Sommerliches nah-fern-östliches Doppel

Tania Saleh
Fragile
(Alter K)

Kengo Saito – Japanistan Trio
Douce Errance
(Felmay/Galileo)

Die libanesische Singer/Songwriterin, Designerin und bildende Künstlerin Tania Saleh geht mit Fragile in ein schmerzhaftes Kapitel biographischer Bewältigung. Die Explosionen im Beiruter Hafen von 2020 haben ihre Existenz vernichtet, sie lebt nun im Pariser Exil. Das Album, musikalisch geschmackvoll zwischen arabischem Lied, Popsong und Bossa pendelnd, ist mit Piano, Oud, Klarinette, Flöte, dezenten Beats und Samples sanft ausgestaltet. Die Texte legen die Finger in die Wunden einer Exilanten, die sich fragt, ob die Menschheit ihrer Selbstvernichtung noch entkommen kann und will – und jeder der Clips zu den Songs ist ein kleines Meisterwerk. Anspieltipp sind das flüchtig dahinfliegende „Hashara“ und das wehmutsvolle „Matrah“.

Ein Japaner studierte indische und afghanische Musik in Paris: Das ist der ungewöhnliche biographische Hintergrund des Japanistan Trios mit seinem Kopf Kengo Saito. Douce Errance spiegelt die erstaunliche Begegnung wider: Die fernöstliche Bambusflöte Shakuhachi entfaltet ihre schweifende Melancholie zu den dornigen Riffs der Schalenhalslaute Rubâb. Mal verliert man sich in einem freien, Zen-artigen Gemälde wie „Fuyu No Hikari“, dann wieder weht orientalische Süße in „Amar Amar“ hinein. Die persische Tombak und Daf passen die Gegenpole in ordnende Beats ein, treten auch mal wirbelnd hervor. Und zum Ende eine etwas staksige, aber dennoch entdeckenswerte Adaption einer Bach‘schen Polonaise.

© Stefan Franzen

Tania Saleh: „Ghasseel Dmegh“
Quelle: youtube

Kengo Saito – Japanistan Trio: „Fuyu No Jikari“
Quelle: youtube

 

 

Zwischen Himmel und Erde

Foto: Gian Marco Castelberg

Wenn es um die Erneuerung der Innerschweizer Geigentradition geht, ist der Nidwaldner Musiker Andreas Gabriel Dreh- und Angelpunkt. Mit dem Trio Ambäck hat er an der Seite von Schwyzerörgeli-Spieler Markus Flückiger und Bassist Pirmin Huber ein viertes Album vorgelegt, das die aus der Innerschweiz heraus entwickelte, moderne Volksmusiksprache noch einmal verfeinert hat.

Über den „Wolkenbödeler“ habe ich mich mit Andreas Gabriel in Luzern unterhalten. SRF 2 Kultur strahlt in der Sendung Jazz & World aktuell am 2.9.2025 ab 20h meinen Beitrag aus.

Ambäck live!:
Kulturelle Vereinigung Brienz, 26.09.
Klangfestival Toggenburg, 27.09.

Ambaeck: „Schreberschottisch“ (live)
Quelle: youtube

Sommerliches Afro-Doppel

Kokoroko
Tuff Times Never Last
(Brownswood Recordings)

Santrofi
Making Moves
(Outhere/Indigo)

Vom bislang gepflegten Afrobeat krass auf Distanz geht dagegen das Londoner Septett Kokoroko auf seinem zweiten Werk. Tuff Times Never Last verführt gleich am Anfang in „Never Lost“ mit sommerlich-souliger, entspannter Süße im Bläsersatz. „Closer To Me“ könnte fast aus der Werkstatt von Brasil-Sunnyboy Marcos Valle kommen, plus einem Spritzer Neo-R&B. In „My Father In Heaven“ grüßt die Balladenharmonik von Stevie Wonder. Afrobeat-Atem strömt noch aus „Three Piece Suit“, wird aber durchs sanfte Falsett des Nigerianers Azekel sehr gemildert, und auf die Vocals in „Just Can’t Wait“, die mit smoothen Slap-Bass-Läufen und gluckernden Gitarrenriffs garniert sind, könnte Smokey Robinson neidisch werden. Eine großartige Platte, auf der sich goldenes Sonnenlicht von London über Lagos bis nach Rio und Detroit wölbt.

