Mond-Töne

„Moon over Madalena“ (Lune cendrée, Pico, Azoren, 17.5.2018), Foto: Stefan Franzen

Es hat eine kleine Tradition: Astronomische Ereignisse werden auf diesem Blog musikalisch begleitet.
So auch heute, da abends die längste Mondfinsternis des Jahrhunderts zu erleben ist. Nicht wie oben als Aschemond, den ich auf den Azoren gesichtet habe, sondern in voraussichtlich blutigem Teint wird das Gestirn sich zeigen, da es bei der Eklipse tief am Himmel steht und die Atmosphäre seine Oberfläche im Erdschatten rot färben wird. Sieben Blut-, Super- und sonstige -mondlieder zwischen Venezuela und Estland sollen das Spektakel flankieren.

1. Roseaux (Frankreich): „Walking On The Moon“
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Schon als Kind fand ich den Police-Song „Walking On The Moon“ toll, weil er den Reggae weit ins All katapultierte. Diese Coverversion übertrifft das Original: Das französische Projekt von 2012 hat sich für diesen Titel den Neo Soul-Star Aloe Blacc an Land gezogen.

2. Simón Díaz (Venezuela): „Tonada De Luna Llena“
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Tonadas, ursprünglich aus dem barocken Asturien und Kantabrien stammend, sind in Venezuela ländliche Lieder, die zum Arbeiten gesungen werden, aber auch zum Ausruhen, wie wohl diese magische Vollmond-Anrufung von 1973. Simon Díaz, der vor vier Jahren steinalt starb, war einer der großen Volkssänger des Landes, inspirierte Pina Bausch, Pedro Almodóvar und Caetano Veloso.

3. Sophie Hunger (Schweiz): „Supermoon“
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Das Titelstück aus dem vorletzten Album der helvetischen Songwriterin ist ein Selbstporträt: Die Künstlerin sieht sich als Supermond, der in kalter Isolation vom Rest der Welt um sich selbst kreist. Es fröstelt einen umgehend, sobald die Anfangsakkorde erklingen – und man möchte instinktiv nach einem Thermoanzug greifen.

4. Sílvia Perez Cruz & Ravid Goldschmidt (Katalonien): „Luna“
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Ein frühes Duo aus der Karriere der katalanischen Ausnahmestimme. Nur mit Hang-Begleitung hat sie 2011 ihre vielseitigen Qualitäten mit einem Liedrepertoire zwischen Brasilien und mediterranem Raum bewiesen – dieses Mondlied ist von einer Soleá des Copla- und Flamenco-Sängers Juanito Valderrama inspiriert.

5. Fainschmitz (Österreich): „Mond“
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Die Band mit dem tollen Namen ist in Wien ganz neu am Start und setzt sich aus österreichischen, italienischen und deutschen Jazzern zusammen, die ihren Stil „Jungle Swing“ nennen. Die nonchalanten Megaphon-Vocals sind ihr Markenzeichen – und man sollte auch unbedingt das Stück „Delphine zählen“ abchecken!

6. Alejandra Ribera (Kanada): „Blood Moon Rising“
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Gestirne spielen in den Songs der Kanadierin eine prominente Rolle: Neben diesem Highlight aus ihrem aktuellen Werk This Island hat sie auf dem Vorgänger La Boca auch gleich hundert Monde („Cien Lunas“) und den „Mars“ besungen – der neben dem Blutmond heute Abend übrigens auch erdnah wie selten strahlen wird.

7. Curly Strings (Estland): „Kuu“
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Die vier Esten verbinden die baltische Tradition mit den Klängen amerikanischer String Bands – und sind die Speerspitze der sehr jungen estnischen Folkszene. Ihre Ballade an den Mond aus dem Debütalbum Hoolima gefällt mir am besten.

Am Montag setzt greenbeltofsound das Himmelsspektakel fort: Dann werden wir anlässlich des 60. Geburtstages eines Popstars die Erde aus der Ferne betrachten.

