Mit drei in rascher Folge erschienenen Alben hat sich Portugals Shootingstar einen festen Platz in der jungen Fadoszene gesichert, bevor sie sich 2016 auch mit Jobim-Interpretationen auf Brasilianisches eingelassen hat. Die Rückkehr zum Fado auf Album Nummer fünf geschieht nun unter veränderten Vorzeichen. Carminho präsentiert auf „Maria“ (Warner) etliche Eigenkompositionen, die dem klassischen Klang des Genres eigene Feinheiten hinzufügen. Wie sie es auch gerne in Liveshows handhabt, interpretiert sie einen Fado a cappella – ein grandioser Streich, mit dem sie die souveräne Expressivität ihrer Stimme gleich zum Auftakt untermauert. In der Folge wechseln „konservative“ Fado-Besetzung im Quartett mit einer freien Sprache ab, die das strenge harmonische Korsett des portugiesischen Nationalgenres verlässt.
„O Menino E A Cidade“ ist so ein Highlight, auf dem die guitarra portuguesa durch eine Schicksalsballade für einen Stadtjungen leitet. In „As Rosas“ lässt sie sich im fast romantisch-liedhaften Sinn nur vom Piano begleiten. Am weitesten von der Schwerkraft des Fados entfernt sich Carminho in „Estrela“, wenn sie erstmals in ihrem Repertoire überhaupt zur E-Gitarre greift und eine nackte Indierock-Ballade in ihrer ureigenen Machart erschafft. „Pop Fado“ transferiert die fröhlichen und tänzerischen Farben des Fadorepertoires auf eine genauso elektrifizierte Besetzung. Und eine grandiose Dramaturgie wohnt in „ A Mulher Vento“, ein Reverenz an die weibliche Stimme als Naturkraft. Carminhos Weg von der Fadista zur Songwriterin erzeugt kein Entweder-Oder, vielmehr bringt sie beide Facetten erstmalig überzeugend unter ein Dach.
Gestern Abend ist im Alter von 81 Jahren die großartige US-amerikanische Sängerin Nancy Wilson gegangen. Mit eleganter Stilsicherheit, souveränem Gespür für den richtigen Song und mit genauso erhabener wie neckischer dunkler Wärme hat sie die durchlässigen Linien zwischen Jazz, Soul und Pop Jahrzehnte lang gekreuzt. Wohl nie hat eine Vokalistin die betrogene Frau mit so überzeugender Geste gesungen wie sie in ihrer Interpretation des Standards „Guess Who I Saw Today“ vom frühen Capitol-Album Something Wonderful (1960).
Nancy Wilson: „Guess Who I Saw Today“ Quelle: youtube
Es ist ein leichtfüßiges Thema mit jubilierenden Kapriolen, mit dem die Musiker von der Bühne gehen. Gerade hat Yumi Ito mit ihrem 11-köpfigen Orchester das Konzert in der Reihe „Jazz ohne Stress“ am Freiburger Waldsee beendet und schenkt den Zuhörern diese Melodie für den Gang hinaus in die kalte Winternacht.
Die 28-jährige Schweizerin mit japanischen und polnischen Wurzeln hat im vergangenen Jahr am Jazzcampus Basel ihren Masterabschluss gemacht und gilt zurecht als Newcomerin mit hohem Potenzial, in Montreux konnte sie auch einen Juror namens Al Jarreau überzeugen. In verschiedensten Projekten von experimenteller Duobesetzung über Quartett bis zu ihrem Orchester erprobt sie ihre Talente als Sängerin, Pianistin, Improvisatorin und Komponistin, die ihre Arrangements selbst schreibt. Mit dem auf allen Positionen glänzend besetzten Orchester, junge Musiker aus sieben europäischen Ländern, bündelt sie all diese Qualitäten.
