Frohe Kunde aus dem Hause Denalane: Die erste Single des am 4.9. erscheinenden Albums Let Yourself Be Loved kommt im klassischen Motown-Gewand. Groß! Nach dreimaligem Hören hat die soulige Wärme meinen Hexenschuss fast besiegt.
Allgemein
Wie ein Außerirdischer
Starten Sie einmal eine Umfrage unter Liebhabern des portugiesischen Fado: Was verbinden sie neben dem Gefühlszustand der typischen Schwermut, der „Saudade“ vor allem damit? Richtig: Frauenstimmen. Heute vor einem Jahrhundert wurde Amália Rodrigues, die bekannteste Fadista aller Zeiten geboren. Mit ihr wurde Weiblichkeit zur zwingenden Voraussetzung für internationalen Erfolg im Genre. Ein Blick auf deutsche Bühnen während der letzten 20 Jahre bestätigt das: Mariza, Carminho, Gisela João, Cristina Branco… Zum 100. Geburtstag von Amália ist es an der Zeit, die Perspektive zurechtzurücken – und ein Sänger namens Telmo Pires hilft dabei.
„Fado als Mann? Vergiss es, Telmo, funktioniert nicht!“ Mehr als einmal musste sich der heute 47-jährige Telmo Pires das von Agenturen anhören. An seiner Arbeit ist aber nicht nur besonders, dass er sich gegen die weibliche Dominanz behaupten muss. Pires stammt aus Bragança in Nordportugal, wächst aber im Ruhrpott auf. „Dadurch habe ich eine ganz andere Schule. In Deutschland gab es natürlich nicht an jeder nächsten Ecke ein Fadohaus. Bevor ich mich mit portugiesischer Kultur auseinandergesetzt habe, war Prince mein erstes Jugendidol, ich hatte viele Einflüsse im Pop“, erinnert er sich im Interview. Doch das Land seiner Herkunft fasziniert ihn bereits, wenn er mit seinen Eltern als Kind die Sommerurlaube dort verbringt, und als Teenager zieht er dann alleine durch die Gassen des nächtlichen Lissabons, dessen Reiz des etwas Kaputten, Morbiden ihn in den Bann zieht. Von Deutschland aus beginnt er, sich für das Erbe seiner Vorfahren zu interessieren, saugt portugiesische Literatur und den Fado auf, sammelt zugleich Erfahrungen am Theater. „Bis heute gehe ich an Texte eher ran wie ein Schauspieler: Was kommt dem Text zugute, wie kann ich das Publikum mit diesen speziellen Versen erreichen? Ich möchte für jeden Song einen anderen Ton finden, jedem Wort seine Schwere geben.“ Auch das hat dazu beigetragen, dass Pires keine typische Fadostimme hat, sich gegen die Vereinheitlichung zur manchmal fast opernhaften Stimmgebung sträubt.
In Berlin startet er damit, Alben aufzunehmen. Experimentiert mit Besetzungen, die es im traditionellen Fado gar nicht gibt, mit Piano und Jazzgitarre. Nie sei es sein Anliegen gewesen, den Fado zu revolutionieren sagt er, er wollte sich lediglich an einen eigenen Stil herantasten. 2009 wird das Heimatland auf ihn aufmerksam und lädt ihn in eine TV-Talkshow. Die Portugiesen sind fast etwas ungläubig, dass da ein Landsmann in Berlin ihre Sprache singt. Telmo Pires fasst nach diesem Erlebnis Mut, siedelt 2011 in seine Traumstadt Lisboa über. „Ich bin hier eigentlich wie ein Außerirdischer im Fado gelandet mit meiner persönlichen Geschichte. Habe wirklich bei null angefangen, bin in den Fadohäusern aufgetreten, habe Kontakte geknüpft und dann den großartigen Produzenten David Zaccharia kennengelernt.“ Mit ihm, der auch mit der Sängerin Dulce Pontes arbeitet, kann er seine Visionen umsetzen.
Bis heute passt Telmo Pires nicht in die Sphäre des Fado hinein, besser: in das, was man für typisch Fado hält. Die Lieder über Sehnsucht nach Verlorenem, aufgeladen mit Metaphern, aber auch über augenzwinkernd erzählte Alltagsgeschichten schälten sich bereits vor 200 Jahren in den Altstadtvierteln heraus, aus brasilianischen und arabischen Quellen vermutlich, auch aus dem Gesang einheimischer Seeleute. In den kleinen Kneipen wird Fado bis heute sowohl von Männern als auch Frauen gesungen. Auf den großen Bühnen aber dominieren die Frauen, und daran ist Portugals Musikikone Amália Rodrigues schuld: Mit ihrer Omnipräsenz ab den 1960ern wurden vormals gar nicht traditionelle Insignien wie das schwarze Kleid und die Stola, auch der Bass neben der spanischen Gitarre und der tropfenförmigen Guitarra Portuguesa verbindlich. Erst recht nach ihrem Tod, als die leere Floskel „legitime Erbin von Amália“ zum höchsten Lob für eine junge Fadista wurde. 2020, zu ihrem 100. Geburtstag, sind Lissabons Bühnen voll mit Widmungen und Musicals, oft von durchwachsener Qualität. „Amália ist mit ihrem Charisma eine Übermutter“, urteilt Telmo Pires. „Das Bild des Mannes ist halt leider verstaubt geblieben: Da steht jemand im schwarzen Anzug auf der Bühne, kommuniziert nicht viel. Egal wo in Europa ich auftrete, kommen nachher Leute zu mir und sagen: ‚Herr Pires, wir wussten ja gar nicht, dass Männer auch Fado singen!‘ Die großen Plattenfirmen können und wollen das nicht verkaufen.“
Telmo Pires: „Sem Peso Ou Medida“
Quelle: youtube
Pires hat das Glück, ein kleines engagiertes deutsches Label gefunden zu haben, das ihm von Beginn an die Treue hält. Ohne dass seine Homosexualität zwingend Thema sein muss in seiner Kunst, geht er gegen das konservative Männer-Image des Genres an, bewegt sich bei seinen Konzerten fast wie ein Schauspieler, erklärt die Stücke, bricht Stimmungen. Sein Outfit mit Bart, Undercut-Frisur und enganliegendem Shirt zielt eher Richtung Jugendkultur. Beim Betrachten des Covers seines neuen Albums Através Do Fado würde man ihn vielleicht eher im Hiphop verorten – auch das wieder ein Stereotyp. Doch er ist sogar zur rein klassischen Fadobesetzung zurückgekehrt, weil er mit ihr heute am intensivsten seine Haltung, seine Stimme transportieren kann.