Fado-Fauxpas

Der Fado gilt als Blues der Portugiesen. Wie viele von uns aus Jugendjahren wissen, kann man wunderbar den „Stehblues“ tanzen, was ja nicht nur musikalische Zwecke erfüllt. Vom „Steh-Fado“ allerdings haben wir noch nicht gehört – bis zu diesem Dienstag. Fans der Sängerin Carminho sind zum Zeltmusikfestival Freiburg gepilgert, um ihr Idol in der Region mal wieder live zu erleben. Doch beim Einlass Verwunderung: bis auf die Randtische gähnt eine unbestuhlte Arena im Spiegelzelt. Tatsächlich ist auch auf unseren Tickets „Stehplatz“ vermerkt. Doch der Fado – das weiß jeder Lissabon-Reisende – wird seit dem Beginn seiner Geschichte in Casas gespielt, in denen man gesellig sitzt, trinkt und isst. Es leuchtet zudem ein, dass sich die schweren Seelennöte auf einem Stuhl doch viel besser ertragen lassen. Wir vergewissern uns nochmals bei unseren portugiesischen Nachbarn: Wird irgendwo zum Fado gestanden? „Niemals!“, kommt die Bestätigung.

Das Murren und Knurren im Zelt wächst. Die starke 50+-Fraktion, Gehbehinderte ohnehin, wissen nicht so recht, was tun, man hockt auf den nackten Brettern. Da tritt Punkt Acht nicht Carminho, sondern ein ZMF-Mitarbeiter auf die Bühne: Man habe die „Situation unterschätzt“, und würde nun bestuhlen. Was zu einigem Chaos führt: Einige verteidigen ihre strategisch günstigen Stehplätze, weichen keinen Zentimeter, andere organisieren beherzt ihre Sitzgelegenheit selbst. Nach 20 Minuten kann Carminho beginnen – und nimmt’s gelassen. In einem ihrer besten Konzerte bisher singt sie tapfer gegen Gluthitze und Gewummere aus dem nahen Gastrozelt an. Eine Anfrage beim deutschen und portugiesischen Management der Künstlerin ergibt: Man habe, um den Sommerabend-Charakter des Konzerts zu betonen, bei der Planung auf eine Bestuhlung erst teils, dann ganz verzichtet – das sei bei Open Airs sogar in Portugal schon „salonfähig“. Aber eben nicht Zelt-gemäß: Man wolle aus diesem Fado-Fauxpas lernen. Was in Erinnerung bleiben wird von diesem Abend, ist Carminhos Stimme. Die war die knapp 40 Euro allemal wert – all die Begleitumstände waren es nicht.

(Stefan Franzen, veröffentlicht in der Badischen Zeitung, 26.7.2018)

Carminho: „Saudades Do Brasil Em  Portugal“
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Songbird aus den Yorkshire-Mooren

Olivia Chaney
Shelter
(Nonesuch/Warner)

Die in Florenz geborene Britin kennt man schon als Sängerin von Offa Rex oder als Sidewoman vom Folk Songs-Album des Kronos Quartets. Nach dem Genuss ihrer zweiten, in den Mooren von Yorkshire geschriebenen Scheibe stellt man endgültig fest: Das UK schenkt uns eine große Stimme, wie sie viele Jahre aus dem Inselreich nicht kam. Chaneys Mezzosopran trägt weit und kraftvoll, sie phrasiert mit der Souveränität einer großen Bardin, übersteigt Grenzen zwischen schlichtem Folksong („Arches“), großer Popballade („Dragonfly“, „I O U“) und Klassik: Ganz herausragend ist ihre Adaption von Henry Purcells „O Solitude“.

In der Tat ist diese Stimme ist so stark, dass die Gebetsmühlen-Vergleiche mit Kate Bush auf der einen und Sandy Denny auf der anderen tunlichst verstummen sollten. Thomas Bartlett (The Gloaming, The National, Sufjan Stevens) schafft viel Raum und viel Atem in den sparsamen Arrangements mit Klavier, Akustikgitarre, Mellotron und Geige. Der Liederzyklus sei getragen vom Gefühl des Schutzfindens, des Aufgehobenseins, der Zugehörigkeit, sagt Chaney. Tatsächlich fühlt man diese Wärme in vielen Songs von Shelter ganz zentral.

