Wie sehr sie fast 20 Jahre lang fehlte, wurde mir klar, als ich 2013 ein Konzert von Fleetwood Mac erlebte, kurz vor ihrer Rückkehr zur Band. Christine McVies ruhig fließende Songwriterkunst gab dem Repertoire Erdung und Imagination zugleich, mit vielen wunderbaren Balladen wie „Songbird“, „Brown Eyes“, „Over & Over“ oder „Beautiful Child“. Und ihre Stimme war ein melancholisch grundiertes Schweben, das sich vom görenhaften Timbre ihrer Kollegin Stevie Nicks wie eine Komplementärfarbe absetzte.
1980 kaufte ich mir als 12-Jähriger das Doppel-Album Tusk, und ich weiß noch, wie mich schon der Opener aus ihrer Feder in eine andere Welt katapultierte. R.I.P., Christine.
Mani Matter „Ds Nünitram“ (aus: I Han Es Zündhölzli Azündt, Zytglogge 1973)
Heute vor 50 Jahren kam der Berner Liedermacher Mani Matter mit gerade mal 36 Jahren bei einem Autounfall ums Leben. Es überrascht mich immer wieder aufs Neue, wie ein Mann, der das „Liedlischriibe“ nur als eine Nebenbeschäftigung ansah und eigentlich juristischer Angestellter der Stadt Bern war, bis heute eine so gewaltige Nachwirkung auf die Schweizer Musikszene hat. Songwriter, Rockmusiker und sogar Rapper verehren ihn, covern bis heute seine kurzen, prägnanten, sprachspielerischen und hintergründigen Berner Chansons. Ich empfehle zum Beispiel diese wunderbare, afrikanisch angetupfte Coverversion von Bonaparte mit Gastsängerin Sophie Hunger.
Matter hat immer mal wieder das Thema Schienenfahrzeuge gestreift, was auch nicht verwundert, denn er war Eisenbahner-Enkel. Das konnte sich dann in feinen Beobachtungen im Wartesaal des Bahnhofs niederschlagen, oder in Betrachtungen über das Sitzen gegen die Fahrtrichtung. Am schönsten ist allerdings seine mit surrealistischen Motiven gespickte Miniatur „Ds Nünitram“, in der sich die abendliche Straßenbahn auf einen Ausflug in himmlische Sphären begibt.
Die Malierin Fatoumata Diawara kündigt für 2023 ein neues Album an, das unter einem besonderen Vorzeichen stehen wird. Diawara arbeitet, wie viele westafrikanische Künstler vor ihr, mit dem Afrika-verrückten britischen Musiker Damon Albarn (Gorillaz/Blur). Jetzt ist die erste Single aus dem Album erschienen, sie nennt sich „Nsera“. Das Bambara-Wort lässt sich mit „Ziel oder „Bestimmung“ übertragen.
Im Text wendet sie sich an ihren Kontinent, der erkennen möge, wie viel er der Welt zu geben hat. Diawaras Sound ist durch das Mitwirken von Alban, der im Rahmen seines Africa Express seit 2006 mit Namen von Salif Keita bis Fela Kuti kollaborierte, deutlich poppiger geworden. Sie selbst nennt diesen Sound „Londonko“ – der Name eines imaginären Kontinents, der London und Bamako zusammenführt.
In den symbolisch stark aufgeladenen Bildern des Videos (Regie: Gregory Ohrel) zu „Nsera“ ist auch eine unübersehbare Kritik an der gerade gestarteten Fußballweltmeisterschaft zu sehen: Während sie davon singt, dass Afrika ihr als Reisender Gastfreundlichkeit entgegenbringt, ist Diawara mit einem Albino zu sehen, eine Gruppe, die in Mali lange unter Diskriminierung gelitten hat. Dieser Albino hält einen blutüberströmten Turnierball in der Hand. Gerade hat Diawara im Berliner Konzerthaus gastiert, am 20. Januar wird sie im Konzerthaus Wien und am 21. Januar in der Philharmonie Köln zu erleben sein.
Dieses Bild zeigt das Fort Santa Maria, gelegen an der südöstlichen Spitze der Allerheiligenbucht im Stadtteil Barra der bahianischen Metropole Salvador da Bahia. Gemalt hat es mein Vater nach einer Fotovorlage. Fast genau diesen Blick hatte ich vor 20 Jahren, im September 2002, als ich das erste Mal nach Brasilien aufgebrochen war. Ich erinnere mich noch gut, wie damals die VW-Busse mit Megaphonen an der Strandpromenade entlang fuhren, um Wahlwerbung für Lula zu machen. Nach einer Schreckensherrschaft eines irren, menschenverachtenden Machthabers kann Brasilien sich nun hoffentlich wieder von den gesellschaftlichen und ökologischen Wunden – wieder unter Führung von Lula – erholen. Doch die Vorzeichen sind nicht mehr so günstig wie noch vor zwei Dekaden.