Die Palette der Stücke zum Beispiel den bedrückenden Klassiker „Medo“ aus dem Repertoire Amálias, in dem er die existentielle Angst und Einsamkeit, die sich abends mit dir ins Bett legt, beklemmend ausformt. Aber er greift mit Carlos Do Carmo auch den großen männlichen Fadista auf, der dieser Tage mit 80 Jahren seine Karriere beendet hat, eine Verbeugung vor der maskulinen Energie im Genre. Auf der anderen Seite interpretiert er mutig eine Ballade der portugiesischen Grand Prix-Teilnehmerin Maria Guinot aus den Achtzigern, hat sie in die Fadobesetzung übergesiedelt. Pires macht keinen Hehl daraus, dass er großer Fan des Eurovision Song Contests ist: „Ich habe dreimal in der EST-Geschichte für meinen Favoriten angerufen, und alle drei Mal hat dieser Song dann gewonnen, das letzte Mal bei Salvador Sobral. Ich sollte mich bezahlen lassen dafür“, lacht er.
Zentral auf Através Do Fado sind aber die Eigenkompositionen, unter ihnen das quirlige „Era Uma Vez“ über die Gentrifizierung, den Ausverkauf Lissabons, an der – unbequeme Wahrheit – die deutschen Easy Jet-Touristen erheblich Mitschuld tragen: „Klar, man muss sehen, dass Portugal am Tourismus verdient und auch deshalb geht es uns besser als vor vielen Jahren“, wägt Pires, der in Graça, einem der betroffenen Viertel lebt, ab. „Doch wenn es so weitergeht, dann ist die ganze Innenstadt sehr bald ein einziges Boutique-Hostel und die Deutschen und Franzosen kommen hierher, um sich gegenseitig anzugucken. Der Charme, den die Stadt in meiner Jugend hatte, die alten, verfallenen Häuser, das verlieren wir rasant.“ Alteingesessene Bewohner werden nach Jahrzehnten mit Ultimaten der Investoren aus ihren Häusern vertrieben, ein ehemaliges Krankenhaus in der Alfama wird zu einer Luxus-Wohnanlage umgebaut. Kürzlich, auch das ist Thema in diesem ironischen Song, wollte er in seiner Stammkneipe einen Cafézinho trinken, doch die neue Bedienung verstand gar kein Portugiesisch.
Telmo Pires sucht Tiefe in seiner Umgebung und im Alltag, sucht Tiefe auch in sich selbst. Das zeigen allein die beiden Songs, die das Album umrahmen, auch sie hat er selbst geschrieben: Am Ende des Werks das ausdrucksstarke A Cappella-Stück „No Espelho“ über das Akzeptieren seiner selbst mit allen Fehlern. Und zu Beginn „Só Meu Canto“: „Es geht darum, dass uns nichts gehört auf dieser Welt. Nicht einmal die Liebe. Uns gehört nur diese innere Stimme. Und durch meine Stimme hindurch sehe ich meine Kunst, meine Musik, mein Leben. Der Fado ist mein Vehikel, mein sehr persönlicher Fado natürlich.“ Dieser sehr persönliche Fado von Telmo Pires, er hat es verdient, den Klischees und Gesetzen der Musikindustrie zum Trotz mehr Gehör zu finden.
© Stefan Franzen, in einer gekürzten Version erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 23.7.2020
Telmo Pires: „Era Uma Vez“
Quelle: youtube
Musikprogramm des Festivals „Ins Weite“
Szene aus Ulrike Ottingers Film „Johanna d’Arc of Mongolia“ (zu sehen am 27.8. bei „Ins Weite“)
Liebe Freund*innen,
mit einem bewegenden und ausverkauften Konzert des Awa Ly Duos ist das Festival
„Ins Weite. Reisen in Film, Musik und Literatur“
am vergangenen Wochenende im Freiburger Mensagarten gestartet. An drei Spielorten – im Mensagarten, am Waldsee und am Alten Wiehrebahnhof – wird es bis zum 15.9. aus vielen Perspektiven ums Thema Reise gehen: in Open Air-Kinoabenden, Konzerten und Lesungen renommierter Autor*innen. „Ins Weite“ ist eine Initiative des Kommunalen Kino Freiburg e.V., das örtliche Partner an Bord geholt hat, unter ihnen Slow Club, Swamp, Café Atlantik und Tamburi Mundi e.V.
Das Thema Reise mit seinen drei geographischen Schwerpunkten USA / Westafrika / Asien wollen wir musikalisch von Afro-Soul über Post- und Surfrock bis Poetry Slam und Jazz abbilden: lokal und regional, aber auch mit internationalen Gästen, „ins Weite“ gehend.
Dieses Festival ist anders: In Zeiten der Pandemie dürfen wir nur eine limitierte Zahl von Zuhörer*innen einlassen und arbeiten mit einem Hygienekonzept. Die Zeit für Werbung ist knapp, da wir erst vor 10 Tagen – nach Unterstützung von der Stadt, dem SC Freiburg und weiteren Sponsoren – auch Fördermittel vom Land Baden-Württemberg erhalten haben. Das Programm haben wir daher in kürzester Zeit auf die Beine gestellt, Improvisation und Spontaneität sind die Tugenden der Stunde und wir freuen uns über jede Art der Multiplikation!
