Fließende Erdung

Foto: Matthis Kleeb

Sehr selbstbewusst und direkt schaut Simin Tander vom Cover ihres neuen Werks. Der Blick ist Programm: In den letzten zehn Jahren ging sie unbeirrt ihren künstlerischen Weg – von einer vielversprechenden Jazz-Newcomerin über die Interpretation von Sufi-Gedichten und Hymnen hin zu einer Klangwelt, die sich nun nicht mehr unter Jazz, Songwriting oder Pop fassen lässt. Doch von alldem steckt etwas drin in ihrem dritten Soloalbum Unfading, das auf dem Freiburger Label Jazzhaus Records erschienen ist.

Es hätte für sie so weitergehen können: Das Album „What Was Said“ mit Vertonung mystischer Lyrik für den großen ECM-Verlag bescherte ihr 2016 an der Seite des norwegischen Pianisten Tord Gustavsen große Erfolge, eine Welttournee und den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik. Doch in Simin Tanders Kopf reiften neue Visionen, die sich nur auf einem anderen Pfad, mit anderen Instrumenten verwirklichen ließen. „Die Besetzung war nicht unbedingt geplant, aber auch kein Zufall“, erläutert sie im Interview. „Ich hatte tatsächlich nach einem etwas dunkleren Sound gesucht, hatte zuerst noch ein Klavier im Kopf, wusste aber auch, dass das Schlagzeug einen dunkleren Groove spielen soll. In meinen Stücken sollte bei allem Fließenden, Sanften, nach oben Gewandten auch eine Erdverbundenheit vertreten sein. Und das ist für mich auf jeden Fall etwas sehr Weibliches.“

Im Schweizer Drummer Samuel Rohrer und dem schwedischen Bassisten Björn Meyer fand Tander zwei Musiker, die feingliedrig und zugleich flächig arbeiten können, einen Tieftöner, der sich in filigrane Höhen schrauben, ein Schlagzeug, dass auch mal sehr muskulös wirken kann. Das entscheidende fehlende Puzzleteil im Sound kam aus unerwarteter Ecke: „Ich hörte ein altes Jan Garbarek-Album. Da war ein Instrument drauf, das ich nicht einordnen konnte. Cello? Bratsche? Mich faszinierte der obertonreiche, zugleich aber tiefe, satte Klang. Ich recherchierte und fand heraus, dass es eine barocke Viola d’Amore ist.“ Mit dem Tunesier Jasser Haj Youssef agiert nun ein Könner auf diesem Instrument, der gleichzeitig den von ihr gewünschten orientalischen Aspekt einbringt.

Kein Zweifel, beim ersten Hören von Unfading muss man ein paar Hürden nehmen, denn die Kombination der Instrumente ist anspruchsvoll. Doch sie fallen mit der Zeit und machen den Weg frei für einen unwiderstehlichen Sog. Das liegt vor allem an Tanders Stimme: „Ich habe das Album im sechsten Schwangerschaftsmonat aufgenommen, man sagt, die Stimme wird da ein bisschen tiefer, oder wärmer vielleicht. Doch ich hatte mich zuvor schon ganzheitlich mit meiner Stimme auseinandergesetzt, versucht, die Stimme als Spiegel der Seele zu entdecken, immer weiter und transparenter zu sein.“ Sie sagt, das funktionierte ganz unterschiedlich: Ein spanisches Wiegenlied habe sie ganz breit ausgesungen, gar nicht geflüstert, ins englische Titelstück hingegen sei sie ganz „zart eingetaucht“.