© Stefan Franzen

Olivia Chaney: „Shelter“
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Sommergroove aus Abidjan


Im berühmten ivorischen Künstlerdorf Ki Yi M’Bock hat sie ihre Karriere begonnen, war später mit ihren Basskünsten bei Zap Mama und startete dann eine feine Sololaufbahn. Auf ihren Alben gehen Funk, Afropop, ivorische Trommelrhythmen und komplexes Songwriting Hand in Hand. Für mich ist Manou Gallo eine der stärksten Frauenfiguren der westafrikanischen Musik. Der Vorbote aus ihrem neuen, im Herbst erscheinenden Album kommt als lustiges Duett mit Bootsy Collins gerade richtig für diese heißen Sommertage.

Manou Gallo feat. Bootsy Collins: „ABJ Groove“
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Syrische Hoffnung


Musik aus Syrien bereichert seit einigen Jahren verstärkt die mitteleuropäische Musikszene. Wir kennen alle die bittere Ursache dafür, und wer syrische Künstler zum Interview trifft, wird zwangsläufig mit Schicksalen konfrontiert, die einem die Kehle zuschnüren können. Das ist beim jungen Oudspieler und Komponisten Bahur Ghazi nicht anders. Aus dem Schweizer Exil heraus hat er es geschafft, seine Sehnsucht nach einer friedlichen Heimat zu einer spannenden Synthese von traditioneller arabischer Musik und Jazzimprovisation zu formen. Seine neuen Weggefährten sind vier Könner der helvetischen Jazzszene.

„Bidaya“, der Titel von Bahur Ghazis Debüt-CD, ist das arabische Wort für Anfang, Start, Beginn. Und in der Tat gab es in der noch jungen Vita des Oudspielers gleich mehrfach einen Neustart, privat und musikalisch. Wer ihn zum Interview trifft, sitzt einem hellwachen, vor Begeisterung sprühenden jungen Mann gegenüber, der in sympathisch bündnerisch gefärbtem Deutsch über sich und seine Musik erzählt. „Ich komme aus Dar‘ā an der jordanischen Grenze, eine kleine Stadt mit 40.000 Einwohnern. Die Gegend ist von Bauern geprägt, es gibt viel Gemüse und ein bisschen Musik“, lacht Ghazi. Das „Bisschen“ ist eine glatte Untertreibung, denn die Volksmusik ist überall präsent auf den Straßen, in jedem Haus gibt es eine Oud, wie er gleich hinzufügt. Da bleibt es nicht aus, dass auch er, ältester Sohn in einer Familie mit elf Geschwistern, eine Faszination für die Laute entwickelt und anfängt zu spielen.

Als er elf ist, hört er im Radio eine Oud, die ihn mit ihrem kristallklaren Klang gefangen nimmt. Es ist das Instrument des berühmten irakischen Musikers Naseer Shamma. „Was hat der für Saiten? In welcher Stimmung spielt er? Das fragte ich mich und ging auf die Suche nach CDs und Kassetten von Shamma. Ich fand heraus, dass sie im Irak seit den 1920ern die technischen Möglichkeiten des Instruments vorangetrieben, andere Abmessungen entwickelt haben. So wollte ich auch spielen lernen! Ich versuchte, auf meiner Oud irgendwie Shammas Stücke hinzukriegen.“ Schließlich trifft er bei einem Konzert in Damaskus Shamma persönlich, und nach einem Vorspiel ist der Meister so beeindruckt, dass er ihm in Kairo, wo er lehrt, ein Stipendium ermöglicht. Zuvor hatte Ghazi schon versucht, am Konservatorium in Damaskus aufgenommen zu werden. Doch wer dort etwas werden will, so erfährt er am eigenen Leib, sollte mit der Regierung oder ihren Behörden verbandelt sein. „Als sie hörten, dass ich aus dem kleinen Dar‘ā komme, sagten sie nur zu mir: ‚Geh wieder zurück, Tomaten pflanzen.‘“

