gesungen wird, das ist authentisch, als würde sich ein kubanischer Matrose mit einem katalanischen unterhalten. So habe ich die Habanera mit meinem Vater gesungen. Er war einer der wichtigsten Erforscher der Habanera, hat in Havanne als Anthropologe dieses Stils gewirkt. Ich habe im Laufe meines Lebens viele Habaneras gehört, sie sind „unter meiner Haut“, aber ich singe nur drei oder vier, es ist nicht mein Hauptstil.
Vielleicht sind sie dir sogar zu nahe, sodass du keine Distanz hast, dass sie zu „heilig“ sind?
Pérez Cruz: Meine Beziehung zur Musik ist so, dass ich nicht über sie nachdenke. Ich habe zuhause Habaneras gehört, habe aber auch Klassik und Jazz studiert. Ich fühle einfach, dass in den Habaneras wunderschöne Melodien stecken, auch wenn ich nicht besonders in diesem Genre drin bin.
Foto: Stefan Franzen
Seit deinem Album 11 De Novembre hast du Stile aus Katalonien, Kastillien, Galicien und Portugal in deinem Repertoire gehabt, aber du bist auch bis nach brasilien, Peru und Venezuela gegangen, so wie etwa auf den ersten drei Songs von Vestida De Nit. Ist es dein Ziel, alle iberischen und lusitanischen Kulturen zu zeigen?
Pérez Cruz: Ich bin mir bewusst über die Unterschiede der Stile und Sprachen in den Liedern, die ich aufgreife. Aber in den letzten Jahren sind mir diese Unterschiede immer weniger wichtig geworden. Ich suche nach den Gemeinsamkeiten in den Liedern, und diese Gemeinsamkeiten sind die Schönheit und die Gefühle. Das macht sie universell verständlich und das ist für mich der Schlüssel zu einem Lied. Wenn ich das fühle, dann ist das für mich eine schöne Entschuldigung, den Text zu lernen, egal in welcher Sprache. Da plane ich vorher nichts. Ich bin Musikerin, wenn es mir gefällt, dann gefällt es mir. In diesem Moment werden die Dinge ganz einfach, das passiert in einer sehr emotionalen Weise. Wenn die Leute zum Beispiel „Olé“ rufen, oder „Yeah!“, dann, weil da eine Wahrheit drin steckt, weil das Gewicht hat.
Das kann vielleicht auch über den Duende gesagt werden, der nicht nur im Flamenco steckt, sondern sich auch in anderen Stilen offenbart.
Pérez Cruz: Ja, die Wahrheit zeigt sich, wenn jemand etwas tut, was er oder sie liebt. Das bezieht sich auf alle Handlungen in deinem Leben, wenn du ein Lied ausprobierst, wenn du singst, wenn du liebst, sprichst, wenn du ein Interview führst.
Das Stück „Loca“, ist das inspiriert von einem Trancezustand oder eher von einer pathologischen Verrücktheit? Du hast deine Stimme da ja übereinander geschichtet, als würden verschiedene Persönlichkeiten im Kopf tönen. Andererseits könnte ich mir das Stück auch getanzt vorstellen, mit Derwischen auf der Bühne…
Pérez Cruz: Das ist sehr gut, was du sagst. „Loca“ begann mit einem sehr konkreten Zustand des Verrücktseins. Ich habe es für ein Theaterstück geschrieben, in dem es um einen Typen ging, der unter Schizophrenie leidet und deshalb diese verschiedenen Stimmen in seinem Kopf hört. Was mir in diesem Stück gefiel, war die Tatsache, dass er sich trotzdem verlieben konnte, auch wenn die Verbindung zwischen seinem Gehirn und seinem Herzen nicht richtig funktionierte. Über dieses Thema habe ich das Stück geschrieben. In dieser Version mit dem Streichquintett haben wir im Studio improvisiert, denn ich wollte die Verrücktheit eines menschlichen Wesens in der freien, spontanen Gestaltung widerspiegeln. Zum Schluss haben wir dann noch experimentiert und meine Stimme zweifach übereinander geschichtet, um das Thema des Songs im wörtlichen Sinne einzufangen. Der Startpunkt war die Verrücktheit einer anderen Person, die hat mich dann dazu inspiriert, meine eigene Verrücktheit, die nach Liebe und Musik hineinzubringen. Lustig, dass du das mit der Choreographie erwähnst: In Sevilla haben wir das tatsächlich mit einem improvisierten Tanz aufgeführt, mit der Tänzerin Rocío Molina! Und in Arles war sie auch dabei und hat „Corrandes D‘Exili“ getanzt, danach kamen dann tatsächlich Derwische auf die Bühne und haben sie eingeladen mitzumachen.