Der Albumtitel signalisiert für Tander eine „sanfte, endlose Bewegung“. Verbunden sind die fünfzehn Stücke durch eine ausgeprägt weibliche Perspektive. Sie nahm ihren Anfang bei einer Dichtung von Sylvia Plath, die sie mit hypnotischer Wirkung in Szene setzt. Und sie hatte auch das Bedürfnis, wie schon auf früheren Alben in Pashto, der Sprache ihres Vaters, zu singen. Mehrfach tut sie das: einmal in einer Widmung an die Paschtunenheldin Nazo Tokhi des 17. Jahrhunderts, oder zeitgenössisch mit Versen der Lyrikerin Sohayla Hasrat-Nazimi, in deren Gedicht „Sta Lorey“ sie ganz funky wird. Auch Gulnar Begum, der großen Schauspielerin und Sängerin der 1960er, huldigt sie fast punkrockig. Nicht zu vergessen Tanders eigene Verse voll maritimer Symbolik und ihre spontanen Improvisationen. „Insgesamt empfinde ich ‚Unfading‘ als direkter und klarer im Vergleich zu meinem letzten Solo-Album“, sagt Simin Tander. „Ich möchte jede Melodie, jede Note zelebrieren und dabei auch die Stille sprechen lassen. Dieser Ansatz hat mich sehr reifen lassen.“

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 27.11.2020

Simin Tander: „Unfading“ album trailer
Quelle: youtube

Schwereloser Saitentanz

Für viele ist sie die Königin der persischen Instrumente: Die Kamancheh, eine Stachelgeige aus Maulbeer- oder Walnussbaumholz mit winzigem Resonanzkörper, wird aufgrund ihres obertonreichen, melancholischen Klanges nahe der menschlichen Stimme gerühmt. „Der Wechsel zwischen der hohen und tiefen Lage ist wie ein Dialog zwischen einem reifen, weisen Menschen und einem jüngeren, energetischen”, sagt Misagh Joolaee (sprich: misaag dschulai). „Mein erster Meister pflegte immer zu sagen: ‚Ich weine oft mit der Kamancheh, mit der europäischen Geige komme ich nur selten an diesen Punkt.‘“

Auch Joolaee, einer der spannendsten Vertreter der jungen Generation von Kamanchehspielern, hat diesen unmittelbaren Vergleich der Streichinstrumente erfahren: Mit sieben Jahren beginnt er, den reichen Schatz der persischen Kunstmusik, den Radif, auf der Violine zu erlernen. Doch als er über seinen jüngeren Bruder die Kamancheh entdeckt, wird ihm klar: Diese Musik kann viel besser auf der persischen „Schwester“ umgesetzt werden. Als Teenager entwickelt er parallel aber ein Interesse für die abendländische Klassik, Beethovens Violinkonzert habe ihn total umgehauen, verrät er. Die Beschäftigung mit zwei Musikwelten und die Beherrschung beider Instrumente bringt ihn auf einen außergewöhnlichen Weg: „Ich fing an, meine Hörerlebnisse in der europäischen Musik auf die Kamancheh zu übertragen. Doppelgriffe und Bogentechniken der Violine wie Staccato und Spiccato, die bisher nicht üblich waren. Außerdem inspirierten mich Zupftechniken von der Langhalslaute Setar, später auch das Anreißen der Saiten (Rasgueado) aus dem Flamenco.“ Diese Erschließung neuer Klangräume ist eine Pionierarbeit.

Wie unzählige andere freigeistige Künstler stößt Misagh Joolaee 2006 an seine Grenzen im Alltag unter dem iranischen Regime. Um sich entfalten zu können, entschließt er sich zur Ausreise nach Deutschland. Heute lebt er in Berlin. Doch das Erbe des Iran, insbesondere seiner Heimatprovinz Mazandaran im Norden, trägt er weiter im Herzen: „Die Region hat eine eigene abgeschlossene Musiktradition entwickelt, mit einer Gesangstechnik, die ganz außergewöhnlich ist. Diese „Mazari“-Tradition hat stark auf die persische Kunstmusik eingewirkt“, sagt Joolaee. Die Sehnsucht des Exilanten nach seiner ersten Heimat ist in sein Solo-Debüt, die CD „Ferne“ eingeflossen. Anfang des Jahres wurde sie mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik prämiert. Joolaee hat sie mit dem aus Freiburg stammenden Perkussionisten Sebastian Flaig eingespielt, einem profunden Kenner der orientalischen Musik, der auch schon mit den berühmten bulgarischen Frauenstimmen musiziert hat.