Ghanas Highlife-Innovatoren Santrofi bleiben mit Making Moves auf Kurs, das „Nationalgenre“ ihres Landes zu modernisieren. Das tönt ganz unterschiedlich: Einmal schwelgen sie in der leicht melancholischen Palmwine-Musik, tunen sie aber ein paar Geschwindigkeitsumdrehungen hoch („Su Nkwa“). Dann wieder brechen sie einen lässigen Afro-Disco-Funk vom Zaun, der sich auf die Reime eines Kinderspiels beruft („Gyae Me How“). Und mit Hip Hop-Sensibilität geht es in das Titelstück, das mit junger Unterstützung aus der Rap-Ecke gewürzt wird. Traumhaft schön ist auch der süffige Bläsersatz, der sich mit der Patina der 1960er ummantelt. Diese Jungs setzen ein markantes Signal gegen die Synthetisierung afrikanischer Popmusik.

© Stefan Franzen

Kokoroko: „Just Can’t Wait“
Quelle: youtube

Santrofi: „Gyae Me How“
Quelle: youtube

Sommerliches Brasilien-Doppel

Adrian Younge & Ali Shaheed Muhammad with Dom Salvador
Jazz Is Dead 24
(Jazz Is Dead)

Samantha Schmuetz & Adrian Younge

Samantha & Adrian
(Linear Labs)

Mit zwei brasilianischen Strikes melden sich die Schwesternlabels Jazz Is Dead und Linear Labs in diesem Sommer: Zum einen hat sich Altmeister Dom Salvador in die L.A.-Studios von Adrian Younge begeben. Seit den 1960ern Musiker bei Prominenz wie Elis Regina und Jorge Ben, später Pionierverschmelzer von Jazz, Soul und Funk, kann man es kaum glauben, dass da ein Mittachtziger an den Tasten sitzt. Younge bringt Salvadors ikonisches Spiel nochmals auf eine ganz geräumige Leinwand. Beschwörende Unisono-Chöre, raue Horns, eine gleißende Streichersektion und tolle Einzeltäter an Flöte, Sax und Gitarre schaffen eine fantastische Kulisse für den Pianisten. Das Spektrum reicht dabei vom schwitzigen Funk-Kracher „Electricidade“ bis zur nostalgischen Erleuchtung von „As Estaco“.

Comedienne, Musical-Star, Schauspielerin – die Brasilianerin Samantha Schmütz hat ein kunterbuntes Portfolio. Dass Adrian Younge sie nun für die Kollaboration „Samantha & Adrian“ geladen hat, mag überraschen, aber die Stimme der Vielgesichtigen, die kürzlich auch mit Artur Verocai auf Tour war, entpuppt sich in diesem Kontext als Glücksfall. Ihr helles, ungekünsteltes Timbre behauptet sich in Younges quicklebendigem Universum aus Vintage-Keyboards, Streicher-Erotik, relaxtem Sambasoul- und Bossa-Feeling – und in einem Glanzmoment wie „Revoada“ kommt tatsächlich ein wenig Reminiszenz an Elis Regina auf.