Bahur Ghazi gerät in der ägyptischen Hauptstadt während seiner Uni-Zeit mitten in die Aufbruchstimmung des arabischen Frühlings hinein, wohnt er doch nur einige Straßenzüge entfernt vom Tahrir-Platz. „Kurze Zeit später ging es auch los mit der Revolution zuhause“, erinnert er sich. „Wir Künstler, Musiker, Schriftsteller und Grafiker haben in Kairo friedlich vor der syrischen Botschaft für ein freies Land demonstriert. Wir wollten kein Syrien mehr, in dem die Bevölkerung Angst vor ihren eigenen Behörden haben muss.“ Auch musikalisch entwickelt er sich in Kairo, wo er bald selbst an der Musikakademie lehrt, zu einem Freigeist: Aus den herkömmlichen Taktgebungen bricht er aus, entwickelt krumme Metren, neue Melodien. Bei seinen Kollegen erntet er dafür Unverständnis, sie sind der Auffassung, seine Musik sei „falsch“. „Sie wollten nur den Vierviertel-Takt akzeptieren. Aber ich fing eben an, im Elfertakt oder in Fünf- und Siebenachtel-Metren zu schreiben. Das erste Stück, in dem ich freier bin, in dem ich weggehe von der traditionellen Musik, das ist ‚Bidaya‘, und das hat jetzt auch meiner CD den Titel gegeben. Es hat mir so Freude bereitet, dass ich so etwas komponieren konnte. Und wenn du freier komponierst, dann ist es immer interessant!“

Zurück nach Syrien kann Bahur Ghazi bald nicht mehr. Sein Heimatbezirk Dar‘ā wird von den Kämpfen eingeholt: Ein Bruder stirbt fast beim Gang zum Bäcker durch die Laune eines Heckenschützens, ein anderer wird bei der Verweigerung des Militärdienstes verhaftet. Nach und nach verschlägt es viele Geschwister ins Exil, nach Schweden, Venezuela und die USA. Und er selbst ist nach den Demos in Kairo im Visier der Häscher von Assad, denn die Demonstrationen wurden gefilmt. Ein Land, in dem man ohne Angst leben und frei Musik machen kann, findet er schließlich in der Schweiz.

Doch es folgen zunächst vier Jahre im Schwebezustand: Im Asylheim des bündnerischen Cazis wartet er auf eine Entscheidung über seine Zukunft. Als klar ist, dass er bleiben kann, sucht er nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten: „Die erste Zeit war schwierig. Ich habe Sachen gespielt, die ich nicht kenne, die für mich keinen Sinn ergaben. Aber ich habe immer fest daran geglaubt, dass Musik die universelle Sprache ist, wenn man integriert werden will. Ich sagte mir, ich mache weiter, bis die Schönheit hörbar wird.“ Bei den Walliser Seema findet er eine erste musikalische Heimat, spielt mit der Band Chanson, Rock, Reggae, Folk, und er findet mit der Oud in dieser für ihn noch fremdartigen Musik seine Rolle.

Schließlich stößt er auf den Jazzbassisten Luca Sisera, der für ein aktuelles Projekt einen Lautenisten sucht. Er wird für ihn wie ein Bruder, bringt ihm Musik und Sprache der Schweiz nahe. Sie entschließen sich zu langfristiger Zusammenarbeit, Lucas Bruder Dario am Schlagzeug, beider Lehrer Christoph Baumann am Piano und die führende helvetische Akkordeonistin Patricia Draeger kommen dazu. Seine so entstandene neue Band nennt Bahur Ghazi Palmyra, nach der antiken Oasenstadt Syriens.