Von melancholischer Meditation über Trennung bis hin zu schwerelosem Tanz auf den Saiten und ekstatischem Kreisen reicht das Ausdrucksspektrum der Kompositionen, die die beiden in greifbar intensiver Zwiesprache live im Studio eingespielt haben. „Man strebt als Künstler immer an, so ein kleines Fenster von Transzendenz zu erreichen, das schafft man vielleicht ein paar wenige Male im Leben““, sagt Joolaee. Mit Flaig sei er diesem Zustand nahe gekommen, besonders in einem Stück namens „Berauscht“, das den verzückten Zustand der Sufis in ihrer Suche nach dem Höchsten abbildet.

Misagh Joolaee hat diese stille Zeit des zweiten Lockdowns genutzt, seine zweite CD aufzunehmen, in der er die Auslotung neuer Techniken in freieren Improvisationen noch konsequenter vorantreibt. Zur Kehrseite der Pandemie zählen natürlich auch abgesagte Konzerte: Das Haus der Kultur, ein rühriger Verein unter Leitung des iranischen Konzertpianisten Shafagh Nosrati, hatte einen Abend mit ihm und Flaig im Freiburger Humboldtsaal gebucht, der entfallen muss. Doch nach etlichen Bemühungen, so der aktuelle Stand, konnte das Konzert durch  Verlegungen in die nahe Schweiz gerettet werden.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen zeitung, Ausgabe 24.11.2020

CD: „Ferne“ (erhältlich über https://pilgrims-of-sound.com/)
Live: Misagh Joolaee & Sebastian Flaig, Kleines Museum Klingental Basel, 28.11., 20h (Beschränkung auf 15 Personen) und Kulturscheune Liestal, 29.11. 14h30 und 17h, (Beschränkung auf 30 Personen), Infos:
www.hausderkultur.com

Misagh Joolaee: „Fern der Geliebten“
Quelle: youtube

Zerbrechliches Königreich


Heute erscheint Stardust Crystals, das Album der Schweizer Sängerin, Komponistin und Bandleaderin Yumi Ito auch physisch. Zu diesem freudigen Anlass teile ich das Video des Titelstücks der CD, in dem es – hochaktuell – um die zerstörerische Kraft der Menschen gegenüber ihrem vermeintlichen Königreich, der Erde gibt. Mein Porträt gibt es hier nochmal zum Nachlesen. Und noch etwas Spannendes: In der SRF 2-Sendung Jazz Collection spricht Yumi über ihre Liebe zu und ihre Einflüsse von Björk – sie wird am Samstag ab 16h30 wiederholt.

Yumi Ito: „Stardust Crystals“
Quelle: youtube

Menorquinisches Multitalent

Foto: Mireia Miralles

Er wuchs mit der Volksmusik Menorcas und der Pyrenäen auf, schulte sich am US-Jazz genauso wie an Ravel, Skrjabin und J.S.Bach.
Marco Mezquida wird von Kollegen der spanischen Presse als „Jahrhundertmusiker“ gelobt. Mit 33 hat er bereits über 20 Alben veröffentlicht, sein Repertoire reicht von Duo-Aufnahmen mit der katalanischen Sängerin Sílvia Pérez Cruz über Solo-Improvisationen und Flamenco-Kollaborationen bis zur jazzigen Trio-Arbeit.

Mit dem kubanischen Cello-Virtuosen Martin Meléndez und derm Schlagwerker Aleix Tobias hat er seine neue Scheibe „Talismán“ eingespielt, über die ich mit ihm gesprochen habe. SRF 2 Kultur bringt meinen Beitrag am Dienstag, den 17.11. in der Sendung „Jazz & World aktuell“ ab 20h, Wiederholung am 20.11. ab 21h.