Musikprogramm – Übersicht:
Mensagarten:
22.07. – DJ Swampster / DJ Hercules: My Daddy Was A Hippie Punk – Psychedelic Beatsounds from the late 60s til early 70s (Freiburg) 20h
24.07. – Stunchile (Freiburg) 19h
27.07. – Art Of Being…On The Road: Deutsch-amerikanische Literaturperformance mit Musik von Joe Killi und Muneer B. Fenell (Freiburg) 20h30
30.07. – Marvin Suckut – Atlantik Slam (Freiburg/Waldkirch/Konstanz/Esslingen) 19h
31.07. – „Under The Big Blue Sky“ (Mongolei/Iran/Türkei/Freiburg) 19h
14.08. – Leopold Kraus Wellenkapelle (Freiburg) 19h
15.08. – Iman & Dub Tub (Freiburg) 19h
16.08. – Bab L’Bluz (Marrakesch/Lyon) 21h
Yumi Ito feat. Szymon Mika: „Little Things“
Quelle: youtube
Waldsee:
20.08. – Yumi Ito Trio (Basel/Japan/Polen/Spanien) 19h30
23.08. – Feven Yoseph (Äthiopien/Berlin) 19h30
30.08. – Tanztheater „mitteschön“ (Company J.U.S.T., Freiburg) / Barefoot Amhell & Her Backdoor Men (Straßburg) 19h
03.09. + 04.09. – We Stood Like Kings (Belgien) je 21h
06.09. – Masaa (Libanon/Köln/Berlin) 21h
10.09. – Hosh Neva (Türkei/Mannheim) 19h
Kommenden Mittwoch werden DJ Swampster und DJ Hercules mit einem psychedelischen Set die Einstimmung zum Roadmovie-Klassiker „Easy Rider“ besorgen. Am Freitag stellt sich die junge Rockband Stunchile aus Freiburg vor: Das Powertrio um die Sängerin Leonie Maier ist ganz frisch mit der Jazzhaus Records-Single „The Blues Loves You“ am Start – ein Konzert, das der Slow Club mit uns veranstaltet. Die Brücke zur Festivalsparte des geschriebenen Wortes schlagen wir am 27.7. mit einer deutsch-amerikanischen Literaturperformance, zu der der Gitarrist Joe Killi und der Cellist Muneer B. Fenell die Klänge beisteuern. Einen Poetry Slam-Abend zum Thema Reisen gestaltet Marvin Suckut mit Wortkünstler*innen aus Waldkirch, Konstanz und Esslingen, Partner bei diesem Abend ist das Café Atlantik.
Stunchile: „The Blues Loves You“
Quelle: youtube
Besonders freuen wir uns über zwei Kooperationen mit dem Festival Tamburi Mundi. Beim ersten Partnerkonzert, zugleich der Eröffnung von Tamburi Mundi, wird der mongolische Künstler Enkhjargal Dandarvaanchig einen Abend mit Freund*innen bestreiten: „Under The Big Blue Sky“ vereint sich der Sänger und Pferdekopfgeiger in verschiedenen Konstellationen mit der persischen Hackbrett-Virtuosin Arezoo Rezvani, der mongolischen Sängerin Baadma und ihren beiden Schwestern, sowie Tamburi Mundi-Chef Murat Coşkun.
Arezoo Rezvani & Murat Coskun: „Khazan“
Quelle: youtube
Surfsound aus Freiburg? Das funktioniert exzellent und originell, wie die zahlreichen Anhänger*innen der Leopold Kraus Wellenkapelle wissen, die bei uns ein intensives Augustwochenende einläutet, gefolgt von der nicht nur in Kennerkreisen hochgeschätzten Reggaeformation Iman & Dub Tub, die neue Songs mitbringen. Beide Konzerte veranstalten wir in Partnerschaft mit dem Swamp. Die Reihe im Mensagarten beschließt das französisch-marokkanische Quartett Bab L’Bluz: Letzten Sommer haben sie bei Rock am Bach in Kirchzarten abgeräumt und kehren jetzt mit ihrem Debütalbum auf Peter Gabriels Label Real World in die Regio zurück: Ihre hypnotische Mischung aus Power-Rock, Gnawa-Grooves und Wüstenblues schickt die Hörer*innen auf eine spannende Reise nach Marrakesch.
Bab L’Bluz: „El Watane“
Quelle: youtube
Im August wechseln wir den Spielort und richten uns mit der Musikbühne direkt am Ufer des Waldsees ein: Dort macht die junge Basler Sängerin Yumi Ito mit ihrem Trio den Anfang: Sie bringt ihr neues Album „Stardust Crystals“ mit, auf dem sie Jazzimprovisation mit Songwriting-Anklängen an Björk und Radiohead verknüpft, und sie erzählt in ihren Kompositionen von Reisen nach Island, Kalifornien und Brasilien. Die äthiopische Sängerin Feven Yoseph wird für Freiburg eine echte Entdeckung sein: Derzeit in Berlin lebend verbindet sie in ihrer Musik äthiopische Skalen mit R&B- und Gospel-Anklängen in Quintettbesetzung.
Feven Yoseph: „Mengedinja“
Quelle: youtube
Gespannt sein darf man auf den Double Bill zum Augustausklang, den das Café Atlantik beiträgt: Julia Galas und Steffi Sembdner von der Freiburger Company J.U.S.T. gestalten im Tanztheater-Stück „mitteschön“ die Reise zweier Menschen in ihrer Lebensmitte, die auf engstem Raum – in einer gemeinsamen Hose – stattfindet. Diesen Spätsommerabend verlängert die Straßburger Band Barefoot Amhell & The Backdoor Men, die uns auf eine Reise durch die Songs starker Frauen der amerikanischen Popmusikhistorie mitnimmt, von New Orleans bis Detroit. Zu einer stilbildenden Instanz bei der Vertonung von Stummfilmen gemausert hat sich das belgische Quartett We Stood Like Kings, das der gerade preisgekrönte Slow Club uns vorgeschlagen hat: An zwei Abenden zeigen sie, wie der sowjetische Klassiker „Ein Sechstel der Erde“ von Dziga Wertow und der US-Kultfilm „Koyaanisqatsi“ mit Postrock-Begleitung zu neuen Ehren kommen.
We Stood Like Kings: „Volchovstroy“
Quelle: youtube
Der September ist die Zielgerade von „Ins Weite“: Mit der deutsch-libanesischen Band Masaa kommen sowohl Jazzfans als auch Lyriker zum Zuge: Mit seinem neuen Gitarristen Reentko Dirks und den Versen des Sängers Rabih Lahoud verknüpft das mehrfach preisgekrönte Quartett die Raffinesse des Wortes mit der Dynamik des Jazz. Den Abschluss der Konzertstrecke des Festivals „Ins Weite“ bildet die zweite Kooperation mit Tamburi Mundi e.V.: ein Sufi-Konzert des Ensembles Hosh Neva unter der Leitung der Brüder Mehmet und Ali Ungan am Waldsee, die in die spirituelle Klangwelt der Bektashi- und Mevlevi-Orden entführen, inklusive Derwischtanz.
