Wilder Duft aus Marrakesch

Die Veranstalter des kleinen „Rock am Bach“-Festival in Kirchzarten hatten im letzten Sommer den richtigen Riecher. Sie luden ein Quartett namens Bab L’Bluz ein, das mit seiner treibenden marokkanischen Rockenergie frenetisch gefeiert wurde. Dieser Tage bringt die Band ihr Debütalbum heraus – und das gleich mit den höchsten Weltmusikweihen, auf Peter Gabriels Label Real World. Es nennt sich „Nayda!“, ein Begriff, der in Marokko seit der Jahrtausendwende verankert ist. Damals sorgte der Wechsel im Königshaus vom autokratischen Hassan II., der seine Gegner in Kerkern dahinsiechen ließ, zum gemäßigteren Sohn Mohammed VI. für gesellschaftliche Lockerungen.

Und auch für einen Riesenschub der Musikszene: Rapper, Hardrocker und Jazzer vereinten sich in der Nayda-Jugendbewegung, Minderheiten machten sich musikalisch bemerkbar, wie die Berber und die Gnawa, Nachfahren ehemaliger Sklaven, die die Marokkaner aus Schwarzafrika verschleppt hatten. „‚Nayda!‘, das heißt im Darija, dem marokkanischen Arabisch, zum einen ‚Party‘, zum anderen steht es für intellektuelles Aufwachen, für eine aufrechte Haltung, dafür, nicht einfach der Schafherde hinterherzulaufen“, sagt Yousra Mansour, Frontfrau von Bab L’Bluz.

Die quirlige Sängerin wuchs im libertären Geist von „Nayda“ auf. Schon die Eltern hörten einen Mix aus Led Zeppelin, Michael Jackson und klassischer arabo-andalusischer Musik. Jedes Jahr pilgerte sie nach Essaouira, um im Team des weltweit bekannten Gnawa-Festival mitzuhelfen. „Ich wurde immer mehr von dieser Musik in den Bann gezogen“, erzählt sie im Telefoninterview. Was wenig erstaunt bei den kreisenden Beschwörungszeremonien, die charakteristisch sind für die Gnawa. „2017 habe ich das Spiel auf der Gimbri begonnen, die Basslaute der Gnawa, und wurde in Marrakesch für ein Gnawa-Jazz-Projekt angefragt.“ Dort lernt sie den Franzosen Brice Bottin kennen, mit ihm, dem Drummer Hafid Zouaoui und dem Flötisten Jérôme Bartolome formt sie schließlich das Quartett Bab L’Bluz.

„Wir verstehen uns als erweitertes Powertrio im Geiste der Bands von Jimi Hendrix. Die Grundenergie heißt Rock, aber dann kommen Zutaten aus den marokkanischen Provinzen, aus der Gnawa- und Berbermusik, aus der Poesie der Hassania in Mauretanien dazu“, erläutert sie den Stilmix. „Bab L’Bluz“ bedeutet „Tor zum Blues“, zum afrikanischen freilich, viel älter als sein US-Bruder. Es packt einen beim Hören des Albums, etwa im ekstatischen Mondlied „El Gamra“ oder dem psychedelischen „Ila Mata“. Denn Bab L’Bluz heben sich aus der Fülle der oft behäbigen, ewig in Fünftonskalen kreisenden Desert Blues-Bands knackig heraus. Das liegt an der Kombination der Gimbri und der kleineren, eine Oktave höher gestimmten Awicha, sie übernehmen die Rollen von E-Bass und Stromgitarre, tönen aber weitaus ruppiger, trockener. Darüber legt Yousra Mansour ihre melismatischen Vocals, rauchige Flötengirlanden umschweben sie.