Hoffnung in Lula setzt auch der Songwriter Lucas Santtana, der aus Bahia stammt und im Januar sein neues Werk O Paraíso veröffentlichen wird. Über Brasiliens Zukunft habe ich mit ihm vor kurzem sprechen können, außerdem natürlich über seinen neuen Songzyklus, der hinter- und tiefgründig von den Chancen auf ein ausgewogenes Leben der Menschheit spricht. Das Paradies ist auf diesem Planeten schon da, so Santtana, wir müssen uns nur angemessen verhalten. Und dann können wir auch auf der Erde bleiben. „Vamos Ficar Na Terra“, so seine optimistische Vorabauskopplung aus dem Album, die er in akustischer Version spielt, während er an der Strandpromenade entlang geht, die sich an das Bild rechts oben anschließen würde. Der abendliche Blick fällt im Video auf das Fort Santa Maria von der anderen Seite. Mehr aus dem Gespräch mit Santtana dann Anfang 2023.
Lucas Santtana: „Vamos Ficar Na Terra“
Quelle: youtube
Sie war eine der größten Sängerinnen Brasiliens und begründete in den späten 1960ern neben Caetano Veloso, Gilberto Gil und Maria Bethânia die moderne brasilianische Popmusik: Im Alter von 77 Jahren ist Gal Costa am Mittwochmorgen in São Paulo gestorben.
Maria da Graça Costa Penna Burgos stammte aus Bahia, wie Gil und Caetano, mit deren Songs sie Mitte der Sechziger ihre Karriere begann, „Eu Vim Da Bahia“ und „Baby“ waren ihr ersten Hits. 1967 tat sie sich mit Caetano Veloso für das Album „Domingo“ zusammen. Kurz darauf wurde mit ihrer Beteiligung Tropicália, ein Meilenstein der Tropicalismo-Bewegung veröffentlicht, die brasilianische Wurzeln mit internationalem Rockflair und psychedelischen Tönen kollagierte und sich auch als freigeistiger Protest gegen die Militärdiktatur verstand. In den 1970ern trug Gal Costa mit ihrem Image zwischen Hippiemädchen und Sexsymbol auf vielen Soloalben maßgeblich zur Farbenpracht der Popmusik ihres Landes bei. Wichtige Werke aus dieser Zeit waren India und Cantar, bekannte Stücke „Que Pena“, „Meu Nome É Gal“, „Perola Negra“ und „Barato Total“.
Sie arbeitete mit etlichen Stars der brasilianischen Szene wie Jorge Ben, Luiz Melodia oder Erasmo Carlos. Ein Highlight ihrer Karriere wurde 1976 das Album Doces Bárbaros, auf dem sie zusammen mit ihren drei bahianischen Mitstreitern Caetano, Gil und Bethânia Funk und Soul mit afro-brasilianischen Rhythmen mischte. Ihre Stimme, geprägt von einem meistens sanften, flexiblen Timbre, war auch zu rauen Ausbrüchen fähig und stellte ein effektvolles Gegengewicht zur eher harten, maskulinen Stimme Maria Bethânias dar. Costas Bühnenpräsenz kulminierte 1979 in der Show „Gal Tropical“.
Gal Costa hat den musikalischen Wandel der folgenden Jahrzehnte immer mitgetragen, fühlte sich im Karnevals-Samba, Disco-Soul und im Synthie-Pop der 1980er zuhause. Noch im September war sie mit einer Best Of-Show auf großen Festivals in Brasilien unterwegs und wollte im November auch wieder auf europäischen Bühnen gastieren. Wegen eines Knotens in der Nase musste sie sich jedoch in ärztliche Behandlung begeben. Einmal durfte ich sie – zusammen mit meinem Kumpel HP, ein mindestens ebenso Brasil-Verrückter wie ich – live erleben: beim damals schon nach Stuttgart ausgelagerten Viva Afro Brasil-Festival am 15.7.2006.