Masaa: „Herzlicht“
Quelle: youtube
Auf der Website zum Festival wird nach und nach das gesamte Programm mit allen Filmen, Lesungen und Konzerten abrufbar sein. Aufgrund der Corona-Auflagen sind vorläufig noch ausschließlich dort Tickets für die einzelnen Veranstaltungen zu erwerben, und dort wird selbstverständlich auch über das Hygienekonzept informiert:
https://www.koki-freiburg.de/insweite/
https://de-de.facebook.com/koki.freiburg/
Ermöglicht wird „Ins Weite“ durch die Unterstützung von: Land Baden-Württemberg, Stadt Freiburg, SC Freiburg, Studierendenwerk Freiburg, Gaststätte Waldsee, iz3w, Carl Schurz-Haus, Artik, E-Werk, Fairburg, Literaturhaus und Centre Culturel Français.
Leopold Kraus Wellenkapelle: „Plattfuß am Texasfluss“
Quelle: youtube
Freiburger Festival „Ins Weite“: Eröffnung mit Awa Ly
An diesem Samstag, den 18.7. eröffnet die franko-senegalesische Sängerin Awa Ly im Mensagarten Freiburg das spartenübergreifende Festival „Ins Weite. Reisen in Film, Musik und Literatur„, das vom Kommunalen Kino Freiburg mit 15 verschiedenen Partnern veranstaltet wird (mehr Infos hierzu in Kürze).
So wie ihre charismatische Stimme keine Grenzen kennt, geht auch Awa Lys persönliche Reise über drei Kontinente: Die international gefeierte Awa Ly hat senegalesische Wurzeln, wuchs in Paris auf, studierte in den USA, lebt in Rom. In ihren Songs treffen sich die große Tradition des Soul, jazzige Gitarrenriffs, eingängige Popmelodien, die Antwortchöre der westafrikanischen Musik, und ab und an klingen auch Verse in ihrer Muttersprache Wolof an. Ihr warmes, dunkles Stimmen-Timbre trägt sie durch die Balladen genau wie die erdigeren Songs.
Awa Ly ist in ihren Texten eine Anwältin für die Menschlichkeit. Die Kosmopolitin ergreift Partei für die nach Europa Geflüchteten, widmet ein Lied dem Freiheitskampf der Sudanesen, hinterfragt den digitalisierten Alltag und übt Kritik am ungefilterten Konsum der Medien. Sie sieht sich als eine moderne Schamanin, die ihrem Publikum mit jedem Song Fragen mit auf den Weg gibt: nach dem Platz des Einzelnen in seiner Umgebung, in der Natur, im Universum.
Safe & Sound, der Titel ihres neuen Albums, ist ein Sinnbild für einen Schutzraum, einen Halt, den sie mit ihrer Musik geben will. Awa Lys Bühnenpräsenz und Vokalkraft dürfen wir in der intensiven Duobesetzung mit ihrem neuen Gitarristen Brahim Wone erleben – erstmals überhaupt in Deutschland nach dem Lockdown.
Der Kartenverkauf darf wegen der Corona-Auflagen ausschließlich über die Festival-Website stattfinden, wo auch über das Hygiene-Konzept informiert wird:
https://www.koki-freiburg.de/insweite/
Awa Ly Duo: „Mesmerizing“ (session acoustique)
Quelle: youtube
Neo-Soul-Flow aus London
Als Mitmusikerin von Prince machte sie zuletzt von sich reden, dann war sie fünf Jahre weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Bis sie sich im Februar mit einem Paukenschlag zurückmeldete: Mit dem BBC Symphony Orchestra kleidete Lianne La Havas ihr Repertoire in ein mächtiges, symphonisches Gewand. Zu hören auch einige neue Songs, Vorboten ihres dritten, selbstbetitelten Opus das jetzt erscheint (VÖ: 17.7.). Neue Band, neue Einflüsse von Radiohead bis Joni Mitchell und ein neuer Neo Soul-Flow: Zeit für ein telefonisches Update mit der 30-jährigen Südlondonerin.
„Ich hatte ja keine Ahnung, was da auf mich zukommt, hatte noch niemals zuvor mit einem Orchester gespielt“, erinnert sich La Havas an ihren Abend mit dem Symphonieorchester. „Aber dann: Wow! Das hat mir eine so große Kraft verliehen, fühlte sich so befreiend an und ich war einfach extrem glücklich, mit einem der tollsten Klangkörper der Welt meine Songs zu spielen.“ „Befreiung“ ist tatsächlich auch der Überbegriff für ihr drittes Studiowerk, das sie in L.A. ersonnen, aber in London eingespielt hat.
Es ist mittlerweile schon acht Jahre her, dass die Tochter einer Jamaikanerin und eines Griechen in die Soulwelt mit ihrem Debüt „Is Your Love Big Enough?“ hineinexplodierte. Ihre sonnengetränkte und frische Ausstrahlung setzte sie in trotzigen Soulhymnen mit querstehenden Gitarrenriffs, genauso aber in charmanten, fast jazzigen Miniaturen um. Der Nachfolger „Blood“ peilte coolen R&B an, hatte aber eine etwas glatte Oberfläche. Beide Welten hat Lianne La Havas auf dem dritten Werk austariert. „Das erste Album war experimentell, sprang zwischen allen Genres, die ich mag, hin und her, das zweite war produzierter. Dieses neue Werk liegt in der Mitte, klingt sehr live, hat viele Gitarren, großen Gesang, berücksichtigt aber auch alle meine Studioideen“, analysiert La Havas. Selbstbewusst, aber nicht abgeklärt tönt „Lianne La Havas“. Viele der Stücke wurden in L.A. ersonnen, ihrer Lieblingsstadt zum Abhängen. Eingespielt wurde aber in London, mit Musikern, die von ihrem langjährigen Produzenten und Keyboarder Matt Hales zusammengestellt wurden, aus verschiedensten Bereichen, von Pop über afrikanischer Musik bis zu Jazz, Soul und HipHop.
„Ich wollte zunächst mal austesten, wie ich mit dieser neuen Band im Studio arbeiten kann, dafür nahmen wir uns ‚Weird Fishes‘ von Radiohead vor, einen Song, den ich schon ewig auf der Bühne gespielt hatte“, sagt La Havas. „Es war perfekt! Alle meine Hoffnungen haben sich erfüllt, denn jeder brachte seine Individualität ein. Diese Jungs haben mir wirklich geholfen, meinen Sound zu definieren. Es ist nicht einfach britischer Soul, sondern es klingt durch und durch nach mir.“ Ermutigt durch diese Synergieeffekte, begann La Havas Lyrics zu schreiben, die sehr intim von all dem erzählen, was sie durchlebte während der letzten Jahre. Vom Wiedergewinnen des Selbstvertrauens nach einem Tournee-Burnout im hymnischen „Bittersweet“. Von der liebevollen Erinnerung an ihre verstorbene Großmutter, deren Lebensweisheiten sie mit dem hymnischen „Sour Flower“ ein Denkmal gesetzt hat. Und von neuer Liebe, die sich in „Read My Mind“ mit elegant-süffigem Neo-Soul-Flow die Bahn bricht.