Bab L’Bluz: „El Watane“
Quelle: youtube

„Man hört dem Album eine gewisse Schizophrenie an“, lacht Mansour. „Ausgearbeitet wird das Rohmaterial im modernen Lyon, unserer zweiten Heimat, aber die Entwürfe der Songs passieren in Marrakesch, dieser sehr traditionellen und touristischen Stadt.“ Marrakesch mit seinem verwirrenden Gemisch aus Volksgruppen, Klängen und Düften gilt auch als „Tor zur Wüste“, und der Saharawind weht ständig hinein in die Songs von Bab L’Bluz. „Ich habe eine große Verehrung für die Kultur der Hassania in Mauretanien“, sagt Mansour. „Ein Song geht auf die Tebraa-Poesie der mauretanischen Frauen zurück, die in einer sehr konservativen und patriarchalen Gesellschaft ihre eigene Liebeslyrik als Geheimbotschaften an die Verehrten entwickelt haben.“

Die Frauen, das ist auch Mansours Einschätzung, haben sich generell in den letzten Jahren ihren Platz in der marokkanischen Musikindustrie erobert. Doch in anderen Belangen hat die Staatsführung bei aller Imagepflege in Richtung Europa im Innern wieder den Rückwärtsgang eingelegt. Konnte der als Versöhner geltende König Proteste während des „Arabischen Frühlings“ 2011 noch mit Verfassungsreformen im Zaum halten, hat sich seit 2016 ein neuer Widerstandsgeist in der Bewegung „Hirak El-Shaabi“ formiert – als Antwort auf die Unterdrückung der Berber im Rif-Gebirge, auf Polizeigewalt, Korruption und auf die Beschneidung einer regierungskritischen Presse bis hin zur Inhaftierung von Aktivisten und Journalisten.

Yousra Mansour äußert sich vorsichtig: „Niemand verbietet in Marokko den Ausdruck künstlerischer Freiheit. Man darf seinen Ärger immer höflich zur Sprache bringen, aber natürlich nicht zur Gewalt aufrufen.“ Und sie gibt zu bedenken: Kein Land auf der Welt sei doch frei von Mechanismen der Manipulation. Das ungezähmte Erbe der Nayda-Bewegung, es ist bei Bab L’Bluz also vielmehr musikalisch als politisch zu verstehen. Und so sind auch die Zeilen ihrer Single “Ila Mata” heute beileibe nicht nur auf Marokko anwendbar: “Eine Furcht ist in uns gewachsen, unsere Gehirne sind Gefangene geworden und unsere Unterschiede werden kriminalisiert. Wie lange noch wird Ungerechtigkeit herrschen? Wie lange noch wird Gewalt glorifiziert?“

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 12.06.2020

Radiotipp!
Am Dienstag, den 16.6. sind Bab L’Bluz in SRF 2 Kultur im Rahmen der Sendung Jazz & World aktuell mit meinem Beitrag zu hören (Wdh. am Freitag, den 19.6. ab 21h)

Bab L’Bluz: „Ila Mata“
Quelle: youtube

I Can’t Breathe


50 Jahre ist es her, dass…

…Stevie Wonder im Studio seine melancholische Ballade „Look Around“ einsang. Hätte er gedacht, dass der Zustand der Welt, wie er ihn beschrieb, im fernen 2020 unverändert sein würde?

…Curtis Mayfield sein bahnbrechendes Album Curtis veröffentlichte. Hätte er je damit gerechnet, dass ein halbes Jahrhundert nach seiner orchestralen Hymne „We The People Who Are Darker Than Blue“, immer noch der Zusammenhalt aller Bevölkerungsgruppen beschworen werden muss, um der weißen Dominanz zu begegnen?

… Marvin Gaye mit den Aufnahmen für What’s Going On begann. Hätte er sich albträumen lassen, dass ein halbes Jahrhundert nach diesen waidwunden Zeilen, die von seinem traumatisierten und diskriminierten Bruder erzählen, das Leben eines Schwarzen unter dem Knie eines weißen „Ordnungshüter“ ein Ende findet?