Lange wird man suchen müssen, um bei Arrangeurinnen ihrer Altersklasse auf vergleichbare Raffinesse in der Textur zu stoßen – und das sorgt für eine äußerst spannende, kurzweilige Stunde. Die originelle Besetzung der „Bigband“ tut ihr Übriges: Denn aus dem Jazz ist nur die Rhythmussektion und ein gemischter Bläsersatz (Sax, Bassklarinette, Flöten) übriggeblieben, drum herum agieren ein Streichtrio, Vibraphon und Harfe – das öffnet einen ungewohnten, überraschenden Klangfarbkasten.
Da entfaltet sich nach freiem Einstieg in der „Ballad For The Unknown“ aus Streichern und Flöte heraus ein großer elegischer Atem, in dem eine Vibraphon-Impro Platz hat. Kleinzellige Dialoge zwischen Pizzicati, Sax und Harfengirlanden wechseln im Anschlusssong die Seiten, während Ito mit fantasievollem Scat ihren Sopran lyrisch auskostet. Von chromatischen Verdickungen und Trübungen lebt „Little Things“, das zuvor noch mit einer hüpfenden, vogelgleichen Melodie anfing. Und dann ein Exotikum: Das intim besetzte „Komori Uta“ lockt mit Flöte und Harfe auf eine Debussy-Fährte, die in einen fernöstlich-folkigen Walzer übergeht. Doch das Lullaby mündet in eine lautmalerisch-experimentelle Spielwiese, auf der Ito auch in tiefe Stimmenregister souverän abtaucht.
Wie sie Komplexität mit Unbeschwertheit paart, dafür ist „Old Redwood Tree“ ein Paradebeispiel: ein Stück im Dreizehnachtel-Takt, das sich dramaturgisch von glasigen Spielfiguren über Liegetöne der Streicher bis zu polternden Drums aufbauscht und doch stets an einen Gang durch die Natur erinnert. Und Yumi Ito beherrscht auch die Popsprache: „Stardust Crystals“ könnte mit seinem gemessenen, „nordischen“ Gesangsgestus und seinem eingängigen Lamento-Charakter auch eine frühe Ballade von Björk sein.
Noch einmal herausgerissen aus der Melancholie wird das Publikum mit einer nokturnen Tour durch Prag – eine gruselhaft-groteske Schauermär mit zähen Streichern, fahler Flöte und katzenartigen Vocals, bei der an jeder Straßenecke neuer Spuk lauert. Mit relaxt pendelnder Harfe wird dann die Zugabe eingeläutet – und das eingangs erwähnte Kapriolenthema gewinnt Raum. Allein schon dieser Melodie wegen kann man sich auf die 2019 erscheinende CD des Yumi Ito Orchestras freuen.
Stefan Franzen erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 13.12.2018
Great Lake Swimmers The Waves, The Wake (Nettwerk)
Unter Kanadas Indierock-Bands sind sie die meditativsten. Seit 15 Jahren suchen die Great Lake Swimmers um Sänger Tony Dekker ungewöhnliche Orte auf, um ihre von Naturbildern geprägten Songs einzuspielen. Auch auf ihrem siebten Werk The Waves, The Wake, das Dekker und Co in einer alten Kirche in London, Ontario aufnahmen, bleibt die Klangphilosophie introspektiv. Feinfühlig bauen sie die transparenten Texturen in Hall-verliebten Arrangements auf, zur fragilen Kopfstimme und dem Falsett-Satzgesang gesellen sich ungewöhnliche Instrumente.
Im lyrischen Opener „The Talking Wind“ ist das ein ganzes Klarinettenensemble, in „Falling Apart“ umwinden sich Piano und Harfe. Celli treten im trabenden „Root Systems“ mit den Vocals in Dialog, „Holding Nothing Back“ schichtet ein Gespinst aus Marimba- und Vibraphonen. Am Ende wächst in „The Open Sea“ eine gewaltige Ton-Kathedrale in den Himmel. Großartige Klanglandschaften von den kanadischen Brüdern der amerikanischen Fleet Foxes.