Sie tut das mit einer Stimme, die immer noch ihr unverkennbares Vibrato besitzt, das nur Lianne La Havas hat, die sich aber auch verändert hat: „Meine Artikulation ist viel stärker geworden. Ich lasse keine Töne mehr aus, bin nicht mehr so nachlässig oder zu relaxt. Hoffentlich wird die Stimme, wie sie jetzt ist, für lange Zeit meine Stimme sein!“ Lianne La Havas souliger Planet hat auf diesem dritten Opus auch ein paar überraschende Satelliten eingefangen. „Green Papaya“ ist so ein Song, der unweigerlich an die kanadische Songwriterin Joni Mitchell denken lässt. Und tatsächlich: „Ich dachte immer, ich sei ein großer Joni-Fan, aber während der Aufnahmen lernte ich erstmals ihr Album ‚Hejira‘ kennen. Mir gefiel, wie sie und der Bassist Jaco Pastorius da ganz nackt, ohne Beats zu hören sind. Das inspirierte diesen Song, der ebenfalls ganz ohne Drums auskommt.“ Das ruhige, psychedelisch-folkige „Courage“ hat sie ihrer Liebe zum Brasilianer Milton Nascimento zu verdanken, es ist eine Auslotung der süffigen tropischen Harmonien der 1970er.
Und schließlich kann man immer wieder, in den Gesangsschichtungen und den Gitarrengrooves, auch ihren Mentor Prince durchhören. „Sein Tod war ein Schock für mich und es vergeht keinen Tag, an dem ich nicht an ihn denke“, blickt La Havas zurück. „Jeder spricht von seiner rätselhaften Natur, aber ich entdeckte eine sehr liebevolle Seite an ihm und seinen hartnäckigen Willen, Bewusstsein und Kreativität immer noch mehr auszuweiten. Er unterbrach diesen Prozess in keiner Sekunde. Das kristallisierte sich alles in seiner Forderung heraus: ‚Sei du selbst, und rechtfertige dich niemals dafür.‘ Für mich ist das sein Vermächtnis.“
© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 15.07.2020
Lianne La Havas: „Can’t Fight“
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Versuch über Mahlers Metaphysik II
Um Aufschlüsselungen über Gustav Mahlers metaphysische Vorstellungen zu erlangen, eignet sich kaum etwas besser aus seinem Werk als die Ecksätze der 9. Symphonie. Warum? Sie beide haben ein langsames Tempo, und bei Mahler, der heute vor 160 Jahren geboren wurde, finden die Auseinandersetzungen zwischen Dies- und Jenseits vor allem in langsamen Sätzen statt, während die Scherzi und Rondosätze das „Getümmel der Welt“, das „Unterhaltungsdelirium“ (Schönberg) in der menschlichen und auch der tierischen Welt in oft sarkastischer, grotesker Art abhandeln.
Was hat es mit dieser Final-Neunten, der letzten großen der klassischen Musikgeschichte auf sich, diesem 80-minütigen Koloss, der das Ende der Spätromantik verkörpert und so intensive Gefühlsausbrüche in sich birgt, dass das Hören zur gewaltigen seelischen Erschütterung geraten muss? Man stelle sich einen Mann von knapp 50 Jahren vor. Als Hintergrundrauschen trägt er täglich die Furcht mit sich herum, dass sein diagnostiziert schwaches Herz ihn nicht mehr lange leben lassen wird, er leidet mit jedem Atemzug unter dieser Beklemmung. Seine geliebte Tochter ist ihm vor zwei Jahren gestorben und mit der Vitalität seiner viel jüngeren Frau kann er nicht Schritt halten. Als Dirigent an der Metropolitan Opera in New York bricht er unter permanenter Arbeitsüberlastung fast zusammen. Um seiner eigentlichen Berufung, dem Komponieren, nachgehen zu können, bleiben Gustav Mahler nur die Sommermonate, die er im idyllischen Toblach in den Sextener Dolomiten verbringt. Hier hat er sich unter Fichten eine schlichte Bretterhütte zimmern lassen, und in diesem entrückten „Komponierhäusl“ vollendet er im Juli und August 1909 vier Sätze, wie sie die Symphonik zuvor noch nicht gekannt hat. Es ist eine schöne Vorstellung, dass er die Schlusstakte des Adagios komponierte, während mein Großvater 600 Kilometer entfernt geboren wurde.
Man kann die paar Quadratmeter heute noch besichtigen, der Verschlag hat die 110 Jahre überdauert. Inmitten eines Streichelzoos mit Wildsauen, Ziegen und Emus steht das „Häusl“, karg bestückt mit Fototafeln. Drumherum die mächtigen Felszinnen der Kalkalpen, und sie müssen in diesem auch heute noch behäbigen Kurort auf Mahlers Schöpferkraft abgefärbt haben. Ja, man kann die Neunte, Mahlers letzte vollendete, mit ihren vielen Hornrufen und volksmusikhaften Drehfiguren sehr oberflächlich auch als „alpin“ hören. Doch sie erzählt vor allem vom metaphysischen Kampf eines hochsensiblen Künstlers, der sein Ende kommen spürt.
In der Neunten stellt Gustav Mahler alle herkömmlichen Regeln der Symphonik auf den Kopf, Satzabfolge, thematische und harmonische Entwicklung. Nach einem suchenden Tasten durch einzelne Cello-, Harfen- und Blechbläsertöne schwingt sich das Hauptthema des ersten Satzes, des ersten Adagios auf: ein leiser, filigraner, fast feinstofflicher Triller, dem ein Seufzer aus zwei Ganztonschritten abwärts antwortet, in der Wiederholung eine Terz höher. Feinste Regung aus zwei ganz einfachen musikalischen Vokabeln. Das tönt nach ergreifendem Gesang aus der ländlichen Volksseele, es ist eigentlich ein Klang gewordenes Ein- und Ausatmen von Wehmut, wie es das so oft in Mahlers Werken gibt – und ein eigentümlicher Swing wohnt diesem Thema inne, fast tänzerisch, man mag an einen Walzer denken, obwohl das Geschehen im 4/4-Takt stattfindet.