Bahur Ghazi’s Palmyra: „Longa“
Quelle: youtube

„Ich habe mir immer gewünscht, Palmyra zu besuchen, aber ich war nie da“, bedauert er. „Doch die ganze Geschichte dieser hochstehenden Zivilisation dort mit Kunst und Wissenschaft, dieser Knotenpunkt der Kulturen von Griechen und Persern, von Indien bis nach Marokko, beeindruckt mich. Ich fühle Palmyra so tief in meinem Herzen, den Sonnenuntergang hinter den Tempeln, den Geschmack der Luft, die Wüste.“ Wie das Titelstück der CD „Bidaya“, das für ihn der Anfang für seine neuen musikalischen Abenteuer war, steht auch die Komposition „Palmyra“ in einem ungeraden, „nicht normalen“ Metrum. „Denn was dort passiert ist, ist ja auch nicht normal“, sagt Ghazi. „Es war sehr traurig, von den Zerstörungen zu hören, die der IS da angerichtet hat. Als Musiker musste ich dem mit etwas Schönem begegnen. Musste dem Krieg, dem Hass, der Gewalt etwas entgegensetzen.“

Die CD balanciert mit jazziger Improvisation zwischen lyrischen, geheimnisvollen Momenten und ungestümen, fast rockigen Ausbrüchen. Eine Vierteltontrompete schaut vorbei, plötzlich liegt auch ein Salsa-Rhythmus in der Luft. Ghazis Widmung an den Qasioun, den Hausberg von Damaskus, wird als melancholischer und genauso virtuoser Oudgesang ausgekleidet. Und in der epischen „Salvation Voyage“ gelingt die Verbindung von Orient und Okzident am organischsten, mit singendem Bass und fast balkanischer Schwermut im Akkordeon. Ein Stück schließlich nennt sich „Phoenix Ressumption“: „Ich glaube daran, dass Palmyra wieder aus der Asche ersteht“, sagt Ghazi. Und auch sein Land, so hofft er, werde es dem Phoenix eines Tages gleichtun. Er sehnt sich danach, Syrien und seine Familie wieder besuchen zu können. Zwei Schwestern leben noch dort, versorgen sich mit Gemüsegärten selbst. Über ihnen schweben ständig die todbringenden Flugzeuge, ob es Assad, die Russen, die Amerikaner, die Israelis sind, das weiß man nicht. „Die Politiker und Behörden tun nichts dafür, dass in Syrien wieder irgendwann Frieden sein wird. Wir normalen Menschen müssen dafür Sorge tragen, und Musiker müssen in ihrer Arbeit diese Hoffnung zeigen“, so Bahur Ghazis Überzeugung. Mit „Bidaya“ hat er einen bewegenden Beitrag dazu geleistet.

© Stefan Franzen
dieser Artikel erschien in der Zeitschrift Folker, Ausgabe 4/2018

Bahur Ghazi ist am 20.7. live auf dem Horizonte-Festival in Koblenz am zu erleben

Bahur Ghazi’s Palmyra
Quelle: youtube

Weltreise an der Saale

Am Sonntagabend ging die 28. Ausgabe des Rudolstadt-Festivals zu Ende.
Impressionen von einer Weltreise zwischen Heidecks- und Ludwigsburg, Stadtkirche, Theater und Heinepark.
(alle Fotos: Stefan Franzen)

Fatoumata Diawara (Mali) – Mittlerin zwischen Afro-Roots, Rock und Funk

Die 80-jährige Legende Shivkumar Sharma aus Kashmir kam mit seinem Sohn Rahul für einen Abendraga

Der Gitano Diego El Cigala (Spanien) verband Flamenco mit Kubanischem und Tango

Betsayda Machado (Venezuela) stellte mit La Parranda El Clavo rituell gefärbte Festmusik vor und brachte den Park zum Tanzen

Mit Lula Pena kam eine moderne Troubadourin Portugals zu einem intensiven Solo-Recital an die Saale

Ganz selten in unseren Breiten zu sehen und zu hören: Salukat – ein balinesisches Gamelan-Orchester inklusive dreier Tänzerinnen

Melancholisch-mitreißenden Pop spielte die Kapverdin Elida Almeida

Die strenge Schönheit der Maqam-Klänge von einer der führenden Sängerinnen der Seidenstraße: Munadjat Yulchieva (Usbekistan)

Das von Pink Floyd- und Nick Drake-Produzent Joe Boyd zusammengestellte Ensemble Saz’iso ließ nachts die Stadtkirche mit albanischer Polyphonie schwingen

Ein Highlight auf der Heidecksburg: Der Senegalese Seckou Keita bei einem Crossover mit dem Kuba-Kollegen Omar Sosa