Sílvia Pérez Cruz & Rocío Molina: „Corrandes d’Exili“
Quelle: youtube
Du hast „Corrandes d‘Exili“ erwähnt, ein Lied des katalanischen Liedermachers Lluís Llach, das du schon lange singst. Ist Llach für dich immer noch ein Symbol der katalanischen Freiheit, und ebenso für die junge Generation Kataloniens?
Pérez Cruz: Die Symbolfunktion hatte er mehr für die Generation meiner Eltern. Aber ich hatte mehrfach die Gelegenheit mit ihm zu singen und deshalb ist er auch ein Teil meines, unseres „Soundtracks“.
Welche Idee steckte hinter der Adaption des Achtzigerjahre-Hits „Lambada“? Der ist ja eigentlich sehr weit weg von der Atmosphäre eines Streichquintetts!
Pérez Cruz: Das ist ein gutes Beispiel, um meine Beziehung zu Liedern und Menschen zu erklären. Wenn ich ein Lied höre, dann bin ich gleich in der Lage, die Schönheit darin zu erkennen. Dieses Lied hat mich schon begeistert als ich ganz klein war. Das ist doch eine so wunderschöne Melodie! (Sie singt.) Ich habe einem Gitarristen, mit dem ich arbeitete, vorgeschlagen, mit mir eine langsamere Version zu versuchen, um diese schöne Melodie noch mehr zur Geltung zu bringen. Dann wollte ich noch mehr Regeln brechen: Mit dem Streichquintett hatten wir in einem klassischen Auditorium unsere Premiere, und ich wollte in diesem Rahmen eine Version von „Lambada“ vorstellen, die nichts mit der Popversion, aber auch nichts mit klassischer Musik zu tun hat. Die erste Version, die ich kennenlernte, war natürlich die Brasilianische, sie spielen das schnell und fröhlich, es ist ein Sommerhit. Erst später hörte ich die bolivianische Version, das Original von „Lambada“, und dann merkte ich, dass da schon mehr Traurigkeit drinsteckt.
Du schließt das Album mit Leonard Cohens „Hallellujah“. Dieser Song ist so oft gecovert worden, von Jeff Buckley bis zu Bon Jovi, es ist sehr schwierig, da noch ein neues Licht draufzuwrerfen. Wie ist dir das gelungen?
Pérez Cruz: Es ist nicht einfach gewesen, diesen Song zu adaptieren. Viele Leute sagten, der gehört nicht aufs Album, denn die ganze Welt hatte ihn vorher schon gesungen. Aber wenn mir ein Song gefällt, dann möchte ich nicht irgendetwas Neues oder Besseres hinzufügen. Ich spüre einfach, dass ich ihn singen MUSS. Bei der ersten Aufnahme, die wir machten, war ich nicht zufrieden mit meiner Interpretation und wir haben sie erst mal beiseite gelegt. Kurz nachdem Leonard Cohen starb, war ich mit meinem Toningenieur Juan Casanovas im Studio. Ich sagte ihm, wir sollten dem Song eine neue Chance geben. Ich fühlte, dass ich es aus einer anderen Perspektive versuchen sollte, nicht aus der eines alten Mannes, der Alkoholiker ist und das Lied nachts anstimmt, dieses Gewicht habe ich nicht. Ich sang es in meiner Weise und ich sang es für Leonard Cohen, aber auch von Leonard aus, ich sang es für die Freude am Leben, und die Freunde im Leben. Das Lied kam plötzlich von einem ganz anderen Ort, und zwar von einem sehr emotionalen.