© Stefan Franzen

Dom Salvador: „Os Ancestrias“
Quelle: youtube

Samantha Schmütz & Adrian Younge: „Nossa Cor“
Quelle: youtube

SWR Musikstunde – Helvetische Horizonte

SWR Musikstunde
Helvetische Horizonte – Musik der Schweizer Metropolen
28.07. – 01.08.2025, 9h05 – 10h

von Stefan Franzen

Die Schweiz – musikalisch nur ein Land der Berge? Allzu oft richten wir unsere Ohren nur auf die Alpenklänge. Dabei beherbergen unsere eidgenössischen Nachbarn in ihren Städten weltgewandte und urbane Klangschätze, die genauso eigentümlich wie einzigartig, traditionsbewusst wie avantgardistisch sind. Beim Ausflug in fünf Schweizer Städte und ihre unmittelbare Umgebung stoßen wir auf große Kompositionen der Musikgeschichte zwischen Renaissance und Moderne, auf espritvolle Mundart-Chansons, eine quicklebendige Jazz-Szene und originelle Rock- und Pop-Perlen.

Lo & Leduc feat. To Athena: „Us Emene Lääre Gygechaschte“
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Frischestes Licht

Sílvia Pérez Cruz & Salvador Sobral
Sílvia & Salvador
(Warner Music International)

Zwei der ganz Großen der Iberischen Halbinsel treffen sich zum Duo-Gipfel: Er, langjähriger Fan seiner Partnerin, hat die portugiesische Musik für den Indie-Pop und den Chanson geöffnet (und vor Uhrzeiten einmal den ESC gewonnen…). Sie, zweifelsohne die derzeitig unangefochtene Queen der katalanischen Musik, hat schon lange ein Faible für lusophone Töne, während er seit seinem Studium in Barcelona eine Verankerung in der Region hat. Sílvia Pérez Cruz und Salvador Sobral: Hier kann man nur die höchsten Erwartungen an hohe Liedkunst haben, und sie werden auch erfüllt, mit zarten Flügelschlägen aller Facetten der Música Latina, die die beiden mit befreundeten Song- und Verseschmieden zum Leben erwecken.

„Ben Poca Cosa Tens“, ein Trostpflaster für alle, die Abschied nehmen mussten von einem geliebten Menschen, mit Versen des Dichters Miquel Martí i Pol, schwingt sich in melodieseligen Terzen zu einer bewegenden, wunden Klimax auf, dann, wenn neues Leben durch „llum fresquíssima“, frischestes Licht, einfließt. Dann regieren die Dreiertakte: Ein Wehmutswalzer von Jorge Drexler wird angestimmt, im fragilen 3/4 wird in „Hoje Já Não É Tarde“ von Sobrals Schwester Luisa Fado schwebend sublimiert. Spielerisch flink mit Musette-Reminiszenzen kommt „L’Amour Reprend Ses Droits“ daher , das Sobrals Frau Jenna Thiam beigesteuert hat. Und ganz ohne Cheesyness gelingt den beiden in „Someone To Sing Me To Sleep“ ein country-esques Lullaby. Einmal nur wird es etwas physischer, wenn sich in „Muerte Chiquita“ die Rumba-Färbungen Kataloniens bemerkbar machen.

Die delikate Verletzlichkeit der beiden Stimmen -Pérez Cruz oft mit ihren berühmten zitternden Schleifen, Sobral gerne in seiner typischen Falsett-Lage – ist die Hauptattraktion der Scheibe. Sie ist aber eingebettet in ein sagenhaft intimes Instrumental-Dekor: Marta Romas lyrischer Cello-Strich, Dario Barrosos unauffällige gitarristische Ausgestaltung mit kurzen romantischen Einwürfen und vielen Flageoletts, und die Banjo-, Mandolinen- und Lap Steel-Tupfer von Sebastiá Gris. Der ruhige, hymnische Schluss, fast wie eine wortlose Bruckner-Motette im Trio mit Marco Mezquidas Klavier gestaltet, gehört dem Mitgefühl mit dem Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung. Eine Platte, die ganz auf die Innigkeit zweier Stimmen gerichtet ist und die Zeiten überdauern wird.