 

Fischchen und Küsschen werden 60


Im Januar 1958 kam es zu einem denkwürdigen Gipfeltreffen in den Odeon-Studios von Rio de Janeiro: Antônio Carlos Jobim, der mit seinem Lyriker Vinicius de Moraes einen ganzen Zyklus neuer Songs ausgearbeitet hat, gewinnt die Sängerin Elizeth Cardoso, um mit ihr das Album Canção Do Amor Demais einzuspielen. Auf dieser Scheibe ist ein Gitarrist zu hören, der in wochenlanger Detailarbeit auf seinem heimischen Klo (der halligen Akustik wegen!) ein neues Schlagmuster ausgearbeitet hat.

Elizeth Cardoso allerdings stammt noch aus der alten Schule des Samba Canção. Im Studio kommt es über einem der Stücke, „Chega de Saudade“, deshalb zur Auseinandersetzung: Gilberto will das Orchester weglassen,  kritisiert die klassische Manier, in der Cardoso das Stück einsingt, mäkelt am Text herum, der ihm zu dramatisch ist. Wenige Monate später spielt er es daher selbst ein, nach seinen eigenen Vorstellungen. Tom Jobim ist auch dieses Mal Gilbertos Studiopartner, und er muss in nervenzerfetzenden Aufnahmebedingungen Einiges aushalten.

Der Gitarrist stellt Sonderforderungen: Er benötigt zwei Mikrophone, um Stimme und Saitenkunst zu trennen, er besteht auf eine vierköpfige Percussion-Sektion und zwingt das Orchester zur penibelsten Reinheit. Einige Musiker verlassen wutschnaubend das Studio und Jobim muss wieder Frieden herstellen. Doch  Jobim und Gilberto selbst bekommen sich wegen der Harmonien in die Haare. Die Fertigstellung der Single mit Arrangieren, Proben und Aufnahmen dauert schließlich einen Monat. Doch es hat sich gelohnt: Diese eine Minute und 58 Sekunden haben das Gesicht der brasilianischen Popmusik für immer verändert.

Diese Veränderung geschieht allerdings mit Verzögerung: Als die Single „Chega De Saudade“ heute genau vor 60 Jahren erscheint, nimmt niemand Notiz, da der einzige Titel, der im Radio gespielt wird, die Siegeshymne der brasilianischen Seleção ist, die gerade die WM in Schweden gewonnen hatte. Erst im Dezember bekommt der Titel Airplay über den Umweg São Paulo und bahnt sich den Weg an die Spitze der Charts. Anfänglich hatten Marketingbosse auch dort die Platte ignoriert – mit Argumenten wie „Warum nehmen die in Rio mit Sängern auf, die erkältet sind?“

Doch gerade mit seinem damals eigentümlich empfundenen, nasalen, non-chalanten Timbre vollzog João Gilberto eine völlige Abkehr vom pathetischen Samba, transferierte zugleich dessen ganze Perkussionsabteilung auf ein einziges Instrument, seine Gitarre. Und er führte den espritgeladenen Wortwitz ein, der fortan bezeichnend in einem Genre werden wird, für das mit dieser kurzen Single die Keimzelle gelegt ist: die Bossa Nova. Da reimt sich „beijinhos“ auf „peixinhos“ – so viele Küsschen werden bei der Rückkehr der Geliebten ausgetauscht wie  Fischlein im Meer schwimmen. Nur im brasilianischen Portugiesisch hört sich das nicht kitschig an. Bom aniversário, „Chega de Saudade“ – auch nach 60 Jahren ist die Faszination dieser Miniatur aus Rio ungebrochen.