Der sich anschließende innige Gesang von Hörnern, Holzbläsern und Geigen, immer wieder stürzt er mehrfach in düstere bis schlichtweg brutale Abgründe. In der Mitte – was Alban Berg als Hereinbrechen des Todes deutete – Hammerschläge, gefolgt von fahlen Streichern, die das Fürchten lehren. Die letzten drei Minuten wie ein feines Gespinst aus Flöten- und Geigensoli, das ansatzweise schon auf das hinweist, was im Schlusssatz geschehen wird. Und tatsächlich, nachdem in diesem Satz mehrfach 120 Musiker sich kollektiv aufgebäumt haben, ruft die Klarinette ein „Lebwohl“ und ein einzelner Flötenton setzt den Schlusspunkt. Es ist in dieser Symphonie der erste Moment von Auflösung in die Stille hinein.
In Bruchstücken springt einem im nachfolgenden Ländler die österreichische Volkskultur als Totentanz entgegen, ein groteskes Rondo schließt sich furios lärmend an, heute würde man diese Musik als „industrial“ bezeichnen: Die Welt aus den Fugen, ihr Getümmel ein absurdes Theater. Doch wir wollen unser „metaphysisches Ohrenmerk“ auf das Schlussadagio lenken, es ist für mich das größte und ergreifendste der abendländischen Musikgeschichte. Teodor Currentzis hat es „Vehikel zur Unendlichkeit“ genannt.
Mahler zitiert Beethovens Klaviersonate „Les Adieux“ und zugleich das trostsuchende anglikanische Kirchenlied „Abide with me“. Bleibe bei mir, Herr, verlasse mich nicht. Mahlers Abend ist der seines Lebens. Doch Gott scheint zunächst kein verlässlicher Begleiter auf diesem letzten Weg, nach nicht mehr als vier Tönen wandelt sich der Choral zu einem herzblutenden Gesang, der fast taktweise zwischen Gebet, Hingabe, Sehnsucht, Furcht vor dem Tod und Auflehnung gegen das Schicksal schwankt. Mahler führt den Choral in einen Doppelschlag hinein, wieder solch eine „volksmusikalische“ Spielfigur. Doch dieser Doppelschlag, er ist ins Unermessliche gedehnt, eine Verzierung, die nicht mehr wie im 1. Satz feinstofflich ist, sondern ein verzweifeltes Klammern an die Materie. Dieser Doppelschlag spannt die Choralmelodie quasi auf ein Folterrad, führt sie in verwegene harmonische Abwege und Ableitungen, sie droht zu zerspringen, sie ist in Mahlers Gestalt ein gewaltiges Schluchzen, ein reines Destillat des Zweifels und der Verzweiflung.
Es ist der diametrale Gegensatz zur festen Burg des Klopstock-Chorals am Ende der Zweiten, der nach seinem Eintritt aus der Stille noch wie ein Sog zur Apotheose führte, ohne fragend zurückzublicken. Erhellend ein Hinweis auf das Hauptthema aus dem Adagio einer anderen Neunten: die 1894 von Anton Bruckner beendete. Auch sein Thema ist geprägt von einer in mehreren Bogenbewegungen aufwärts strebenden Melodie, eingeleitet durch einen gewaltigen Seufzer. Ob Mahler sich bewusst hat inspirieren lassen, oder ob am Ende der Tonalitätsepoche der Weg ganz einfach zu diesen mächtig ausgreifenden, „stöhnenden“ Melodiebögen gehen musste? Als finale Möglichkeit, Expressivität nochmals zu intensivieren? Spannend ist, ans Ende der Melodie zu schauen: Während sich bei Mahler das melodische Material gleichsam in Tonartwechseln und chromatischen Verdichtungen zerfasert, findet Bruckner innerhalb dieses einzigen Themas von einem verzweifelten Aufschrei zu einem strahlend-leuchtenden, fast entschwebenden Gesang, der sich in reines Dur ordnet. Die Zweifel werden bereinigt, im himmlischen Vertrauen endet das Thema – und nicht zufällig steht über der 9. Symphonie als Widmung „An den lieben Gott“.
Hier dagegen ein „Wunderland des Schmerzes“, wie es Teodor Currentzis nannte, und er erzählt dazu eine selbsterlebte Geschichte: Als Student in St. Petersburg grübelt der angehende Dirigent über die Bedeutung der verzweifelten Passagen des Adagios. Für wen bloß ist diese Musik, fragt er sich. Ein Freund führt ihn zu verlassenen Gleisen, an denen eine Frau sitzt, leergeweint, doch immer noch sehnend und hoffend auf einen Zug, der nie kommen wird. In diesem Adagio wohnt aber nicht nur die Frau von den Gleisen, hier wohnt auch jeder Sterbliche, jeder Zweifelnde, jeder von uns. Doch dieser zutiefst bewegende Gesang, der sich ans Leben klammert, wird mehrfach von eigenartigen, leisen Passagen mit Fagott und Flöte zerschnitten. Ein Schatten- und Zwischenreich tut sich auf, ein Fegefeuer in Stase, in dem wie aus einer anderen Dimension Johann Sebastian Bachs strenger Kontrapunkt nachhallt. Wie aus der Zeit gefallen scheinen diese Einschübe, man fühlt sich in einem reinen, Vakuum jenseits menschlicher Gefühlswelten. Komponierte Mahler hier das Unbegreifliche, das Mysterium?