Es braucht wenig, um Machtmissbrauchstäter, Rassisten, Sexisten und Bibelbeschmutzer an die Spitze eines Staates zu bringen – denn die sind nur der Eiterpickel auf einem kranken Körper. Aber es braucht einen großen Zusammenhalt, um sie mit demokratischen Mitteln wieder loszuwerden. Die USA, Brasilien, Russland und die Türkei sind für uns eine Warnung.

In memory of George Floyd. Only love can conquer hate.

Marvin Gaye: „What’s Going On“
Quelle: youtube

Teddy Swims: „What’s Going On“
Quelle: youtube

Wassoulou-Queen im Akustikgewand

Drei Jahre ist es her, dass die malische Sängerin Oumou Sangaré ihr letztes Album Mogoya veröffentlichte und darauf mit internationalen Produzenten und Gästen die Musik der Region Wassoulou kosmopolitisch aufmöbelte. Zwischenzeitlich erschien ein Remixed-Album, das die Musik des Albums mit Beiträgen von Sampha bis St.Germain noch mehr in den Club katapultierte. Jetzt geht Malis bekannteste Sängerin den umgekehrten Weg. Für August (ab Juni schon digital) hat sie ein drittes Kapitel aus der Mogoya-Serie angekündigt: Dieses Mal führt sie die Songs zurück in ein akustisches Setting, nur mit der Stegharfe Kamalengoni, akustischer Gitarre, Backgroundchören und zeitweisen Tupfern auf Celesta und Toy Organ. Ein erster Vorbote von Acoustic ist das heute erschienene „Djoukourou“, ein Song darüber, dass nichts, von Ehen bis zu Staatspräsidenten, ohne Unterstützung und Wohlwollen lange Bestand haben wird. Oumou Sangaré befindet sich derzeit im Lockdown in NY und kann nicht in ihre Heimat zurückkehren, dennoch gab sie mir ein Interview, das ich hier zum Album-Release im Spätsommer teilen werde.

Oumou Sangaré: „Djoukourou“
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Saint Quarantine #16: Mut aus London

Artwork: Orlando Seale

Ein Zeichen des Muts und der Solidarität aus London: Dort lebt mittlerweile die kanadische Songwriterin Alejandra Ribera, die beim Ausbruch der Pandemie eigentlich geplant hatte, ins Studio zu gehen, um ihr neues Album aufzunehmen. Ihren Song „Courage“ hat sie im Lockdown schließlich in einer selbstproduzierten Version verwirklicht – unterstützt durch viele im Video zu sehenden Freunde. Die Erlöse spendet Alejandra den Doctors Without Borders. Schaut auf die letzten Sekunden des Clips – sie sind berührend und amüsant zugleich.

Alejandra Ribera: „Courage“
Quelle: youtube

Reset-Knopf für die Achtziger

Heute vor 40 Jahren erschien Peter Gabriels bahnbrechendes drittes Soloalbum, für mich ein prägendes Werk meiner Jugend. Nach seinem zweiten Album, das von vielen Kritikern als Auslotung des klanglichen Suizids beschrieben wurde, bricht Gabriel, an der westlichen Zivilisation krankend, zu neuen musikalischen Ufern auf. Er beginnt, inspiriert durch afrikanische Rhythmen, seine Musik auf die Basis von schweren, dunklen Patterns zu stellen. Drum-Maschinen und Soundcomputer werden in seiner Arbeit, die immer mehr ethnische Aspekte miteinbezieht, von nun an ein Markenzeichen. Prominenz wie Robert Fripp, Phil Collins, Tony Levin, Kate Bush und David Rhodes unterstützten Gabriel bei den Aufnahmen, produziert hat Steve Lillywhite.