Hier zu hören im Stream:
https://www.srf.ch/audio/jazz-und-world-aktuell/mit-jodok-hess?id=11859775

Marco Mezquida: „All Of Me“ (live at Palau Barcelona)
Quelle: youtube

Nach der Stille tastend

Dino Saluzzi
Albores
(ECM/Universal)

Es scheint eine Musik zu sein, wie geschaffen für den neuerlichen Corona-Lockdown: Ein Mann pflegt für eine Stunde intimste Zwiesprache mit seinem Instrument, das ihn sein Leben lang begleitet hat. Der 85-jährige Argentinier Dino Saluzzi, der das Bandoneón aus der Sphäre des Tangos schon vor Jahrzehnten herausholte, hat nach 30 Jahren wieder einmal ein Solo-Album eingespielt, teils inspiriert von Versen, die José Luis Borges oder sein Landsmann José Hernández geschrieben haben. Es sind alles andere als karge Klanglandschaften. Der betagte Altmeister besitzt nun eine emotionale Tiefe, die jedes seiner Stücke zu einer reichen Erzählung weitet, jede Phrase mit weitem Atem erfüllt, ja, die jeden Ton zum Erlebnis macht, da in jedem winzige seismische Regungen wohnen.

Das liegt daran, dass für Saluzzi das Bandoneón verlängerter Körper, Lunge und Seele ist. Sein Abschied für den georgischen Komponisten Gija Kancheli ist ein wehmütiger, ergreifender Dank an den Kollegen von der anderen Seite des Erdballs. In den „Ausencias“ begegnen kurze chromatische Reibungen der Melodik der Anden und der Pampa, ebenso im Klangfarbenspiel von „La Cruz Del Sur“, in dem die Melodik so delikat ins Pianissimo verschwindet, dass sie zuweilen nur durch das Klappern der Mechanik in der körperlichen Welt bleibt. Urbane Töne blitzen silbrig in einer Milonga auf, sie ist jedoch wie eine Erinnerung an einen Ballsaal nach dem Fest: Die Gäste sind schon gegangen, und der Musikant spielt nur noch für sich, umgeht das strenge rhythmische Korsett für eine freie Fantasie. Manchmal, wie in der harmonisch komplexen „Ecuyère“ oder dem endlos gewobenen, polyhonen Fluss von „Ofrenda“, könnte man auch fast an einen einsamen Orgelspieler denken, der in einer leeren Kirche auf seinem Manual meditiert, während tröstendes Licht durch die bunten Glasfenster fällt.

Am ergreifendsten vielleicht seine Widmung an den Vater „Don Caye“: Diese Variationen umarmen den Hörer wie ein nostalgischer Sog mit einem lachenden und einem weinenden Auge. „Albores“: ein großes und großartiges Solo-Recital des Nach-Innen-Horchens – und auch das Resümee eines langen Lebens für die Musik, für das Bandoneón. Und wenn man nach dem Hören noch fragt, was ein 85-Jähriger dieser manchmal so überdrehten Welt noch zu geben vermag, kann die Antwort nur lauten: alles.

© Stefan Franzen

Dino Saluzzi: „Íntimo“
Quelle: youtube

Anoushkas Reflektor verschoben

Diese Woche sollte Anoushka Shankar in der Hamburger Elbphilharmonie ihren „Reflektor“ präsentieren – ein mehrtägiges Festival, mit dem sie indische Musik in allen Facetten des 21. Jahrhunderts aus ihrer Perspektive zeigen wollte. Bitter, dass gerade kurz zuvor die zweite Shutdown-Klappe verordnet wurde. Doch die gute Meldung lautet: Anoushkas „Reflektor“ ist nicht aufgehoben, sondern nur um exakt ein Jahr verschoben. Ich möchte die Wartezeit verkürzen mit einem Ausschnitt aus dem langen Londoner Interview, das im Vorfeld geführt wurde  und gleichzeitig den märchenhaften Stummfilm Shiraz aus dem Jahr 1928 empfehlen – für die vom British Film Institute restaurierte Fassung hat sie einen wunderbaren neuen Soundtrack geschaffen, der im Rahmen des Festivals live zu den Bildern aufgeführt werden wird.

Anoushka Shankar über den Reflektor
Quelle: Elbphilharmonie/youtube

Soulfood vom St. Lorenz-Strom

The Brooks
Any Day Now
(Underdog Records/Broken Silence)

In diesen Tagen kann man wärmendes Seelenfutter gut brauchen, und das kommt ausgerechnet aus einer etwas kühlen Region, der kanadischen Provinz Québec. Dass der Ahornstaat beim Soul und Funk oberster Güte immer wieder für Überraschungen sorgt, ist nichts Neues, doch unter den Veröffentlichungen der letzten Jahre ragt die neue Scheibe der seit acht Jahren existierenden Montréaler Truppe The Brooks nochmal heraus. Warum behaupte ich das so dreist?