Nach langem Widerstreit zwischen diesem Bezirk des Unbegreiflichen und dem Gesang des bohrenden Zweifels schimmert endlich etwas Zartes, ja, Zärtliches am Horizont. Die Reihen im Orchester lichten sich, in mehrfacher Bedeutung. Fast übernehmen die Pausen die Hauptrolle, der irdische Zeitbegriff ist außer Kraft gesetzt. Und schließlich löst sich alles in körperloses Nichts, die feinstofflichen Gebilde, die übrigbleiben, bilden offene Harmonien, keine harmonische Auflösung. Ein Blick in die Anderswelt ist uns erlaubt, ohne dass wir sie ergründen könnten. Mahler, das ist die Deutung von Leonard Bernstein, ist nach schmerzvollem Abschied von der Schönheit der Erde nun bereit, sein Ich aufzugeben, ohne zu wissen, was ihn „drüben“ erwartet. Bruckners Schlusstakte sind teleologisch eingebunden: bei ihm setzt sich ein gefestigtes Streicherdur durch. Kein Entschweben ins All, kein Auflösen der Materie. Bruckner malt einen katholischen Himmel. Wie Mahler hingegen eine endgültige Hingabe ans Ungewisse in Töne gefasst hat, ist vielleicht keinem anderen Komponisten in so zutiefst menschlicher Ehrlichkeit gelungen. Die Größe des Zweifelnden: sich der anderen Welt zu überantworten, ohne von ihr Kenntnis zu besitzen und ohne festen Glauben zu haben. Musikalisch ließ sich das nur durch eine Komposition der Auflösung umsetzen. Das im Konzertsaal mitzuvollziehen, kann ein Leben verändern. Die Tür ins Jenseits schwingt auf – und auch in eine neue musikalische Epoche.
© Stefan Franzen
(wird fortgesetzt)
Teodor Currentzis & das SWR Symphonieorchester mit Gustav Mahlers 9. Symphonie sind hier zu hören.
Quelle: SWR Classic
Saint Quarantine #18: Gegen Phantomschmerzen
Foto: Stefan Franzen
Es fühlt sich leer an. Denn normalerweise wären wir jetzt auf dem Weg nach Thüringen, wie jedes Jahr am ersten Donnerstag des Monats Juli. Doch die Jubiläumsausgabe des größten deutschen Roots-Festivals in Rudolstadt fällt der Pandemie wegen an diesem Wochenende aus. Um den „Phantomschmerz“ zu lindern, wie es die Macher nennen, gibt es an den eigentlichen Festivaltagen ein reichhaltiges Radioprogramm, das Highlights der letzten Dekade Revue passieren lässt, darunter auch vollständige Mitschnitte von Einzelkonzerten. Federführend ist hier vor allem der Sender MDR Kultur: Am heutigen Donnerstag startet er um 20 Uhr mit einem dreieinhalbstündigen Rudolstadt-Abend mit Erinnerungen, Reportagen, Talkrunden und Live-Musiken.
Am Freitag schließt sich eine zehnstündige Rudolstadt-Konzertnacht an, während der unter anderem Auftritte von Billy Bragg, Alejandra Ribera, Anoushka Shankar, Reinald Grebe, Wenzel, Sam Lee & Friends, Sophie Hunger, den Cowboy Junkies und Element of Crime zu hören sein werden. Am Samstag- und Sonntagabend blicken dann sowohl Deutschlandfunk Kultur wie auch BR Klassik auf die gesamte Festivalhistorie zurück. Die 30. Ausgabe des Rudolstadt Festivals findet dann turnusgemäß wieder vom 1. bis 4. Juli 2021 statt.
Hier ist das gesamte Radioprogramm gelistet. Und anbei außerdem ein Auftritt der kanadischen Bears Of Legend aus dem Jahr 2017, gefilmt von arte – die Band aus Québec fand sich unversehens auf der großen Heinepark-Bühne wieder, nachdem der dort vorgesehene Act kurzfristig ausfiel…
Bears Of Legend in Rudolstadt 2017 (arte in concert)
Quelle: arte / youtube
Saint Quarantine #17: Virtuelles Morgenland
In Zeiten von Covid-19 hat auch das Morgenland-Festival Osnabrück eine kreative Durchführung seiner diesjährigen Ausgabe auf die Beine gestellt. Die Antwort der Macher auf die Pandemie: Sie bieten gleich zwei Festivals an. Zum eigentlich vorgesehenen Datum ist gerade eine Online-Version auf dem Youtube-Kanal der Website zu sehen: Hier bietet das Festival zum Thema „Balkans Beyond Brass“ virtuelle Konzerte an, die seit dem 18.6. jeden Abend um 19h laufen und ab morgen allesamt abrufbar sind. Das reicht von alten Rezitationen der serbischen Ostkirche von Divna Ljubojević und dem Gesangsensemble Melódi über ein intimes Konzert der Bosnierin Amira Medunjadin bis zur griechischen Stimme Savina Yannatou. Die Musiker haben in ihren Heimatländern an für sie bedeutsamen Orten Videos aufgenommen, die dann vom Festival-Team zu kleinen Filmen verarbeitet wurden. Den Plan für ein Live-Festival haben die Niedersachsen für dieses Jahr jedoch noch nicht ad acts gelegt: Vom 2. bis 6. Dezember soll es ebenfalls zum Balkan-Thema eine abgespeckte Fassung der ursprünglich geplanten Konzertreihe geben.
Divna Ljubojević & Melódi: Morgenland-Festival Osnabrück 2020
Quelle: youtube
Wilder Duft aus Marrakesch
Die Veranstalter des kleinen „Rock am Bach“-Festival in Kirchzarten hatten im letzten Sommer den richtigen Riecher. Sie luden ein Quartett namens Bab L’Bluz ein, das mit seiner treibenden marokkanischen Rockenergie frenetisch gefeiert wurde. Dieser Tage bringt die Band ihr Debütalbum heraus – und das gleich mit den höchsten Weltmusikweihen, auf Peter Gabriels Label Real World. Es nennt sich „Nayda!“, ein Begriff, der in Marokko seit der Jahrtausendwende verankert ist. Damals sorgte der Wechsel im Königshaus vom autokratischen Hassan II., der seine Gegner in Kerkern dahinsiechen ließ, zum gemäßigteren Sohn Mohammed VI. für gesellschaftliche Lockerungen.
Und auch für einen Riesenschub der Musikszene: Rapper, Hardrocker und Jazzer vereinten sich in der Nayda-Jugendbewegung, Minderheiten machten sich musikalisch bemerkbar, wie die Berber und die Gnawa, Nachfahren ehemaliger Sklaven, die die Marokkaner aus Schwarzafrika verschleppt hatten. „‚Nayda!‘, das heißt im Darija, dem marokkanischen Arabisch, zum einen ‚Party‘, zum anderen steht es für intellektuelles Aufwachen, für eine aufrechte Haltung, dafür, nicht einfach der Schafherde hinterherzulaufen“, sagt Yousra Mansour, Frontfrau von Bab L’Bluz.