Ich möchte Gabriel selbst mit seinen damaligen Worten sprechen lassen: „Bei meinem dritten Album entschied ich mich, den gesamten Prozess des Songschreibens neu zu überdenken. Bisher näherte ich mich der Musik auf dem Wege der Melodien und Harmonien und füllte den Rest dann später aus. Doch mein Freund Larry Fast (Anmerkung: Gabriels Synth-Bassist) schlug mir vor, mit einem bestimmten Rhythmus anzufangen, so dass das eigentliche Rückgrat der Musik erst später Gestalt annahm.“

Das aufregendste Beispiel dafür ist die Single-Auskopplung „No Self Control“, die er am 15. Mai 1980 in Top of The Pops mit folgendem Auftritt vorstellte:

Peter Gabriel: „No Self Control“ (Top Of The Pops)
Quelle: youtube

Liannes klassischer Vorbote

Die großartige Lianne La Havas wird im Juli nach fünfjähriger Pause ihr drittes Album veröffentlichen. Gerade durfte ich mit ihr über Telefon in London sprechen. Bevor hier Ausführlicheres zum neuen Werk kommt, ein kleiner Vorgeschmack mit großem Besteck: Im Februar spielte sie einige ihrer neuen Songs schon mit dem BBC Symphony Orchestra unter Jules Buckley, „Bittersweet“ gehört zu ihnen. Atemberaubend.

Lianne La Havas with Jules Buckley & The BBC Symphony Orchestra: „Bittersweet“
Quelle: youtube

SWR 2 Musikstunde: Der Atem des Himmels

Foto: Stefan Franzen

Liebe Freund*innen,

Mundschutz und Mindestabstand bestimmen seit März unseren Alltag. Die Sehnsucht nach freiem Durchschnaufen, nach sinnlicher Erkundung der Umwelt steigt. Auch deshalb darf ich euch zu dieser ganz besonderen Musikwoche im Südwestrundfunk einladen.

„Der Atem des Himmels – eine musikalische Geschichte der Düfte“
SWR 2 Kultur, 25. – 29.05.2020, jeweils 09h05 – 10h

„Parfums sind Symphonien und Parfumeure Komponisten. In der Kunst ist die Parfümerie die duftende Nachbarin der wohlklingenden Musik“, bemerkte einst Jean Cocteau. Zu welchen Liedern, Chansons, Songs, Symphonien oder Opernarien regten die Harze und Kräuter der Antike, die Blüten und Früchte des Mittelmeers, die Hölzer und Gewürze des Orients die musikalische Fantasie an? Welche Werke entstanden als Widmung an duftende Persönlichkeiten wie die Königin von Saba, Kleopatra, Louis XIV oder Coco Chanel? Und umgekehrt gefragt: Wie duften Puccinis Cio Cio San oder Tschaikowskys „Pique Dame“, welche Aromen verströmt ein Flamenco oder ein Tango in der Vorstellung der Parfumeure? Um all diese nie ganz greifbaren, doch gerade deshalb immer schillernden, synästhetischen Abenteuer zwischen Nase und Ohren geht es in dieser Musikwoche, über 5000 Jahre hinweg, über fast alle Erdteile, von Babylon bis nach Buenos Aires, von den Pharaonen bis zu Kate Bush.

1. Von Myrrhe, Weihrauch und Balsam – die Wohlgerüche des Altertums (25.05.)

2. Tausendundein Aroma – die Düfte des Orients und Asiens (26.05.)
3. Vanille, Zimt, Orange und Jasmin – von den Tropen ins Mittelmeer (27.05.)
4. Könige, Romantiker und Synästheten – Streifzüge durch Europas Dufthistorie (28.05.)
5. Von Coco Chanel bis Kate Bush – Parfums der Neuzeit (29.05.)

Danke: der Osmothèque in Versailles für das Duftseminar, meiner Mutter Marlies Franzen für ihre biblischen Recherchen und meinem Vater Herbert Franzen für seine Gedichtübertragungen von Charles Baudelaire.

https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/der-atem-des-himmels-eine-musikalische-geschichte-der-duefte-1-swr2-musikstunde-2020-05-25-100.html

Die Sendungen sind nach der Ausstrahlung eine Woche lang in der SWR-Mediathek abrufbar.