Sílvia Pérez Cruz: „Hallelujah“ (live)
Quelle: youtube
Du bist geboren und aufgewachsen in Katalonien, hast dann Jazz studiert, Flamenco gesungen. Würdest du sagen, dass auch noch heute in deinem Gesang etwas typisch Katalanisches zu finden ist?
Pérez Cruz: Als ich jung war, haben mich die Leute aus meiner Region gefragt: „Woher kommst du? Aus Andalusien?“ Und ich sagte: „Nein, ich bin von hier!“ In der Stimme liegt Vieles: Sie ist nicht nur ausschließlich etwas Physisches oder etwas Territoriales. Was ich sagen kann: Ja, meine Stimme ist eine iberische Stimme. Da ist etwas in den Stimmen der Großmütter und Urgroßmütter, die traditionelle Lieder gesungen haben, das nicht nur Fado oder Flamenco ist, und ich glaube, das habe ich in meiner Stimme auch.
Es gibt im Internet Clips aus deiner Konzertreihe Concerts Privats, wo du mit den Gitarristen Raúl Fernandez Miró und Mario Mas singst, und ich habe immer den Eindruck, dass das niemals die herkömmliche Gruppierung von Sängerin und Begleiter ist, sondern ein Dialog. Hast du das auch bei den Streichern angestrebt, sie nicht anzuführen, sondern auf Augenhöhe zu agieren?
Pérez Cruz: Ja, wie gut, dass du das siehst. Genau so gehe ich Musik an. Ich bin eine Musikerin und bin mit Musikern groß geworden. Ich muss fühlen, dass da auch eine Person jenseits des Musikers oder der Musikerin ist. Es muss eine kleine Gemeinschaft auf der Bühne entstehen. Ich bin mir bewusst, dass ich die Leaderin bin, aber jeder in der Gruppe muss seine Rolle haben, auch seine Freiheiten. Nur so kommt ein Dialog zustande zwischen diesen Personen.
Als Deutscher muss ich das fragen: Für dein Album Granada hast du zwei Lieder von Robert Schumann aufgenommen, mit einer fast schon experimentellen Gitarre: Wie bist du auf den Liederzyklus Dichterliebe aufmerksam geworden?
Pérez Cruz: In diesem konkreten Fall habe ich sie über meinen Gitarristen Raúl kennengelernt, seine Mutter hat diese Lieder viel gehört. Er hat sie eines Tages zum Mittagessen mitgebracht, sie dort vorgespielt und ich habe sie sofort gemocht und wollte sie selbst singen. Die Melodie von „Im wunderschönen Monat Mai“ ist sehr gefühlsbetont. Was den Text angeht: All diese Texte sprechen von den gleichen Sachen, von Liebe, von Frühling, von Tod. (Sie singt). Für mich ist diese Melodie universell! Und deshalb kannst du sie auf sehr verschiedene Art und Weise singen.
Und zum Abschluss eine zweite „deutsche Frage“! Das Eröffnungsstück aus 11 De Novembre nennt sich „Lietzenburgerstraße 1976“. Wie kamst du dazu, eine Hommage an eine Straße in Berlin zu singen, und dann auch noch versehen mit einem Datum, das vor deiner Geburt liegt?
Pérez Cruz: Das ist kein Gedicht von mir, das stammt von Feliu Formosa. Wenn ich ein Gedicht lese, dann fühle ich die Musik, komponiere schon in meinem Kopf. Ich stellte mir eine kleine, romantische, idyllische Straße vor, auf der sich eine Liebesgeschichte abspielte, fast mit einem Pariser Flair. Später, als das Lied schon aufgenommen war, war ich in Berlin und habe mich zur Lietzenburgerstraße durchgefragt. Ich kam dort an, und es stellte sich heraus, dass es eine total unpersönliche, industriell geprägte Straße war, und ich merkte, dass die Geliebte im Gedicht doch eigentlich eine Prostituierte ist. Aber so ist Kunst! Du kannst sie auf deine Weise interpretieren und etwas völlig Anderes kommt heraus.