Vieux Farka Touré & Khruangbin Ali (Dead Oceans/Cargo)
Wenn sich eine Ikone aus Mali zusammentut mit einem Trio aus Texas, ahnt man, dass die Wüste eine gemeinsame musikalische Verständigungsbasis liefern kann. Beim Sahel-Rocker Vieux Farka Touré und dem psychedelischen Gitarrendub-Trio Khruangbin aus Houston ist das dann auch tatsächlich der Fall. Um den Songs der malischen Desert Blues-Ikone Ali Farka Touré, Vieux‘ Vater, Tribut zu zollen, ist dieses Teamwork die ideale Konstellation: Die manchmal spröden Originale werden fülliger, bekommen einen unwiderstehlichen Groove. Was bei Ali eher noch meditativ-versponnen war, wie zum Beispiel das hier von Orgel-Stupsern verzierte „Lobbo“, wird jetzt tanzbar.
Reizvoll auch, wie die ruppige Gitarre von Vieux sich mit den sanft glimmenden Riffs von Khruangbin-Saitenmeister Marc Speer zu einem ungleichen Paar verzahnt („Diarabi“). Die verzwirbelten Fünfton-Schleifen tummeln sich zwar oft in träumerischen Hallräumen, bekommen dann aber vom trockenen Drumkit her plötzlich auch mal einen knackigen Impuls: Das kann dann, wie in „Tongo Barra“, regelrecht funky werden. Timbuktu trifft Texas unter einem nächtlichen Funkelfirmament.
Ausflüge zu Mahlers Komponierhäusln scheinen von einer eigenartigen Aura umgeben.
Vor drei Jahren berichtete ich über mein Scheitern an Gustav Mahlers drittem Häuschen in Toblach, zum Ende meiner Interrail-Tour durch neun europäische Länder. Ich musste unverrichteter Dinge umkehren. 2020 dann machte ich einen neuerlichen, wiederum vergeblichen Versuch, das Refugium zu betreten. Über diesen Versuch habe ich hier den Mantel des Schweigens gebreitet, auch die anschließende Fahrt zum ersten Häusl am Attersee habe ich hier nicht dokumentiert. Diese schön kuratierte Stätte liegt inmitten eines Campingplatzes (nun ja, besser als der umgebende Hängebauchschwein- und Ziegenpark in Toblach). Auch vom Attersee musste ich umdrehen, da just an jenem Tag Wien Hochrisikogebiet wurde.
Inzwischen sind viele Corona-Viren die Alpentäler hinuntergeflossen und ich wagte einen neuen Versuch. Nein, wohlweislich nicht nach Toblach, wo die Wiedereröffnung der Stätte für irgendwann demnächst angekündigt ist, sondern – nach acht Tagen Aufenthalt in Wien – an das noch fehlende zweite Häusl in Maiernigg am Wörther See, unweit Klagenfurt.
Hier – und in der direkt unterhalb, in Privatbesitz befindlichen und daher nicht zu besichtigenden Villa Schwarzenfels – hat der Komponist seine Sommermonate von 1900 bis 1907 verbracht und den Hauptteil seiner Werke von der 4. bis zur 8. Symphonie mit dieser Aussicht erschaffen:
Die Maiernigger Zeit wurde durch einen grausamen Schicksalsschlag beendet: Am 12.7.1907 stirbt Mahlers ältere Tochter Maria Anna an Scharlach und Diphtherie. Nach ihrer Beerdigung rudert Mahler mit seiner Frau Alma auf den Wörther See hinaus und versenkt ein großes Bund mit allen Schlüsseln der Villa und des Häusls, so will es die Legende. Er verbietet auch den Nachkommen, diesen Ort zu betreten.
Im Herbstwald strahlt der Ort heute eine behagliche Ruhe aus, man kann nachempfinden, wie Mahler hier mit seinem Frühstück auf der Bank vor dem Häuschen saß, bevor er ans Schöpfen ging. Wären da nicht plötzlich die Waldarbeiten, die sich mit zwei Kettensägen laut bemerkbar machen. Margot Peterlini führt mich durch den Raum, in dem heute sogar ein Arbeitspiano steht, auf dem Mahler selbst gespielt hat. Zahlreiche seltene Dokumente und Fotographien aus der Maiernigger Zeit sind versammelt, auch der Safe, in dem Gustav Mahler seine Goethe- und Kant-Ausgaben sowie Noten von Johann Sebastian Bach verwahrte, ist noch in der Wand.
Im Gegensatz zu allen anderen Komponier-Refugien und Wohnhäusern von Tonschöpfern, die ich besucht habe, bleibe ich hier nicht ganz allein, ein Herr aus Wien interessiert sich auch für die Stätte. Ich nehme mir vor, hierhin zurückzukehren, wenn im Sommer wieder das Mahler-Forum stattfindet, das seit 2021 im Sommer wie die Konzertreihe „Sonntagsmahlern“ hier stattfindet.