Yma Sumac: „La Flor De Canela“
Quelle: youtube

Der Electro-Griot ist gegangen


Im Zusammenhang mit seinem Namen fiel oft die Bezeichnung Electro-Griot: Der Guineer Mory Kanté war nicht nur einer der ersten, die afrikanische Musik elektrifizierten, er war überhaupt einer der ersten Stars des Ethno-Pop, der in den späten 1980ern dazu beitrug, dass die Musikindustrie das Prädikat „Worldmusic“ erfand. Am 22.5. ist der Pionier mit 70 Jahren in Conakry gestorben.

1950 wird Kanté in eine Griotfamilie hineingeboren. Vom Großvater wird er im Spiel auf dem Balafon und im Gesang unterwiesen, doch er will mehr, als die uralte Linie seiner Vorfahren weiterführen. In Malis Hauptstadt Bamako besucht er die Kunstschule und trifft auf die legendenumwitterte Super Rail Band, die im Bahnhofsbuffet von Bamako Anfang der 1970er für ermattete Reisende aufspielt und sich zu einer der großen Supergroups des frühen Afropops entwickelt. Zweiter Frontsänger der Rail Band ist der junge Salif Keita, dem Mory Kanté schließlich den Job wegschnappt. Bis Ende der Siebziger prägt er den Vokalsound der Eisenbahn-Truppe. Dann zieht es ihn nach Abidjan an die Elfenbeinküste, damals das Zentrum der Musikproduktion auf dem schwarzen Kontinent. Dort erweitert er sein Spektrum sowohl ins traditionelle als auch ins moderne Fach: Er lernt, auf der 21-saitigen Stegharfe Kora zu spielen und lässt in die alten Lieder Funk, Pop und Rock einfließen. Dieser neue Sound auf seinen ersten Platten macht ihn in Afrika zum Star.

1984 wagt er den Sprung nach Frankreich. In Paris entstehen seine Meilenstein-Alben, À Paris und 10 Cola Nuts, schließlich Akwaba Beach mit dem Hit „Yéké Yéké“, dem man weltweit im Sommer 1988 nicht entgehen kann. An diesen Riesenhit kann Kanté nie mehr anknüpfen. Zunächst versucht er es weiter mit knalligem Afropop, 2004 rückt er dann vom Mainstream deutlich ab, lässt die alten Instrumente naturbelassener zur Geltung kommen. Traditionelle Klänge mit tanzbarem Popsound zusammenzuführen, das ist die Synthese seiner späten Jahre, etwa auf dem Album La Guinéene. Mory Kanté war seit vielen Jahren krank und wurde immer wieder in Frankreich behandelt. Auch er ist indirekt ein Corona-Opfer: Für die notwendigen ärztlichen Maßnahmen durfte er aus Afrika nicht mehr ausreisen.

Mory Kanté: „On Diarama Foulbe“
Quelle: youtube

Forest Music

Foto: Stefan Franzen

Wie das Mitglied der kanadischen Band Arcarde Fire bin ich derzeit täglich im Wald unterwegs.  Der Song stammt von seinem kürzlich erschienenen Werk Quiet River of Dust Vol.2: That Side of The River (ANTI-/Indigo): ein schöner Soundtrack zum Genießen des Maigrüns.
Wenn ihr auch im Wald unterwegs seid: Bitte bleibt auf den augeschilderten Wegen, übernachtet nicht im Naturschutzgebiet und – falls ihr Biker seid – bitte fahrt nicht auf Wegen, die keine durchgängige Breite von mindestens 2 Metern haben.