Zwei Monate nach dem Interview habe ich Sílvia Pérez Cruz im Teatro Municipal Girona in einer atemberaubenden Show nochmals live gesehen, dieses Mal mit dem Quintett. Zum Abschluss des Interviews teile ich ein Stück aus dem Vestida De Nit-Repertoire, das sie vor kurzem auf youtube veröffentlicht hat – eine Hommage an den großen Flamencosänger Enrique Morente.
© Stefan Franzen
Sílvia Pérez Cruz: „Estrella“(Live)
Quelle: youtube
(he)artstrings #23: Wildes Fest auf der Wies’n
„Una Festa Sui Prati“ (Adriano Celentano & Mariano Detto)
aus: Adriano Celentano – Le Robe Che Ha Detto Adriano, 1969
Als ich klein war, wohnte meine reiselustige Tante Hannelore im 3. Stock unseres Reihenhauses. Bei ihr fanden sich plattentechnisch wahre Schätze, die mir spannende südeuropäische Alternativen zum genauso faszinierenden klassischen Plattenschrank des Papas eröffneten: Melina Mercouri, Georges Moustaki, türkische Folklore, Mikis Theodorakis, Miguel Rios, Leonard Cohen. Wurde hier der Grundstock für meine spätere Weltmusik-Vorliebe gelegt? Bei den Singles fanden sich Vicky Leandros‘ „Après Toi“ oder auch eine Canzone des oben abgebildeten Herren, der heute sage und schreibe 80 Jahre jung wird.
Adriano Celentanos „Una Festa Sui Prati“ war für mich immer die bessere Wahl vor „Azurro“: eine sich rauschhaft steigernde ländliche Party mit satten Bläsern und virilen Schrammelgitarren. Als Sechsjähriger konnte ich mir kaum irgendetwas Wilderes in der Musik vorstellen als das elefantöse Finale dieses Songs. Immer wieder habe ich der Tante die Single stibitzt, um sie in meinem Kinderzimmer auf dem Mister Hit-Plattenspieler abzuspielen. Tanti auguri, Adriano! E ugualmente grazie mille, Zia Giovanna Eleonora!
Klicke hier zum Hintergrund von (he)artstrings
Adriano Celentano: „Una Festa Sui Prati“
Quelle: youtube
Listenreich I: 20 Songs für 2017
Blue Rose Code (Schottland) : „Over The Fields“
Quelle: youtube
Cristina Branco (Portugal): „E Às Vezes Dou Por Mim“
Quelle: vevo
Cristobal & The Sea (UK): „Goat Flokk“
Quelle: youtube
Joy Denalane (Deutschland): „Zuhause“
Quelle: vevo
Alemayehu Eshete & The Polyversal Souls (Äthiopien/Deutschland): „Alteleyeshegnem“
Quelle: youtube
Grèn Sémé (La Réunion): „Hors Sol“
Quelle: YouTube
Matt Holubowski (Kanada): „The Warden & The Hangman“
Quelle: youtube
Iris Electrum (Österreich): „Of Tigers And Owls (No Future, No Past)“
Quelle: youtube
Awa Ly (Senegal): „Wide Open“
Quelle: youtube
MC Solaar (Frankreich): „Géopoétique“
Quelle: youtube
Sílvia Pérez Cruz (Katalonien): „Vestida De Nit“
Quelle: youtube
Sílvia Pérez Cruz & Pájaro (Katalonien/Spanien): „Pequeño Vals Vienés“
Quelle: youtube
Cemil Qoçgiri (Deutschland/Kurdistan): „Ero Bezar“
Quelle: youtube
Alejandra Ribera (Kanada): „I Am Orlando“
Quelle: youtube
Saltland (Kanada): „Light Of Mercy“
Quelle: vimeo
Oumou Sangare (Mali): „Fadjamou“
Quelle: youtube
Saz’iso (Albanien): „Tana“
Quelle: youtube