© Stefan Franzen

Sílvia Pérez Cruz & Salvador Sobral: „Ben Poca Cosa Tens“
Quelle: youtube

Rudolstadt 2025: Nachlese in Bildern

Sechs Jahre Pause. Als ich 2019 das letzte Mal beim größten deutschen Folk- und Weltmusik-Festival war, wusste niemand, was eine Corona-Pandemie ist. Die Zahl der kriegerischen Schauplätze hat sich seitdem vermehrt, ebenso die der faschistischen Regierungen, einige davon demokratisch gewählt. Völkerrechtsverletzungen sind auch in Deutschland von höchster Ebene aus salonfähig geworden. Die Erderhitzung ist weiter fortgeschritten, was sich dieses Jahr nicht nur an den hohen Temperaturen, sondern noch konkreter bemerkbar machte: 15 Kilometer entfernt vom Festival wütete ein Waldbrand, die Sirenen der Feuerwehr waren ein ständiger Kontrapunkt zu den Konzerten.

Wo sind die Utopien der frühen 1990er,  in denen ich das damals noch junge Festival Jahr für Jahr besuchte? Die Vision von der Einen Welt hat Schrunden und Furchen bekommen, und auch das Publikum, ob hippie-esque oder bildungsbürgerlich, ist kräftig gealtert. Nachwuchsbesucherinnen und -besucher, Familien: Es gibt sie zwar, sie sind aber in der Minderzahl. Roots Music scheint in Deutschland ein schleichend aussterbendes Genre zu sein, was zum Glück nicht so krass der Fall ist in anderen europäischen Ländern wie etwa in Skandinavien und dem Baltikum, auf den Britischen Insel oder auf der Iberischen Halbinsel, wo junge Leute nicht nur auf, sondern auch vor der Bühne stehen.

Von dieser Bühne herunter wurde Völkerverständigung durch Musik immer noch vielfach beschworen, beklatscht und für vier Tage auch gepflegt. Verbrüder- und Verschwesterungen der Ethnien aus dem Gastland Mali waren spürbar, Völker, die gut miteinander auskommen, während die Fundamentalisten das Land seit 2012 mit kulturfeindlichem Terror überziehen. Eine durchschlagende Wirkung von musikalischer Verständigung aufs politische Parkett lässt sich dort wie andernorts beim besten Willen nicht feststellen. Wer am schönen und tröstlichen Glauben von Klängen als friedensstiftenden Kräften festhält, belügt sich selbst.

Trotz allem: Dass es dieses Festival, gewuppt von einem großartigen, warmherzigen, engagierten und präzise arbeitenden Team, zum 33. Mal geben durfte, in einer Umgebung, in der die Faschisten so viele Stimmen bekommen wie alle demokratischen Parteien zusammen, ist ein großes Geschenk und keine Selbstverständlichkeit. Hoffen auf eine vernünftige Politik wird während der nächsten Jahre nicht ausreichen, um diese weiter zu garantieren. Die Zivilgesellschaft ist gefragt.

Ali Bilali Soudan: Eine Tuareg-Band ohne überdrehte Desert Blues-Elektrik (alle Fotos: Stefan Franzen)

Kündete von der zeitlosen Qualität der frauendominierten, südostmalischen Wassoulou-Musik: Sadio Sidibé.

Nach Italien spannte der Ngoni-Spieler und Sänger Baba Cissoko eine bluesige Brücke.

Das Idrîsî-Ensemble unternahm den Versuch einer Rekonstruktion spätantiker Vokalmusik.

Musik aus dem Alentejo ging mit Viola Campaniça, Geige, Harmonium, Tabla eine Zwiesprache mit afghanischen Klängen ein – im Projekt Além Kabul.