Hier ein paar Argumente: Any Day Now schlägt einen überwältigenden dramaturgischen Spannungsbogen, eingerahmt in ein  großorchestrales Präludium und Finale, die beide in Klangfarben zwischen flirrenden Holzbläsern, Harfen, Blechblasfanfaren und Synthesizer-Melodien nur so funkeln. Dazwischen entfaltet sich ein funky Kosmos, der so ziemlich alle Kapitel der Soul- und R&B-Historie der letzten fünfzig Jahre würdigt. In „Drinking“ und „Zender“ führen die Québecois Tugenden von George Clinton und D’Angelo zusammen, angeheizt von einer fantastischen Horn Section, die schließlich fast zur Marching Band wird. „Moonbeam“ lässt wieder das Symphonische aufleuchten, mit einem Schimmern, das an die Arrangements aus Curtis Mayfields früher Solozeit erinnert, doch die Synthese zwischen Orchester und Band wird erst in „Headband“ zur Perfektion gebracht.

„Gameplay“ schwenkt in die rockigere Seite des Funk ein, „So Turned“ On“ fügt mit sexy-sonniger Melodik tatsächlich einen Schuss guten Britpop der Achtziger ins Gebräu hinzu. Doch der Stilpalette ist noch nicht genug: „The Crown“ gipfelt in einem Afrobeat-Hexenkessel, während „Turn Up The Sound“ eine gekonnte Kreuzung aus James Brown und Sly & Robbie ist. Das sich mit all diesen verschiedenen Ingredienzien doch ein homogenes Puzzle in den Ohren des Hörers ordnet, ist das Erstaunlichste an diesem Werk. Montréal, mon amour, kann ich da nur einmal mehr sagen!

The Brooks: „Turn Up The Sound“
Quelle: youtube

 

Shake Djibouti

Foto: © Janto Djassi

Groupe RTD
The Dancing Devils Of Djibouti
(Ostinato Records/Groove Attack)

Das kleine ostafrikanische Djibouti hat sich bislang der musikalischen Entdeckung durch den Westen entzogen. Nun kommt die aktuelle Staatsband des Landes, Groupe RTD, zu internationalen Ehren – mit der Musik, die sie nach Dienstschluss spielt. Der senegaldeutsche Produzent Janto Djassi hat mir die Geschichte ihrer Entdeckung erzählt.

Es ist jedem Besitzer eines Plattenspielers schon mal passiert: Man spielt eine Scheibe mit der falschen Geschwindigkeit ab und merkt das in der Regel nach einigen Sekunden. Als der Autor dieser Zeilen allerdings die Doppel-LP The Dancing Devils Of Djibouti auflegt, schweifen geisterhafte Vokalmelismen zu sirrenden Synths durch den Raum, die von einem tonnenschwer schaukelnden Offbeat mit garstigen E-Gitarren und swingendem Sax abgelöst werden: Musik wie aus einer anderen Welt, die man eigentlich gar nicht auf 45 Umdrehungen korrigieren will. Aber selbst nach dem Umlegen des Riemens verlieren die Klänge wenig von ihrem Faszinosum.

Dahinter steckt eine Band mit dem furztrockenen Namen Groupe Radiodiffusion-Télévision Djibouti, kurz Groupe RTD. „Das ist die nationale Radioband, die in ihrem Alltag auf Staatsempfängen und im präsidialen Palast spielt. Da ist dann oft auch Propagandamusik, Nationalistisches dabei“, sagt Janto Djassi, Koproduzent der Aufnahmen. „Was wir aufgenommen haben, ist aber die Musik, die sie nach Feierabend spielen, die sie aus ihrer Kindheit kennen und re-interpretieren. Das zweite Gesicht der Band.“ Der Hamburger Musiker, Foto- und Videograf Djassi stieß über seinen Freund Nicolas Sheikholeslami, der sich mit somalischer Musik beschäftigt hatte, zum Label Ostinato des Inders Vik Sohonie. Zunächst realisierten sie die vielfach beachteten Reissue-Kompilationen „Sweet As Broken Dates“ und „Two Niles To Sing A Melody“ in Somalilands Hauptstadt Hargeysa und dem Sudan. In Djibouti wurden ihre ursprünglichen Pläne dann über den Haufen geworfen.