Sun-El Musician feat. Samthing Soweto (Republik Südafrika): „Akanamali“
Quelle: youtube
Tribalistas (Brasilien): „Baião Do Mundo“
Quelle: youtube
Trio Da Kali & Kronos Quartet (Mali/USA): „Eh Ya Ye“
Quelle: youtube
Listenreich II: 20 Alben für 2017
Foto by Nancy
Alma (Österreich): Oeo (col legno)
Blue Rose Code (Schottland): The Water Of Leith (Navigator Records)
Cristina Branco (Portugal): Menina (O-tone)
Canzoniere Grecanico Salentino (Italien): Canzoniere (Ponderosa Records)
Fleet Foxes (USA): Crack-Up (Nonesuch)
Jesús Guerrero (Spanien): Calma (Flamenco de la Isla)
The Heliocentrics (UK/Slowakei): A World Of Masks (Soundways)
Matt Holubowski (Kanada): Solitudes (Audiogram)
Sharon Jones & The Dap-Kings (USA): Soul Of A Woman (Daptone)
Masaa (Deutschland/Libanon): Outspoken (Traumton)
Nishtiman Project (Kurdistan): Kobane (Accords Croisés)
Sílvia Pérez Cruz (Katalonien): Vestida De Nit (Universal)
Alejandra Ribera (Kanada): This Island (Pheromone)
Oumou Sangare (Mali): Mogoya (NoFormat)
Saz’iso (Albanien): At Least Wave Your Handkerchief At Me (Glitterbeat)
Barbara Schirmer (Schweiz): Falter (hackbrett.com)
Omar Sosa & Seckou Keita (Kuba/Senegal): Transparent Water (World Village)
Tribalistas (Marisa Monte, Carlinhos Brown & Arnaldo Antunes) (Brasilien): Tribalistas 2 (Phonomotor)
Mônica Vasconcelos (Brasilien/UK): The São Paulo Tapes (Galileo)
Vein (Schweiz): Vein Plays Ravel (Double Moon)
Listenreich III: 20 Konzerte für 2017
West Trainz beim Soundcheck im Club Soda Montréal, 2.3. (Foto: Stefan Franzen)
WINTER
Cristina Branco (Portugal) – Martinskirche Basel, 31.1.
Lizz Wright (USA) – Jazzhaus Freiburg, 15.2.
Matt Holubowski (Kanada) – Club Soda Montréal, 26.2.
Erik West Millette & West Trainz (Kanada) – Club Soda Montréal, 2.3.
Bears Of Legend – Club Soda Montréal, 7.3.
Kronos Quartet & Toronto Symphony Orchestra (USA/Kanada) – Roy Thomson Hall Toronto, 11.3.
Alejandra Ribera (Kanada) – Aeolian Hall London/Ontario, 16.3.
Sílvia Pérez Cruz, Theaterspektakel am Zürichsee, 29.8.,
Rosalia & Raül Refree, Kunstmuseum Basel, 19.8. (Fotos: Stefan Franzen)
FRÜHLING / SOMMER
John Smith (UK) – Parterre Basel, 29.4.
Andreas Schaerer, Hildegard Lernt Fliegen & Orchestra of Lucerne Festival Alumni (Schweiz) – Musicaltheater Basel, 6.5.
López – Petrakis – Chemirani (Spanien/Griechenland/Iran) – Neumarkt Rudolstadt, 7.7.
Faada Freddy & Awa Ly (Senegal) – Rosenfelspark Lörrach, 28.7.
Rosalia & Raül Refree (Katalonien) – Kunstmuseum Basel, 19.8.
Sílvia Pérez Cruz & Jaume Llombart (Katalonien) – Theaterspektakel Zürich, 29.8.
Achref Chargui & Mohamed Amine Kalaï, Oriental Summer Academy Sulzburg, 2.9.
Rafael Habichuela & Juan Angel Tirado, Casa del Arte Flamenco Granada, 21.10.
(Fotos: Stefan Franzen)
HERBST
Yumi Ito Orchestra (Various) – Jazzcampus Basel, 1.9.
Achref Chargui & Mohamed Amine Kalaï (Tunesien) – St. Cyriak Sulzburg, 2.9.
Vein (Schweiz) – Volkshaus Basel, 9.9.
Paddy Bush (UK) – Forum Schlossplatz Aarau, 21.9.