Richard Reed Parry: „In A Moment“
Quelle: youtube

Versuch über Mahlers Metaphysik I


Foto: Stefan Franzen

Es gibt Menschen, die mit Vorliebe ihre Reisen rund um Besuche von Gräbern berühmter Persönlichkeiten organisieren. Zwar habe ich 2019 Jahr bereits ausgiebig den Père Lachaise in Paris besucht, dabei ging es mir aber um die winterlich-melancholische Atmosphäre im Ganzen, weniger darum, zu Jim Morrison oder Oscar Wilde zu pilgern. Über letzteren, bzw. seine letzte Ruhestätte stolperte ich eher zufällig, das Grab des Doors-Chef habe ich gar nicht gefunden, weil ich es auch nicht gesucht habe. Viel lieber sind mir Begegnungen mit lebenden Künstlern – doch der, der mir in der klassischen Musik am meisten bedeutet, weilt nun mal heute seit 109 Jahren nicht mehr unter uns. Und so fand ich mich drei Monate nach dem Gang über den Père Lachaise, in ganz anderer Begleitwitterung auf dem Friedhof des Grinzinger Friedhofs bei Wien, um Gustav Mahler zumindest an seiner Gedenkstätte meine Aufwartung zu machen.

Die Laute, die ich an Mahlers Grab hörte: ein Buchfink, eine Goldammer (ein Goldhähnchen?) und ein Kuckuck. Jener Vogel, der schon im Erwachen der Natur zu Beginn von Mahlers symphonischem Schaffen erklingt. Und leider auch: ein Laubbläser, eine der größten akustischen Seuchen unserer Zeit. Was hätte Mahler zu diesem Ungetüm gesagt?

Schon wenige Wochen, bevor ich an Mahlers Grab stand, wurde mir, vor meinem 51. Geburtstag bewusst, dass ich jetzt älter bin, als Mahler es je war. Für mich war das eine fast erschreckende Erkenntnis. Denn Mahler starb mit den letzten Dingen auf den Lippen, mit seinen Spätwerken machte er einen Spaltbreit die Tür ins Jenseits auf. Musikalisch „sah“ er Dinge, die nie zuvor jemand gesehen hatte. Hätte er weitergelebt, hätte sich die Tür für ihn vielleicht so weit geöffnet, dass er  – und wir – es nicht ertragen hätten. 51 ist heute kein Alter, in dem man sich schon mit den letzten Dingen beschäftigt? Oder doch?

Man könnte das in einer Art Paradoxie formulieren: Mahler liebte das Leben so sehr, dass er immer über den Tod schrieb, ja, schreiben musste. Dieses Schreiben über den Tod, der stetig präsente metaphysische Ton, äußerte sich in seinem früheren Schaffen, vor allem in der 2. Symphonie noch völlig anders als in der Triade seiner letzten Werke.

Gustav Mahlers „Auferstehungssymphonie“ (1892-97) ist mit festem Glauben auf das Jenseits gerichtet. Man kann dieses Wort „Ausrichtung“ ganz konkret verstehen: Tod und Auferstehung hat Mahler programmatisch, chronologisch, ja, sogar räumlich auskomponiert, die Metaphysik wird hier fast haptisch erfahrbar. Der junge Komponist, er war während des Schaffens 28-34 Jahre alt, vertonte die christliche Vorstellung von Grablegung, dem Öffnen der Gräber, dem Gang durch einen Tunnel bis ins himmlische Reich – die christliche Mystik übte Faszination auf ihn aus, doch das Jüngste Gericht löste er auf in eine Chor-Apotheose von umfassender Liebe. Warum er konvertierte, darüber streiten sich heute noch die Biographen. Möglicherweise aus praktischen Gründen, da er als Jude nicht Direktor der Wiener Hofoper werden konnte. Doch gleichzeitig fühlte er sich zu jener frühen Lebensphase vielleicht dem christlichen Glauben durchaus verbunden, auch wenn ihm die Idee von der Unsterblichkeit künstlerischen Schaffens, die das Individuum erst zu einem solchen macht (hier war er geprägt durch Gustav Theodor Fechner und Hermann Lotze), immer über allen konfessionellen Glaubenssätzen stand.