Ein Gespenst namens „Brexit“ schwebte an diesem Abend immer mit im Saal. Denn gerade wer Folk von den Britischen Inseln lauscht, erkennt schmerzlich, dass in diesem Genre Festlandeuropa nun mal nicht annähernd so starke Stimmen zu bieten hat. Und im Falle eines Austritts der Insel aus dem EU-Gefüge – mit dem ganzen Rattenschwanz der zu befürchtenden erschwerten Bedingungen für tourende Künstler abseits des Mainstreams gingen wir dieses bei uns nicht vorhandenen Reichtums – vermutlich bitterlich verlustig.
Doch genug des Politisierens: Josienne Clarke und Ben Walker sind ein famoses Duo aus London, die in diesem Sommer schon für Robert Plant beim Stimmen-Festival eröffneten, auf dem großen Marktplatz Lörrach mit ihrer filigranen Show aber weitestgehend untergingen. Im intimen Bogen F, einem schönen Musikclub, der in das Viadukt im Zürcher Kreis 5 eingebaut wurde, kamen ihre Talente weit besser zur Geltung. Von beginn an ist es Clarkes kräftiger Sopran, der gefangen nimmt und der stilistisch überhaupt nicht festgelegt ist: Den Opener „Reynardine“, der vor 45 Jahren auch schon aus der Kehle von Sandy Denny drang, hat man in diesem Kontext erwartet, nicht aber ein Lied von Edward Elgar, das von Ben Walker mit allen klassischen Raffinessen begleitet wird. Walker erweist sich im Verlauf des Abends auch als geschmackssicher an der Stromgitarre, die er mit folkigem Flow und eigenwilliger Technik zupft. Für „Little Sparrow“, eine Reverenz an Dolly Parton, wird die Rhythmusmaschine angeworfen, ein kleines, fast unnötiges Zugeständnis an die Generation HipHop. Unter den Originalkompositionen sticht „Chicago“ heraus – eine zwischen Selbstmitleid und Ironie schwankende Anekdote über ein Konzert der beiden, zu dem tatsächlich kein einziger Zuschauer kam.
Davon kann an diesem Abend keine Rede sein, der Club unter dem Steingewölbe ist für einen Mittwochabend gut gefüllt, was auch John Smith verblüfft anmerkt. Er habe gerade zwei Tage mit Erkältung im Bett gelegen, gesteht der rotbärtige Dreißiger, der mit seiner Aura wie ein rustikaler Bursche aus dem alten England anmutet, doch man merkt ihm eine etwaige Indisposition in keinem Takt an. Denn seine aufgeraute und zugleich unglaublich seelenvolle Baritonstimme resoniert voll und warm in den Eingeweiden. Smith kann jedoch auch mit dem Pfund seines Gitarrenspiels wuchern, ein Open Tuning-Monster, das als Partner für seine Vocals grandios funktioniert, sich in einem eigenen melodischen Fluss windet und ab und an auch etwas bluesig ausschert. Smith, der viele Songs seiner beiden letzten Alben Headlong und Hummingbird bringt, ist ein Meister der waidwunden Liebeslieder wie „Hares On The Mountain“ oder „Joanna“. Und er hat einen wunderbaren Bühnenhumor, baut nach einem Publikumsnieser synkopisch ein „Gesundheit!“ ein, will in seinen „Perfect Storm“ mit dem donnernde Tram auf der Trasse über seinem Kopf in Dialog treten – auch wenn ihm das Vehikel diesen Gefallen nicht tut. Dieser Mann mit dem englischen Allerweltsnamen aber mit einem gesegneten Ausnahmekönnen scheint nur scheinbar aus der Zeit gefallen. Im Grunde repräsentiert er das, was zeitlos ist: die poetische Kraft, die aus dem Herzbeben kommt – und die überdauert alle politische Erschütterungen.
Dina El Wedidi Manam – Slumber (Kirkelig Kulturverksted, 2018)
Während der Demonstrationen auf Kairos Tahrir-Platz war sie eine der wichtigsten Sängerinnen. Nach ihrem Album Turning Back und ihrer Mitwirkung beim Nile Project hat sich Dina El Wedidi nun auf experimentelle Pfade begeben: Manam / Slumber ist eine 30-minütige Suite, die sie ausschließlich aus Geräuschen von ägyptischen Zügen und Bahnhöfen gebaut hat.