Rafael Habichuela, Juan Angel Tirado, Alba Hereida & Luis de Luis (Spanien) – Casa del Arte Flamenco Granada, 21.10.
Sílvia Pérez Cruz & Quinteto de Cordas (Katalonien) – Teatro Municipal Girona, 25.10.
Fleet Foxes (USA) – Palladium Köln, 1.12.
(he)artstrings #22: Orchestraler Ohrwurm
„Can’t Get It Out Of My Head“ (Jeff Lynne)
aus: Electric Light Orchestra – Eldorado (1974)
Der zweite Song für die (he)artstrings aus der Feder von Jeff Lynne, zu Ehren seines heutigen 70. Geburtstages – und eines jener Lieder, welches im Text genau das beschreibt, was mit dem Hörer passiert: Man kriegt es einfach nicht mehr aus dem Kopf, es beisst sich fest, ob man will oder nicht.
Als Jeff Lynne dieses Lied schrieb, hatte er 1973 mit On The Third Day gerade die experimentelle Phase des Electric Light Orchestra hinter sich gelassen und mit „Ma-Ma-Ma-Belle“ einen frühen Radiohit gelandet. Eldorado im Folgejahr allerdings wurde zum ersten Konzeptalbum von ELO, die Geschichte eines unbekannten Helden auf der Suche nach dem sagenhaften Goldparadies, umgesetzt in romantischen, traumgleichen Klangtableaus, die den Rock- und Blues-Aspekt etwas in den Hintergrund treten lassen. Erstmals ist auch ein komplettes Symphonieorchester mitsamt Chor konsequent in die Arrangements integriert – angeblich wollte sich der damals 26-jährige Lynne damit von seinem Vater, einem Klassikliebhaber, die Legitimation für sein Dasein als Rockmusiker abholen.
„Can’t Get It Out Of My Head“ ist die erste Station dieser Symphonie, nachdem die pompöse Ouvertüre verklungen ist. Eine unspektakuläre Melodie aus wenigen Tönen, umschlungen von schillernden Orchesterfarben, wie sie nur Jeff Lynne schreiben konnte. Was er mit seiner aktuellen ELO-Verkörperung (die teils aus den Musikern der Take That-Band besteht) aus der Träumerhymne gemacht hat, ist leider nur ein müder Abklatsch und kann den Patinazauber von 1974 nicht wiedergeben.
Ich habe den Song glatte zehn Jahre nach Erscheinen von Eldorado kennengelernt, als ich mir zwischen 1982 und 1984 sämtliche ELO-LPs gekauft habe – ausgelöst wurde mein Fieber durch das Album Time. Und dann ging es mir eben wie vielen anderen: Ich bekam den Song über Monate nicht mehr aus dem Kopf. Also Vorsicht beim Anklicken des unfreiwillig komischen Clips mit seinem ruralen Siebziger-Charme…
Herzlichen Glückwunsch an das Songschreiber-Genie Jeff Lynne zum 70.!
Klicke hier zum Hintergrund von (he)artstrings
ELO: „Can’t Get It Out Of My Head“
Quelle: youtube
(he)artstrings #21: Anrufung im Regengroove
„De Cara A La Pared“ (Lhasa De Sela & Yves Desrosiers)
aus: Lhasa – La Llorona (Audiogram, 1997)
Dieser Tage schickte mir das Montréal Jazz Festival einen Hinweis auf ein Tributkonzert an Lhasas Album La Llorona. Zwanzig Jahre ist es schon her, dass dieses Debüt erschien, ich kann das kaum glauben. Damals arbeitete ich in einem Plattenladen, und jedes Mal wenn ich die CD einschob und dieses Eingangsstück mit dem prasselnden Regen und dem Groove aus Wasser ertönte, legte sich sofort eine traumgleiche Stimmung über den Verkaufsraum.