© Stefan Franzen

João Gilberto: „Chega De Saudade“
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Schatzkiste #34: Rocklyrik aus Atlantis

Medeiros / Lucas
Sol De Março
(Lovers & Lollypops)

Man wir schnell fündig, wenn man auf den Azoren nach typischer Musik sucht: Da gibt es die 12-saitige viola da terra mit zwei tränen- oder herzförmigen Schalllöchern, die ein wenig klingt wie die brasilianische viola sertaneja. Sie dient als Begleitinstrument für traditionelle Gesänge, oder steht bei Tänzen wie der Chamarrita im Mittelpunkt. Dann gibt es die Filarmónias, Bläserbands der kleinen und größeren Orte, die ich sowohl auf Dorffesten als auch bei der Prozession zum Heilggeistfest erlebt habe. Doch die Azoren haben auch eine Popularmusik-Szene, die einen Spagat von Pop bis Metal vollführt – und immerhin können sich mit Nelly Furtado und Katy Perry zwei Superstars eine Herkunft von den Inseln auf die Fahnen schreiben. Nun, die vorliegende Platte ist alles andere als vordergründig azoreanisch, sie steht eher für eine Nischenproduktion im Songwriting. Entdeckt habe ich sie im Plattenladen La Bamba der Hauptstadt Ponta Delgada auf der Insel São Miguel.

Mein Portugiesisch hat schon bessere Jahre erlebt, doch bei der Lektüre der Lyrics kann ich über den Farben- und Klangreichtum der Verse staunen, über die vielen metaphorischen Kniffe und elementaren Bilder. Das Meer spielt dabei naturgemäß eine große Rolle, sieht man es auf den Azoren doch meistens. Die gesamte Platte lebt von einem personellen Gegensatz: hier der reife, etwas grummelige, Suggestivkraft entfaltende Sänger Carlos Medeiros, der Texte des Schriftstellers und Dichters João Pedro Porto singt. Und dort die zwischen Indie- und Folkrock angesiedelten Saiten- und Tasten-Künste des eine Generation jüngeren Pedro Lucas, der von den Azoren nach Kopenhagen ausgewandert ist.

Der Opener „Lampejo“ heißt übersetzt nur „Lichtschimmer“, doch er entfaltet mit einer chromatischen Gitarrenmelodie und den drängenden Vocals eine fesselnde Dramaturgie, die eher strahlt als schimmert. „Podre Poder“ hat ein kreisendes Riff auf Gitarre und Keyboard als Unterbau, die fast höfische Melodie erinnert mich an manche Canções der portugiesischen Liedermacher-Ikone José Afonso. „Obscurantismo“ dagegen wummert mit Synth-Bässen, „Os Pássaros“ verströmt Surfrock-Atmosphäre. Und es bleibt unberechenbar: Mit Kirmesorgel und einer folkloristischen Melodie überrascht „Elena Poena“, eine espritvolle Miniatur kommt in Gestalt von „Em Condicional“ mit Vocoder, Vibraphon und kecker Trompete auf uns zu.

In der Schlusskurve wird es mit „As Calendas“ fast noch etwas jazzig, glimmende Fender Rhodes und gestopftes Blaswerk begleiten den poetischen Gesang, bevor mit dem „Fado Do Salto“ das Nationalgenre des Mutterlandes Portugal mit grandioser Rockmelancholie legiert wird. Ein kleines Meisterwerk, das zufällig mitten  im Atlantik in meine Hände gefallen ist – fernab aller Inselklischees wäre das dennoch eine Platte für das einsame Eiland.

© Stefan Franzen

Medeiros / Lucas: „EA Live Session“
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Kapverdische Symmetrie


Himmel spiegelt sich im Meer, Meer wird zum Himmel – die Grenzen zwischen den Elementen sind fließend in der Poesie des Kapverdianers Danilo Lopes da Silva. „Peit Ta Segura“ ist ein wunderbares Kleinod kreolischer Poesie – und zugleich der Single-Vorbote aus dem neuen, dritten Album der Sängerin Aline Frazão. Auf Dentro Da Chuva wird die Angolanerin eine Kreuzfahrt über den Atlantik unternehmen, mit Ankerwürfen in Rio, Bahia, Luanda, den Kapverden und Portugal. Navigierend im großen Flechtwerk lusitanischer Kulturen kehrt sie nach Indierock-Experimenten zurück in eine rein akustische Sphäre. Ich freue mich auf das Werk, das Anfang September auf Jazzhaus Records erscheinen wird.

Aline Frazão: „Peit Ta Segura“
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