Ein erster internationaler Musikstar der südmalischen Dogon-Ethnie: Petit Goro

Schon lange eine feste Größe: Ali Farkas Tourés Sohn Vieux

Seelenvolle Stimmen aus den lettischen Wäldern im Sonntagmorgen-Gottesdienst: Saucêjas

Stimmenwucht auf der Heidecksburg von Gospel bis Chanson: Ledisi

Afro-kolumbianische Tanzparty im staubigen Park: Choibá Chirimía

Lektion in tscherkessischer Historie: Svetlana Mamresheva von Jrpjej

Altmeisterin der Kalebasse: Mouneissa Tandina, Ex-Mitglied der Rail Band, mit dem Mali 70 Orkestra

Intime Seelensprache: Der Rumäne Daniel Lazar (Geige) und der Bosnier Almir Meškovic (Akkordeon)

Bajuwarisch mit Witz, Virtuosität und Innovationskraft: Maxjoseph

Seelenfutter auf der Burg


(alle Fotos © Stefan Franzen)

Ledisi & Thüringer Symphoniker Saalfeld-Rudolstadt
Heidecksburg Rudolstadt
04.07.2025

„We can’t be silent anymore“, heißt es in einer Textzeile, die sie kraftvoll in den thüringischen Nachthimmel hineinbettet. An dieser Stelle, die man am amerikanischen Nationalfeiertag natürlich bedeutungsschwanger aufladen kann, wenn man will, liegt ihr das Publikum längst zu Füßen. Ledisi Anibade Young, kurz Ledisi, zählt zu jenen Soulsängerinnen, die besonders bei uns oft unterm Radar der hochgepushten Queens hindurchgesegelt ist. Dabei lohnt es sich, ihr Werk zu erkunden: Denn da gibt es nicht nur den Grammy-Song „Anything For You“ (2020) zu entdecken, auch eine berührende Album-Hommage an Nina Simone, ein Teamwork mit Prince und nicht zuletzt ihre Rolle als Gospelsängerin im Film „Selma“. Ihre Klangsprache ist dabei in den letzten beiden Dekaden auch nicht frei von cool konfektioniertem Neo-R&B gewesen.

Ihre Stimme aber, sie ist über jeden Zweifel erhaben, und sie trägt im symphonischen Ambiente grandios. Ledisis Erfahrungen mit Orchestern reichen zurück bis ins Alter von acht Jahren, als sie mit dem Symphony Orchestra ihrer Heimat New Orleans einen ihrer ersten Auftritte absolvierte. Erprobt von Tuchfühlungen mit portugiesischen bis chinesischen Musikerinnen und Musikern erweisen sich an diesem denkwürdigen Abend die Thüringer Symphoniker Saalfeld-Rudolstadt unter Oliver Weder als Traumpaarung mit der Amerikanerin. Soul und Klassik im Epizentrum des größten deutschen Folk- und Weltmusik-Events – ein Wagnis, das nicht nur aufging, sondern zum ganz großen Highlight in der gesamten Festivalgeschichte wird.

Das liegt an einer Akteurin, die vokal an diesem 4. Juli Meisterin über alle Timbres ist: In ihren Nina Simone-Adaptionen aufrichtig earthy, waidwund in Brels „Ne Me Quitte Pas“, fast schwerelos in Harrisons „Here Comes The Sun“, mit bitterböser Raserei in „I Put A Spell On You“. Es gibt zahllose Augenblicke, die einem allein durch die physische Wucht ihrer Shouts Tränen in die Augen treiben: Wo holt sie diese Spitzentöne her, aus welcher Welt klaubt sie diese Schleifen in Aretha Franklin-verdächtigen Lagen?

Das Erhabene dieses Abends ist aber zu gleichen Teilen Beitrag eines Klangkörpers, der kongenial mit Ledisi zu atmen versteht: Die Streicher flirren und seufzen, swingen und jagen, in der Bläsersektion gibt es fulminante Dialoge mit der Protagonistin von Posaune, Sax und Trompete – und besonders von der E-Gitarre kommen mehrfach fein modellierte Interludien.