Lhasa lässt in diesem Stück ihr ansonsten so gebrochenes, tiefes Timbre beiseite und singt in einer eher hohen Tonlage, nicht nur melancholisch, sondern fast tränenerfüllt. Dazu treten die Gypsy-hafte Geigenmelodie und die perkussive Gitarre. Wenn sich die Stimme zu Chören schichtet, hört sich das fast an wie ein in der Ferne heulender Zug. „Ich weine, mit dem Gesicht zur Wand, die Stadt erlischt, ich weine, und nichts bleibt mir, als vielleicht zu sterben. Wo bist du?“: Im Grunde ist „De Cara A La Pared“ eine einzige Anrufung an die Mutter Gottes, sie möge die Liebesbedürftige erhören, ein Betteln um Befreiung aus der Einsamkeit. Und die Tränen werden zum Rhythmus, zur Sintflut, die die Sängerin umschließt.
Ich bin gespannt, wer am 16. Dezember beim Tributkonzert in Montréaler MTELUS dieses fast nicht zu covernde Lied interpretieren wird. Um 20 Jahre La Llorona zu feiern, gibt es über das Konzert hinaus von Lhasas Label Audiogram eine neue CD mit bislang unveröffentlichten Live-Aufnahmen aus Reykjavik von 2009. Wer diese einzigartige US-mexikanische Sängerin noch nicht kennt: Als sie am 1. Januar 2010 die Welten wechselte, habe ich für den Blog des Radiosenders byte.fm einen Nachruf verfasst, der immer noch hier nachzulesen ist.
Klicke hier zum Hintergrund von (he)artstrings
Lhasa de Sela: „De Cara A La Pared“
Quelle: youtube
Update Kanada III: Terminal City
Ende Februar konnte ich den eisenbahnverrückten Montréaler Bassist, Arrangeur und Komponist Erik West Millette in seinem West Trainz-Laboratorium in Mile End treffen. Damals hat er schon angekündigt, er arbeite an einem Werk, das der Canadian Pacific Railway ein Denkmal setze, außerdem beschäftige er sich mit der Geschichte der Railway Workers und der Hobos. Nun ist eine erste Kostprobe zu hören. „Terminal City Trainz“ ist Eriks Tribut an die Arbeiter, gebaut aus Loops von Hammerschlägen, Zugsirenen, Wolfsgeheul und Hafengeräuschen.
Eriks neuer Track ist Teil eines Projekts, das Kanadas staatlicher Rundfunk CBC aufgegleist hat: Mit canadasound.ca haben die Radioleute zum 150. Geburtstag Kanadas eine Website ins Leben gerufen, auf der bekannte Musiker Songs und Soundscapes beisteuern, die typisch kanadische Klänge in sich tragen. Beteiligen können sich im übrigen alle, die Audio Files von kanadischen Klängen beisteuern wollen. Eine CD-Kompilation der Song-Abteilung von CanadaSound, etwa von Florence K, Walk Off the Earth, Karl Wolff oder Kevin Hearn von den Barenaked Ladies, wird im Februar 2018 erscheinen.
Erik West Millette: „Terminal City Trainz“
Quelle: youtube
Update Kanada II: Québexpérimental
Foto: Etienne Dufresne
Eine der großen Überraschungen meiner Kanada-Reise war das Interview mit der Songwriterin Geneviève Toupin aus Manitoba, die in Montréal ihr doppeltes Diaspora-Erbe (Première Nation und französisch) zu spannenden, atmosphärischen Liedern geformt hat. Mit ihrem neuen Projekt Chances geht sie jetzt ganz andere Wege:
Zusammen mit Chloé Lacasse (ebenfalls Keyboards und Stimme) und Vincent Carré an den Drums ist sie schon lange bühnenerprobt. Alle drei hatten Lust, neue Räume für Experimente zu schaffen, und jetzt stellen sie einen kräftigen, frischen Electro-Sound mit Einflüssen aus Toupins Ojibwe-Erbe bis zu Dreampop auf die Beine, dem ich im März bei seiner Premiere lauschen konnte.
Drei Singles haben Chances mittlerweile veröffentlicht, die aktuelle nennt sich „Rishikesh“ und bringt augenzwinkernd indisches Flair mit den frühen Synthi-Spielereien der Siebziger unter einen Hut. Chances denken derzeit darüber nach, für ein paar Konzerte Deutschland anzusteuern. Also Augen und Ohren auf!