Sonntagsmahlern am Komponierhäusl Maiernigg
Quelle: youtube
Heute ist der 40. Todestag von Mahsa Amini. Die mutigen jungen Leute im Iran, unter ihnen vor allem Frauen, lassen ihre Proteste gegen das Mullah-Regime nicht verebben. Wir sind in Gedanken bei ihnen.
Solidarität in musikalischer Form kommt auch vom iranischen Kamancheh-Spieler Misagh Joolaee, der mit seiner Frau, der Pianistin Schaghajegh Nosrati, und dem Perkussionisten Sebastian Flaig eine Widmung an die für Leben und Freiheit demonstrierenden Frauen komponiert hat. „Be Hich Diyar“ ist von Poesie des persischen Dichters Saadi aus dem 13. Jahrhundert inspiriert und übersetzt sich mit „keiner Welt zugehörig“.
Heute würde der englische Komponist Ralph Vaughan Williams 150 Jahre alt. Es gab in den 1980ern und 90ern eine lange Phase, in der ich seiner Musik regelrecht verfallen war. Auch heute fasziniert mich sein Stil noch, der so ganz anders ist als die Klangsprache der kontinentaleuropäischen Romantiker. Vor einiger Zeit hatte ich auf diesem Blog schon mal eine „Hitliste“ von sieben Kompositionen gepostet.
Um heute an ihn zu erinnern, habe ich den ersten Satz aus seiner 3. Symphonie in meiner Lieblingsinterpretation ausgewählt. Diese Symphonie hat den Beinamen „pastoral“, und tatsächlich scheinen sich in den gedeckten Tönen, den Holzbläserthemen und gleißenden Streichern die leuchtenden Pastelltöne einer weiten, ruhigen englischen Landschaft zu öffnen.
Doch diese Symphonie, die vor 100 Jahren uraufgeführt wurde, hat auch einen Subtext. Vaughan Williams verarbeitete hier seine Kriegserfahrungen in Nordfrankreich, wo er als Sanitätsfahrer eingesetzt war und grausame Dinge gesehen hat. Mit dem ersten Satz erinnert er sich an die wenigen Momente des Innehaltens, wenn er mit seinem Fahrzeug auf eine Hügelkuppe fuhr und auf die im Abendlicht liegende Landschaft sah – es hat ihn an die Stimmung auf einem Gemälde von Corot erinnert.
Gerne verweise ich auch auf die SWR 2 Musikstunde diese Woche, in der sich meine Kollegin Antonie von Schönfeld jeden Morgen von 9h05 bis 10h mit Ralph Vaughan Williams beschäftigt!
Ralph Vaughan Williams: „Pastoral Symphony“ 1st Movement (Bryden Thomson, London Symphony Orchestra)
Quelle: youtube
Für ihre beiden ersten mutigen Platten wurde sie gefeiert, jetzt kehrt Liraz zurück und traut sich nach wie vor das, was eigentlich unmöglich ist: die Vermählung von Israel und Iran, für die in einem Keller in Istanbul heimlich ausgereiste Musiker aus Teheran auf ihr Sextett aus Tel Aviv trafen.
Es ist einfach verblüffend, wie sorglos dieser Pop klingt, der in dieser Incognito-Insel entstehen musste: Fliegende Keyboard-Arpeggien, lockere Handgelenk-Riffs der Rhythmusgitarre, mit Disco-Stolz schreitende Drums. Darüber die Stimme, die das Zierwerk der Orient-Melismen mit dreamy Popattitüde paart. Das tönt zwar hin und wieder nach der gloriosen Energie der Frühachtziger, macht aber nie selbstreflexiv auf Vintage. Und ist daher einfach wunderbar zeitlos. Anspieltipps: das becircende “Doone Doone” und das kompakt-hymnische “Bishtar Behand”.
Die heutige Veröffenrlichung von Liraz‘ Album fällt in eine Zeit, in der sich der Iran aufbäumt: Nach dem gewaltsamen Tod der in polizeilichem Gewahrsam gestorbenen Mahsa Amini weiten sich die Proteste gegen das Regime im Iran durch alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen aus. Der Sänger Shervin Hajipour hat der Bewegung mit seinem Song „Baraye“ eine Hymne geschrieben, ihr Text besteht aus Tweets, in denen Demonstrierende ihre Beweggründe erklären. Hajipour wurde vorgeworfen, er würde Aufruhr stiften, er war vorübergehend in Haft, momentan ist er auf Kaution frei, seine Zukunft ungewiss.