Die quirlige Sängerin wuchs im libertären Geist von „Nayda“ auf. Schon die Eltern hörten einen Mix aus Led Zeppelin, Michael Jackson und klassischer arabo-andalusischer Musik. Jedes Jahr pilgerte sie nach Essaouira, um im Team des weltweit bekannten Gnawa-Festival mitzuhelfen. „Ich wurde immer mehr von dieser Musik in den Bann gezogen“, erzählt sie im Telefoninterview. Was wenig erstaunt bei den kreisenden Beschwörungszeremonien, die charakteristisch sind für die Gnawa. „2017 habe ich das Spiel auf der Gimbri begonnen, die Basslaute der Gnawa, und wurde in Marrakesch für ein Gnawa-Jazz-Projekt angefragt.“ Dort lernt sie den Franzosen Brice Bottin kennen, mit ihm, dem Drummer Hafid Zouaoui und dem Flötisten Jérôme Bartolome formt sie schließlich das Quartett Bab L’Bluz.
„Wir verstehen uns als erweitertes Powertrio im Geiste der Bands von Jimi Hendrix. Die Grundenergie heißt Rock, aber dann kommen Zutaten aus den marokkanischen Provinzen, aus der Gnawa- und Berbermusik, aus der Poesie der Hassania in Mauretanien dazu“, erläutert sie den Stilmix. „Bab L’Bluz“ bedeutet „Tor zum Blues“, zum afrikanischen freilich, viel älter als sein US-Bruder. Es packt einen beim Hören des Albums, etwa im ekstatischen Mondlied „El Gamra“ oder dem psychedelischen „Ila Mata“. Denn Bab L’Bluz heben sich aus der Fülle der oft behäbigen, ewig in Fünftonskalen kreisenden Desert Blues-Bands knackig heraus. Das liegt an der Kombination der Gimbri und der kleineren, eine Oktave höher gestimmten Awicha, sie übernehmen die Rollen von E-Bass und Stromgitarre, tönen aber weitaus ruppiger, trockener. Darüber legt Yousra Mansour ihre melismatischen Vocals, rauchige Flötengirlanden umschweben sie.
Bab L’Bluz: „El Watane“
Quelle: youtube
„Man hört dem Album eine gewisse Schizophrenie an“, lacht Mansour. „Ausgearbeitet wird das Rohmaterial im modernen Lyon, unserer zweiten Heimat, aber die Entwürfe der Songs passieren in Marrakesch, dieser sehr traditionellen und touristischen Stadt.“ Marrakesch mit seinem verwirrenden Gemisch aus Volksgruppen, Klängen und Düften gilt auch als „Tor zur Wüste“, und der Saharawind weht ständig hinein in die Songs von Bab L’Bluz. „Ich habe eine große Verehrung für die Kultur der Hassania in Mauretanien“, sagt Mansour. „Ein Song geht auf die Tebraa-Poesie der mauretanischen Frauen zurück, die in einer sehr konservativen und patriarchalen Gesellschaft ihre eigene Liebeslyrik als Geheimbotschaften an die Verehrten entwickelt haben.“
Die Frauen, das ist auch Mansours Einschätzung, haben sich generell in den letzten Jahren ihren Platz in der marokkanischen Musikindustrie erobert. Doch in anderen Belangen hat die Staatsführung bei aller Imagepflege in Richtung Europa im Innern wieder den Rückwärtsgang eingelegt. Konnte der als Versöhner geltende König Proteste während des „Arabischen Frühlings“ 2011 noch mit Verfassungsreformen im Zaum halten, hat sich seit 2016 ein neuer Widerstandsgeist in der Bewegung „Hirak El-Shaabi“ formiert – als Antwort auf die Unterdrückung der Berber im Rif-Gebirge, auf Polizeigewalt, Korruption und auf die Beschneidung einer regierungskritischen Presse bis hin zur Inhaftierung von Aktivisten und Journalisten.
Yousra Mansour äußert sich vorsichtig: „Niemand verbietet in Marokko den Ausdruck künstlerischer Freiheit. Man darf seinen Ärger immer höflich zur Sprache bringen, aber natürlich nicht zur Gewalt aufrufen.“ Und sie gibt zu bedenken: Kein Land auf der Welt sei doch frei von Mechanismen der Manipulation. Das ungezähmte Erbe der Nayda-Bewegung, es ist bei Bab L’Bluz also vielmehr musikalisch als politisch zu verstehen. Und so sind auch die Zeilen ihrer Single “Ila Mata” heute beileibe nicht nur auf Marokko anwendbar: “Eine Furcht ist in uns gewachsen, unsere Gehirne sind Gefangene geworden und unsere Unterschiede werden kriminalisiert. Wie lange noch wird Ungerechtigkeit herrschen? Wie lange noch wird Gewalt glorifiziert?“
© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 12.06.2020
Radiotipp!
Am Dienstag, den 16.6. sind Bab L’Bluz in SRF 2 Kultur im Rahmen der Sendung Jazz & World aktuell mit meinem Beitrag zu hören (Wdh. am Freitag, den 19.6. ab 21h)
Bab L’Bluz: „Ila Mata“
Quelle: youtube
I Can’t Breathe
50 Jahre ist es her, dass…
…Stevie Wonder im Studio seine melancholische Ballade „Look Around“ einsang. Hätte er gedacht, dass der Zustand der Welt, wie er ihn beschrieb, im fernen 2020 unverändert sein würde?
…Curtis Mayfield sein bahnbrechendes Album Curtis veröffentlichte. Hätte er je damit gerechnet, dass ein halbes Jahrhundert nach seiner orchestralen Hymne „We The People Who Are Darker Than Blue“, immer noch der Zusammenhalt aller Bevölkerungsgruppen beschworen werden muss, um der weißen Dominanz zu begegnen?
… Marvin Gaye mit den Aufnahmen für What’s Going On begann. Hätte er sich albträumen lassen, dass ein halbes Jahrhundert nach diesen waidwunden Zeilen, die von seinem traumatisierten und diskriminierten Bruder erzählen, das Leben eines Schwarzen unter dem Knie eines weißen „Ordnungshüter“ ein Ende findet?
Es braucht wenig, um Machtmissbrauchstäter, Rassisten, Sexisten und Bibelbeschmutzer an die Spitze eines Staates zu bringen – denn die sind nur der Eiterpickel auf einem kranken Körper. Aber es braucht einen großen Zusammenhalt, um sie mit demokratischen Mitteln wieder loszuwerden. Die USA, Brasilien, Russland und die Türkei sind für uns eine Warnung.
In memory of George Floyd. Only love can conquer hate.