Radiotipp: Schweifend zwischen Afghanistan, Schweden und der Schweiz

Die in Köln aufgewachsene Sängerin Simin Tander hat in den letzten 20 Jahren eine sehr individuelle Klangsprache geformt. Nach klassischer Ausbildung entdeckte sie im Jazzstudium in den Niederlanden ihre wahre Leidenschaft. Auf der Suche nach den Wurzeln ihres früh verstorbenen Vaters, eines afghanischen Journalisten, hat sie sich die paschtunische Sprache angeeignet und verwendet Dichtung in diesem einzigartigen Idiom, lässt auch immer wieder Einflüsse aus der Volks- und Popmusik Afghanistans einfließen.

Mit einem multinationalen Quartett hat Simin Tander nun ihr fünftes Album The Wind eingespielt. Und wie der Wind schweift das Werk grenzenlos zwischen Jazz, Songwriting und den Farben Südeuropas, zwischen Indien, Afghanistan, Schweden und der Schweiz. Mit Simin Tander habe ich mich anlässlich des Album-Releases unterhalten – SRF 2 Kultur sendet am Di, 27.05. in der Sendung Jazz & World aktuell mein Porträt. Die Sendung wird am Fr, 30.05. ab 21 h wiederholt.

Jazz und World aktuell – Audio & Podcasts – SRF

Simin Tander: „Janana Sta Yama“ (live)
Quelle: youtube

Friedenstriller

Töne von Bill Evans, die den französischen Poeten und Jazzkritiker Jacques Réda zu Poesie inspirierten.
In Gedenken an einen sehr nahen Menschen, friedfertig und vogelliebend, der heute vor einem Jahr gegangen ist.

Comme ces longs rayons dorés du soir qui laissent
le monde un peu plus large et plus pur après eux,
sous le trille exalté d’une grive, je peux
m’en aller maintenant sans hâte, sans tristesse:
tout devient transparent. Même le jour épais
s’allège et par endroits brille comme une larme,
heureuse entre les cils de la nuit qui désarme.
Ni rêve ni sommeil. Plus d’attente. La paix.
(Jacques Réda)

Wie die langen goldenen Strahlen des Abends,
die die Welt ein wenig größer und ein wenig reiner
hinter sich zurücklassen,
unter dem ausgelassenen Triller einer Drossel,
kann ich jetzt fortgehen,
ohne Hast, ohne Traurigkeit:
Alles wird durchscheinend.
Sogar der dunkle Tag wird leicht,
und mancherorten glänzt er wie eine Träne,
glücklich zwischen den Wimpern der entwaffnenden Nacht.
Nicht Traum, nicht Schlaf. Kein Warten mehr. Frieden.

Bill Evans: „Peace Piece“
Quelle: youtube

Timbres in der Turnhalle

Salvador Sobral
Stadthalle Waldshut
17.05.2025

Der Tatort: eine Turnhalle in Waldshut, die eigentlich „Stadthalle“ heißt. Der Akteur: ein ehemaliger ESC-Sieger, der unweit des aktuellen ESC singt. Die Musik: feinstes portugiesisches Songwriting, garniert mit gänzlich unerwarteten Deutsch-Pop-Momenten.

Nein, als Gegenveranstaltung zum Eurovision Song Contest in Basel war das Konzert von Salvador Sobral nicht geplant, auch wenn es de facto eine ist: Denn wo am Rheinknie die überdrehte Zombie-Show ihren Lauf mit geringstem musikalischem Ertrag nimmt, zelebriert ein Ex-Gewinner 50 Kilometer weiter östlich das, worum es wirklich gehen kann in der Musik: durchdachte Songs mit pfiffigen bis berührenden Texten, elaborierte Harmonie- und Rhythmuswechsel, ungezwungene Spielfreude. Das Äußere: Ist ihm egal, Salvador Sobral trägt ein schwer geknittertes Öko-T-Shirt.

Acht Jahre nach seinem Sieg beim ESC und einer Herztransplantation ist Sobral heute einer der erstaunlichsten jungen Songwriter Europas. Wie sich bei seinem Auftritt mit – überwiegend – dem Repertoire des aktuellen Werks Timbre zeigt, hat er nicht nur die portugiesische Musik vom Fado-Klischee befreit, sondern tummelt sich auch weltgewandt in der spanischen Klangwelt, im britpoppigen Flair und im französischen Chanson, macht sich alles zu eigen. Dass das Ambiente mit einer kargen, Basketballkorb-verzierten Mehrzweckhalle und einem spärlichen Publikum aus ungefähr dreihundert Menschen (Silbersee trifft junge Portugiesinnen) nicht gerade seinen sonstigen Abendveranstaltungen entspricht, ficht ihn nicht an. Er turnt unter Zirkuszelt-Leuchtketten übermütig über die Bühne und durch den Saal, kann kraftvolle Rock-Shouts raushauen, ergeht sich aber meist im feinziselierten, sehr intonationssicheren Falsett.