Diese Show ist ein einziges großes Glücksgefühl, da es wirklich keine Leerstellen gibt, alles wohldosiert zwischen orchestraler Bigband-Wucht und intimen Zwiesprachen balanciert. Und in diesen stilleren Momenten,  in denen Ledisi mit dem Konzertflügel von Brandon Waddles und der Rhythmussektion in hellwachem Kontakt steht, offenbart sie eine Kopfstimme, die mit ihren still leuchtenden Farben übers Soul-Fach in klassische Qualitäten hineingreift. Während Simones „Wild Is The Wind“ gehorchen ihr sogar die Glocken des Elfuhr-Schlags, die tonart- und taktgerecht einstimmen. Man wünscht sich, dass diese Frau die perverse Verbrecherclique, die ihr Land im Griff hat, mit ihrer Stimme hinwegfegen könnte – und auf einer Metaebene hat sie es auch getan.

Mit der letzten Zugabe wandelt sich die Burg zur Kirche: „Precious Lord“ setzt einen tief gospelgetränkten Schlusspunkt, der zu Ledisis Wurzeln hinab- und zugleich ins Himmlische entführt. Dann zieht sie ihre goldenen Absatzschuhe aus und schreitet barfuß in die Sommernacht. Und zum ersten Mal ist da ein Gefühl, dass Arethas verwaister Thron doch nicht für alle Zeiten leer bleiben muss.

© Stefan Franzen 

Baltisches Barcelona

Rita Payés
JazzBaltica, Timmendorfer Strand
28.06.2025

Frische 18 bis 23 Grad, ein schönes Windchen, Sonne über der Lübecker Bucht: Dieses Setting ist der paradiesische Rahmen für die JazzBaltica. Und als Überraschung am Samstagmittag ein katalanisches Quintett, das vom Jazz und Latin-Fach mit dem Programm De Camino Al Camino eine lyrische Brücke schlägt ins Songwriting.

Rita Payés heißt die Dame aus Vilassar de Mar, die zwischen einer empfindsamen Stimme und inspirierten Posaunen-Soli changiert. In Kommunkation steht sie mit einer grandiosen Band: Süffig-melodische Läufe an der Flamenco-Gitarre von ihrer Mutter Elisabeth Roma, der argentinische Bassist Horacio Fumero unterlegt wendig und dialogfreudig, Pol Battle lässt sich auch mal zu zornig-verzerrten Einlagen hinreißen, am Schlagwerk grundiert und interagiert Juan Berbin. Mediterrane Glückseligkeit an der Ostsee.

alle Fotos Stefan Franzen

Sturm des Schöpfergeists in Wien


In der Vorpfingstwoche wehte der Geist Gustav Mahlers durch Wien – mit zwei grandiosen Konzerten:

Mahlers Achte, die „Sinfonie der Tausend“, mit 350 Mitwirkenden im Musikvereinssaal:
Das Tonkünstlerorchester, unterstützt durch 3 Chöre (unter ihnen die Wiener Sängerknaben) bereitete Yutaka Sado nach 10 Jahren Wirkens in St. Pölten einen atemberaubenden Abschied.
Der Pfingsthymnus „Veni Creator Spiritus“ kombiniert mit der Schlussszene aus Goethes „Faust“: Mahlers Verbeugung vor dem glühenden, schöpferischen Sturm des Eros.

Und im Konzerthaus die Wiener Philharmoniker unter Iván Fischer und dem wunderbar warm-expressiven Alt von Tanja Ariana Baumgartner mit dem „Lied von der Erde“ – als berührendes Bekenntnis zur Vergänglichkeit des physischen Menschen im ewig sich immer wieder selbst schöpfenden Kreislauf der Natur.

Beide Konzerte sind dank ORF nachzuhören:
Mahlers „Symphonie der Tausend“ | DI | 10 06 2025 | 19:30 – oe1.ORF.at
Philharmonisches mit Iván Fischer | SO | 08 06 2025 | 11:51 – oe1.ORF.at