Schon in der 3. Symphonie wandte er sich im Finale ab vom christlichen Gott hin zur allumfassenden Liebe, die sowohl himmlische wie auch irdische Züge trägt, ein alles durchwirkendes Prinzip, das – entgegen der Deutung etlicher Mahlerforscher – für mich allerdings nicht nur gütig und verzeihend wirkt, sondern auch von den Schmerzen berichtet, die einem eben diese Liebe zufügen kann. Wie ein Rätsel steht dann die Apotheose der Vierten vor den Hörern: Nach der gewaltigen, 90minütigen Geschichte des Universums von der Entstehung der Natur bis zum Feinstofflichen, die die Dritte war, erhebt hier ein Sopran nach einer fast klassizistischen Symphonie seine Stimme, um vom himmlischen Leben zu erzählen. Das Gedicht aus „Des Knaben Wunderhorn“ malt mit bukolischen, ausgelassenen Bildern, wie die Heiligen in süßem Saus und Braus leben und für ihr Bankett nicht zögern, Tiere zu schlachten. Wie auf Erden, so im Himmel, könnte man sagen, ein naives Sittengemälde aus der Sicht eines Kindes. Es scheint, als ob Mahler, ohne seinen abgründigen und grotesken Humor abzulegen, Urlaub genommen hat von den Fragen nach den letzten Dingen. Als ob er diese kindliche Antwort zwischenschaltet, weil er selbst noch keine „erwachsene“ gefunden hat.

In den drei Spätwerken, die zwischen 1907 und 1910 entstanden, ist von diesem festen Glauben nichts mehr übrig. Man kann das biographisch festmachen, Mahler hatte in der Zwischenzeit viele Schicksalsschläge erlebt. Stellen Sie sich einen Menschen vor, der weiß, dass sein Herz ihn nicht mehr lange leben lassen wird, dem in dieser stetigen Beklemmung die Tochter wegstirbt, der vielleicht schon ahnt, dass ihn seine Frau betrügt, und der unter permanenter Arbeitsüberlastung an der Hofoper leidet, die nur durch kurze Sommerpausen unterbrochen wird. In diesen Pausen bringt er sein Innerstes zu Papier, lässt er in der Abgeschiedenheit eines Komponierhäuserls seinen Seelenregungen freien Lauf. Doch ich meine, dass allein durch das musikalische Material – und im „Lied von der Erde“ helfen einem ja auch die Texte – seine veränderte Metaphysik offenbar wird.

Nein, Mahler macht es einem nicht einfach, das Hören seiner Spätwerke ist harte Arbeit fürs Gemüt. Denn er bietet keine einfachen Lösungen mehr an. Das „Urlicht“ der 2. Symphonie, es scheint im „Lied“, in der Neunten und der Zehnten unruhig zu flackern, das Urvertrauen ist dahin. Er schüttet sein fragendes Herz aus, und das ist voller metaphysischer Konflikte. Wir reisen mit ihm einmal mehr durch abgrundtiefe Verzweiflung, durch Ekel vor der Dummheit, durch Erschauern vor dem Tod und schließlich nicht hinein in eine Lösung, sondern in einen Abschied, der einer ins Ungewisse ist. Die Reise von Bowman in den Monolithen von Stanley Kubricks „2001“, sie fand Jahrzehnte früher schon in Mahlers späten Symphonien statt, doch – und das ist ein weiteres Mahlersches Dilemma – er konnte sie für sich nur innerhalb der tonalen Sprache ausdrücken. Selbst diese – musikimmanente – Verzweiflung – hört man den Werken an. Anhand dieser drei Werke bewahrheitet sich, was Bruno Walter über den Unterschied zwischen Bruckner und Mahler gesagt hat, am direktesten: Bruckner widmete sein ganzes Leben Gott, Mahler der Suche nach ihm.

© Stefan Franzen

Fortsetzung folgt.