Und er hat eine feine Band mitgebracht, weitaus mehr als Begleitfunktionäre: Eva Fernández doppelt mit ihrer gedeckten Stimme seine Gesangslinien, agiert im Duett „Per La Mano De Tu Voz“ als berührender Kontrapart und edelt viele Songs mit ihren Sopransax-Soli. Am Flügel brilliert Lucía Fumero mit virtuosen, einfallsreichen Flanken, Bassist André Rosinha hält das Fundament nicht nur, sondern greift mit weiten Bocksprüngen aus, Gitarrist und André Santos zelebriert glühende Riff-Finesse an der E-Gitarre, greift für das Lied über den kleinen Vogel („Canta, Passarinho“) auch mal zur ukulelenartigen Braguinha.

Allein am Piano lässt Sobral nochmals seine ESC-Ballade „Amar Pelo Dois“, anders rhythmisiert, aufleben, dreht sich dann kurz mit verschmitzt-irrem Blick zum Publikum und singt tatsächlich seine Version von „Kein Schwein ruft mich an“, wobei er das „keine Sau“ natürlich wie „canção“ ausspricht. Und frönt seiner neuen Liebe für deutsches Liedgut nochmals auf der Zugabe-Strecke mit „Küssen verboten“ von den Prinzen. Doch das größere Highlight kam zuvor: Im intimen Schummerlicht bringt er – Mundtrompete inklusive – in Zwiesprache mit Santos eine fabelhafte Version des Jazzstandards „You’ve Changed“ zum Glänzen. Großer Abend an unerwartetem Ort.

© Stefan Franzen

 

Auszeit auf Alicudi

Awa Ly
Essence & Elements
(Naive/Indigo)

Alicudi ist die kleinste und wildeste der äolischen Inseln, und Awa Ly sucht sie immer wieder auf, um Inspiration zu tanken. „Ich habe dort ein Ferienhaus an der Flanke des Vulkans, zwischen Himmel und Meer. Die Stille ist enorm, und wenn ich dort die Schönheit der Natur wahrnehme, entdecke ich auch die Ressourcen in mir.“ Alicudi gab der Franko-Senegalesin die Kraft, fernab des lärmenden Paris ein neues, von den Elementen inspiriertes Album zu entwerfen.

In vier Kapitel à drei Songs hat sie ihr drittes Werk Essence & Elements unterteilt, jedes Element ordnete sich durch scheinbar zufällige Begegnungen einem anderen Produzenten zu. „Das ist die Magie dieses Albums, ich folgte einfach dem Flow des Lebens“, sagt Ly. „Auf Alicudi sah ich zum Beispiel eine Doku über Nicolas Repac, wie er mit ungewöhnlichen Perkussionsinstrumenten eine Klangwelt zwischen Okzident, Orient und Westafrika schuf, auf die sich kein Etikett kleben lässt. Genau dieser universelle Sound schwebte mir vor, ihm ordnete ich die ‚Erde‘-Sektion zu. Und als ich LossaPardo traf, der als Maler eigentlich nur das Cover für mein werdendes Album gestalten sollte, spielte er mir Musik aus seiner Feder vor, und in meinem Kopf gruppierte ich ihn sofort zum Wasser.“ Ähnlich organisch geschah es bei der „feurigen“ Electro-Künstlerin Léonie Pernet, und bei der für die Luft zuständige Londonerin R&B-Produzentin Hannah V, die sie beide durch Emel Mathlouthi kennenlernte.

Essence & Elements wurde so auch eine stilistische Reise von einer anfänglich jazzy Grundstimmung über Afro-Folk und Soul hin zu einem elektronischen Finale, die aber immer durch den Multiinstrumentalisten Polérik Rouvière homogen zusammengehalten wird. Textlich geht es auf Englisch, Französisch und Wolof oft bildhaft um die Wechselwirkung unseres Lebens mit Erde, Wasser, Luft und Feuer, aber auch mal ganz konkret um die Gleichgültigkeit gegenüber dem ökologischen Kollaps des Planeten. Und letztlich auch um die Quelle des Seins: „Die ‚Essenz‘ im Titel und in der ersten Single des Albums bedeutet für mich: der ewige Teil von uns, der unendliche, lichtvolle. Das ist unser wahres Ich, und es verweist darauf, dass wir alle vom gleichen Ort abstammen.“

© Stefan Franzen

Awa Ly: „My Essence“
Quelle: youtube

Aufbruch der Dogon

Petit Goro
Dogon-Blues from Mali
(Trikont/Indigo)

Mali ist ja nun wahrlich keine unbekannte Variable in den Weltmusikgleichungen der letzten 30 Jahre. Trotzdem birgt das Land der vielen Ethnien immer noch Überraschungen. Die Musik der Dogon im Südosten galt mit ihren unergründlichen Mythen als bisher eher unzugänglich, als Ressort der Feldforscher und Völkerkundler, die stundenlange Doku-Filme über sie gedreht haben. Mit Petit Goro hat sich in den letzten Jahren aber ein Vertreter der Dogon aus auf den Weg nach Bamako gemacht, um die rituelle Musik seines Volkes in einen Bandkontext zu übertragen – und die Kultur, die von Dschihadisten gepiesackt wird, vor dem Untergang zu bewahren.