„Während wir das Archiv des Radios digitalisierten, hatte der Direktor für uns ein kleines Konzert im Studio vorbereitet. Wir waren sofort hin und weg von der Energie, die von dieser Band auf uns zukam!“ Schnell reifte das Vorhaben, statt Archivarisches zu veröffentlichen, neue Aufnahmen mit der seit 2013 bestehenden neunköpfigen Groupe RTD zu machen, ermöglicht durch eigens eingeflogene Technik. Die Band um die junge, einer Talentshow entstammende Sängerin Asma Omar und den Sax-Grandseigneur Mohamed Abdi Alto spielt einen knackig groovenden Tanzband-Sound, der sich aus vielen Quellen speist, denn die zehn Tracks spiegeln die geographische Position Djiboutis, das erst seit 1977 von Somalia unabhängig ist, als Knotenpunkt am Roten Meer wider.

„Es gab schon immer Handels- und Kulturverbindungen zwischen Indien, dem arabischen Raum und Ostafrika“, sagt Djassi. „Somalier leben in der Ogaden-Region Äthiopiens, Äthiopier in Somalia.“ Und so hört man in den Stücken neben den heimischen Rhythmen vom Tadjoura-Golf auch immer alten Somali-Pop, die schaukelnden Takte des Sudan, äthiopische Skalen, arabische Ornamentik und einen Hauch Bollywood mitschwingen. Vermeintliche Reggae-Einflüsse sind nicht jamaikanisch zu verorten, sagt Djassi, der charakteristische Offbeat sei aus Äthiopien herübergeweht. Und: „Da die amerikanische Musikindustrie über Radio und Platten auch dort alles penetriert hat, steckt natürlich auch James Brown-Funk und Jazz drin. Der RTD-Saxophonist Mohamed Abdi Alto war immer ein großer Fan von Charlie Parker und Harlem Jazz.“

Djiboutis Führung war bis dato eher darauf bedacht, den Zugang zum kulturellen Erbe nicht gerade Jedem zu ermöglichen. Seine Regierung, die bei uns unter „Diktatur“ firmieren würde, wird nach Djassis Einschätzung von weiten Teilen der Bevölkerung getragen. Dass er überhaupt ins sich abschottende Djibouti reisen durfte, hat er einem Bonus zu verdanken: „Ich bin Senegaldeutscher, und Vik ist in Thailand lebender Inder, wir entsprechen also nicht dem Bild des weißen Mannes, der irgendwo hinkommt und sich dann wieder vom Acker macht, nachdem er Ressourcen extrahiert hat.“

Zentrale Philosophie von Ostinato Records ist es tatsächlich, bei der Arbeit vor Ort auch etwas dazulassen, in diesem Fall eine Bandmaschine und Digitalisierungs-Tools. Und dazu gehört auch, anstatt altes Vinyl auszuschlachten, ungeklärte Fragen der Urheberrechte inklusive, künftig mehr kontemporäre Musik aufzunehmen, die den lebenden Musikern vor Ort als Sprungbrett dienen soll. RTD wollen, so Covid-19 beherrschbar wird, bald in Europa auf Tour kommen. „Wir möchten das Narrativ vom armen Afrika, Krieg, Mord- und Totschlag und somalischen Piraten korrigieren. Die Machtillusionen des Westens zurechtrücken.“

© Stefan Franzen, veröffentlicht in Jazz thing #136

Groupe RTD: „Buuraha U Dheer“
Quelle: youtube

Tanz am Geysir

Es ist soweit: Der erste Vorbote aus Yumi Itos im November auch physisch erscheinenden Album Stardust Crystals kommt in Form der Single „Little Things“ mit dazugehörigem Video. Darin huldigt sie unverkennbar ihrer großen Liebe Island, und die Klänge gehen eine wunderbare Synthese mit der Natur ein. Well done, Yumi!