Das Album Dogon-Blues From Mali ist das Resultat. Auf den ersten Höreindruck klingen die zehn Tracks mit ihrer fünftönigen Struktur nach einer Kreuzung aus Wassoulou-Musik, Wüstenblues und frühen Habib Koité-Songs, allerdings sind die Rhythmen erheblich widerspenstiger, geradezu „stotternd“. Dazu tritt der fremde Klang der Dogon-Sprache. Die Vocals besitzen eine eigenartige, unreine Melancholie, in den schnelleren Stücken haben sie einen Hauch beschwörenden Charakters. Eine wie durch eine alte Telefonleitung schnarrende Fiedel schleicht sich hinein, sie ergeht sich auch mal im flinken Pizzicato. Schließlich treibt eine unorthodoxe, sehr synkopische Gitarrenarbeit quer, die sich mit dem harten Bass verbündet.

Eine dornenreiche, trockene, nichts beschönigende Savannen-Musik, so schroff wie die Abbruchkante der Felsen, an denen die Dogon siedeln. In diesem Sommer ist Petit Goro unter anderem beim Rudolstadt Festival zu erleben.

© Stefan Franzen

Petit Goro: „Gnonwon“
Quelle: youtube

Goodbye Andy, Goodbye Nana


Zweimal mussten wir in den vergangenen Tagen von herausragenden Stimmen Abschied nehmen.

Am 26.4. verstarb der großartige Andy Bey, der mit seinem profunden, zärtlichen, weichen Timbre für mich immer eine Ausnahmestellung im US-Jazz hatte, aber auch stets weit über das Genre hinaussang, mit indischen, kubanischen, brasilianischen Einflüssen. Ich erinnere mich an ein berührendes Konzert vor sicherlich 20 Jahren im Jazzhaus Freiburg und an sein Stück „Planet Birth“ des Freiburger Duos Intuit, für das ich den Text schreiben durfte. Ins Licht begleiten möchte ich diesen großartigen, warmherzigen Künstler mit seiner Adaption von „O Cantador“ aus der Feder des Brasilianers Dori Caymmi.

Andy Bey: „Like A Lover“ (O Cantador)
Quelle: youtube

Und auch der Caymmi-Klan hat einen Verlust zu beklagen. Doris Schwester Nana, in den 1960ern schon Partnerin von Antônio Carlos Jobim und Gilberto Gil, später Interpretin aller großen Songwriter der Música Popular Brasileira, ist am 1.5. gegangen. Von ihr gibt es das gleiche Stück in der Version auf Portugiesisch, sie hat es schon 1967 beim 3. Festival Internacional da Canção interpretiert.

Nana Caymmi: „O Cantador“
Quelle: youtube

Le Parfum de Muguet

Als der Zweite Weltkrieg vorüber ist, lebt Paris wieder befreit auf. Neue Parfums und neue Namen von Duftkomponisten etablieren sich: Der bestimmende Geruch des Frühlings 1956 sind in Paris die Maiglöckchen. Christian Dior liebt sie über alles und so komponiert er seinen berühmten Duft „Diorissimo“, in dem die Muguets, so der französische Name, eine Liaison eingehen mit den nun sehr beliebten frischen, grünen, grasigen Noten.

Osmothèque de Versailles, Fotos: Stefan Franzen

Das scheint auch auf die Musik abgefärbt zu haben, denn in jenem Jahr schreibt Charles Aznavour sein Chanson „J’Aime Paris Au Mois De Mai“, „Ich liebe Paris im Mai“ – und in dieser überschwänglichen Frühlingshymne an die Stadt darf die ausdrückliche Nennung der Maiglöckchen nicht fehlen.

Charles Aznavour: „J’aime Paris Au Mois De Mai“
Quelle: youtube

Bruderseelen

Matthieu & Camille Saglio
Al Alba
(ACT/edel)

Ich freue mich sehr, dass der von mir überaus geschätzte Cellist Matthieu Saglio, der mich noch Mitte März auf meiner kleinen „Ohren auf Weltreise“-Tour begleitet hat, sein neues Album Al Alba herausbringt. Es ist eine Gemeinschaftsarbeit mit seinem Bruder, dem Sänger Camille Saglio, und zusammen erschaffen sie eine imaginäre Welt zwischen mediterranem und arabischem, afrikanischem und barockem Klangraum, Fantasiesprache inklusive.

Über dieses Werk zweier verwandter Bruderseelen habe ich mit Matthieu gesprochen, meinen Beitrag sendet SRF 2 Kultur am Dienstag, den 29.04. ab 20h in der Sendung Jazz & World aktuell mit Moderator Roman Hosek. (Wiederholung am Freitag, den 2.5. ab 21h)

Im Quartett wird Matthieu auf dem Offbeat Festival Basel in der Gare de Nord in einem Doppelkonzert mit dem Trio des menorquinischen Bassisten Marco Mezquida zu hören sein: Offbeat Concert | Matthieu Saglio Quartet; Marco Mezquida Trio.

Camille & Matthieu Saglio: „Iberian Ballad“
Quelle: youtube

Portugiesische Utopie

Zum 51. Tag der Nelkenrevolution teile ich das 1983 veröffentlichte Lied des portugiesischen Liedermachers José Afonso, „Utopia“. Es stammt vom späten Album Como Se Fora Seu Filho, das gerade vom Label Mais 5 neu abgemischt wurde.

Es sind Lieder wie diese, die wir brauchen in einer Zeit der Perspektivlosigkeit, zwei Wochen vor dem Amtsantritt einer neuen Regierung, die der globalen Metakrise keinerlei Mut machende Visionen entgegensetzt, die Klimakatastrophe ignoriert, Ressentiments gegen Migrantinnen und Migranten schürt, und deren Vertreter eine „Normalität“ im Umgang mit den Nazis im Parlament fordert, die mittlerweile von jedem vierten Wählenden unterstützt werden.

Es wird nicht so sehr entscheidend sein während der nächsten zwei bis vier Jahre, wie viele sich aktiv für die Zerstörer der Demokratie aussprechen, sondern wie viele sie schweigend gewähren lassen. Wir müssen alle den Mund aufmachen, weiterkämpfen dafür, dass „das starke und gerechte Wort nicht verleugnet“ wird.

Stadt, ohne Mauern und Zinnen
ihre Menschen innen und außen gleich,
wo das Blattwerk der Palme 
das Mauerwerk streichelt
Stadt des Menschen
nicht des Wolfes, sondern des Bruders,
Hauptstadt der Freude

Arm, der schläft,
umarmt vom Fluss
nimm die Frucht deiner Erde,
du schuldest sie dir selbst,
nimm die Herausforderung an

Mensch, der du in Augen blickst, 
der du das Lächeln, das starke und gerechte Wort nicht verleugnest
Mensch, den das alles nichts kostet
Könnte es denn sein, dass es dort, im Osten,
diesen Fluss, diesen Weg, diese Möwe
auf meinem Weg gibt?

José Afonso: „Utopia“
Quelle: youtube

(he)artstrings #31: Der Maler und die Ewigkeit


Sandy Denny: „No End“
(aus: Like An Old Fashioned Waltz, Island 1973)

Am 21. April 1978 verstarb eine der größten Songwriterinnen Englands viel zu jung, mit gerade einmal 31 Jahren. Seit meiner Studienzeit haben mich ihre Lieder begleitet, und immer in Phasen von Verzweiflung und Verlust hat sich ihre Musik wie eine heilende Essenz um meine Seele gelegt.

Sandys Musik ist zeitlos und wirkt in erstaunlichen Ausprägungen immer weiter: So hat die Freiburger Musikerin Carla Fuchs ihre Songs nicht nur gecovert, sondern 2023 auch unveröffentlichte Gedichte aus dem Fundus von Tochter Georgia zu einem großartigen Album namens Songbird weitergesponnen, das ich nicht nur Denny-Fans wärmstens ans Herz lege.

Heute, zum 47. Todestag von Sandy Denny, teile ich einen ihrer größten Songs mit euch, der aber fast nie gespielt wird und nicht unter ihren „Hits“ rangiert. „No End“ stammt von ihrem dritten Solo-Album Like An Old Fashioned Waltz und wird von den fantastischen Orchesterarrangements von Harry Robinson getragen.

Why don’t you have any brushes any more, I used to like your style
I see no paintings anywhere and there’s no smell of turpentine
Did I really have no meaning? Well I never thought I’d hear those words from you
Who needs a meaning anyway, I’d settle anyday for a very fine view
(…)
Cuno Amiet: Der Maler (1959)
The day and then the night have gone, it was not long before the dawn
And the travelling man who sat so stiffly in his chair began to yawn
Having kept me here so long my friend, I hope you have a sleeping place to lend
But the painter he just smiled and said: I’ll see you in a while, this one has no end
Sandy Denny: „No End“
Quelle: youtube