Yumi Ito: „Little Things“
Quelle: youtube

Entgrenzter Schumann

Foto: Gregor Hohenberg

Johanna Summer
Fuge trifft Fuge, Denzlingen
17.10.2020

Eine Trias der Künste lässt Goran Kojic in seinem Ladengeschäft aufeinander wirken: Coronen-Stelen von Michael Bögle und Bilder von Anke Rösner umgeben den zentral platzierten Flügel, an den der Fliesenlegermeister und Pianist seit 2019 regelmäßig Musiker bittet. Nach acht Konzerten ist die passend betitelte Reihe „Fuge trifft Fuge“ bestens eingeführt, wird auch in Corona-Zeiten gut angenommen. An solchen Abenden wie diesem, an denen er seine beiden Passionen Handwerk und Klang in warmer Wohnzimmeratmosphäre vor Publikum zusammenführen kann, gehe ihm das Herz auf, sagt Kojic, der erkennbar für seine Sache brennt. Und es ist ihm mit Johanna Summer gelungen, eine Starpianistin der jungen deutschen Szene nach Denzlingen zu locken, um ihr neues Schumann-Soloprogramm zu präsentieren.

Sich im Beethoven-Jahr um Robert Schumann zu kümmern – schon fast eine kleine Rebellion. Doch die Zeit dafür war reif, so Summer im Vorgespräch. Was die unweit vom Geburtsort des Komponisten, Zwickau, aufgewachsene Plauenerin fasziniert: Seine Stücke aus den „Kinderszenen“ und dem „Album für die Jugend“ sind wie Abbilder eines Zustandes, kaum haben sie begonnen, sind sie schon wieder vorbei. Und so seien sie für eine fantasievolle Adaption, ein entgrenztes Fortspinnen viel eher geeignet als etwa eine Bach-Fuge oder eine Beethoven-Sonate.

Ein unendliches, aufregendes Spielfeld für die Mittzwanzigerin, die vom klassischen Unterricht ins Jazz-Studium einbog. Dabei legt sie das althergebrachte Schema von Thema und anschließender Improvisation ad acta: Zwei meist gegensätzliche Charaktere aus den Schumann-Alben verklammert sie an einer sehr langen Leine. Es ist, als flöge der Hörer in eine dichte Klangwolke aus freien, flüchtigen Schumann-Radikalen, die sich vorübergehend zu ihren bekannten Molekülen ordnen.

Etwa in „Glückes genug“ und „Erster Verlust“. Die fallende Melodiebewegung füllt Summer mit Swing-Feeling, parfümiert sie mit Blue Notes, bis unvermittelt, aber doch organisch erwachsen, das Originalthema dasteht. Das Doppel aus dem „Haschemann“ und dem „Ritter vom Steckenpferd“ gestaltet sie mit querständigen Ostinati, baut daraus einen wippenden Groove, lässt einen fast abrupten Schluss zu. Summers Impro-Strecken haben sowohl „jazzy“ Anmutungen, greifen aber genauso beherzt in den virtuosen Werkzeugkasten spätromantischer Konzertkadenzen. Am verblüffendsten gelingt ihr der Spagat zwischen „Knecht Ruprecht“ und der „Träumerei“, zwei hassgeliebte Ohrwürmer jeden Klavierschülers: Die täppischen Sechzehntelfiguren des Nikolaus-Gehilfen wandelt sie zu dräuend monströsen Blockakkorden, mit packender Physis lotet sie den Bassraum aus. Und dann hält man den Atem an, wie sich die immer zartere Melancholie vorarbeitet, das „Träumerei“-Thema schließlich von aquatisch schimmernden Linien umflossen wird. Großer Applaus für fantastische Stil-Verfugungen.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 19.10.2020

fuge-trifft-fuge.de
nächste Termine: Thomas Bauser, 1.11., Rainer Böhm, 6.12.

Johanna Summer: „Knecht Ruprecht – Träumerei“
Quelle: youtube