Dina El Wedidi sitzt in einem Pariser Hotelzimmer, von draußen dringen Klopf- und Bohrgeräusche einer Baustelle herein. Der Werkstattcharakter der Umgebung passt eigentlich gut, um über ihr neues Werk zu sprechen. Manam hat sie es genannt, Slumber (Schlummer), und die sieben Kapitel bestehen tatsächlich ausschließlich aus Sounds der Eisenbahn und ihrer Stimme. Man würde dieses Thema eigentlich als typisch männliche Domäne ansehen. Wie kommt eine junge Frau damit in Berührung?
„Auf meinem Album Turning Back habe ich eine neuartige Fusion mit Folk-Stilen versucht und dabei mit etlichen Musikern zusammengearbeitet“, sagt El Wedidi. „Doch jetzt war ich neugierig auf das Thema Sounddesign, ich wollte meine Fähigkeiten erweitern, nicht nur Musikerin, sondern auch Produzentin sein. Die Idee zu Slumber ist durch einen Freund ausgelöst worden, der für ein Website-Archiv Geräusche der ägyptischen Eisenbahn benötigte. Als ich diese für ihn sammelte, entdeckte ich schnell, wie vielfältig diese Sounds sind. Zu der Zeit beschäftigte ich mich auch mit Zeitmaschinen, und der Zug wurde für mich zu etwas, das symbolisch mit der Zeit verbunden ist.“
Etliche prominente Beispiele kommen einem in den Sinn, wenn es um die Verwendung von Zuggeräuschen in der Musik geht: Etwa Kraftwerks Trans Europa Express, Björks Soundtrack zu „Dancer In The Dark“ oder das Werk „Different Trains“ des Minimal Music-Protagonisten Steve Reich. El Wedidi hat besonders von Reich Inspirationen aufgegriffen. Doch sie ging weiter: „Für mich war die Frage: Wie kann ich den Zug zum Hauptakteur machen, wie die Melodien, Harmonien und Rhythmen finden? Es brauchte eine ganze Zeit, um den Zug zum Instrument zu formen.“
Unterstützt hat sie der deutsch-amerikanische Soundingenieur Brian Smith, der sie mit der Software Ableton vertraut machte. Und so wuchs aus der Geräuschkollektion bald eine fantastische, elektronische Eisenbahnsymphonie. Manchmal lassen sich in den langen, elegischen Tönen die Sirenen der Lokomotiven nur noch erahnen, das Rattern der Rhythmen nicht mehr eindeutig auf die Ursprünge auf der Schiene zurückführen. Doch dann gibt es immer wieder Stimmen von Bahnhöfen, ganz konkretes Tuten und Rumpeln, beeindruckend zu sogartigen, technoiden Rhythmen verschachtelt.
Gesammelt hat Dina El Wedidi auf der Verbindung zwischen Kairo und Alexandria sowie auf der Strecke nach Süden, in der der Zug schließlich Luxor und Assuan erreicht. „Der wichtigste Trip war derjenige im Nachtzug nach Luxor“, erinnert sie sich. „Dort im Schlafwagenabteil hört man die Zuggeräusche ganz klar, ebenso im Bummelzug nach Assuan, der statt einer Stunde auch mal sieben braucht, weil die Bahn total veraltet ist. Aber genau diese staubigen, veralteten Züge mit den spitzen, hohen Frequenzen interessierten mich.“ Es sind Geräusche, wie sie in unserem europäischen, von Hochgeschwindigkeitszügen geprägten Netz kaum noch zu hören sind.
Dina El Wedidi geht in ihrer Eisenbahnsuite aber weit über das bloße klangliche Ereignis hinaus. Slumber ist für sie auch eine Reflektion über die Spannung zwischen der Realität und dem Unterbewussten, den Zwischenräumen, die sich während einer nächtlichen Zugfahrt im Halbschlaf öffnen. Ein solcher Zustand ist im lautmalerischen Song „Headache“ eingefangen, ein Dialog zwischen der Außenwelt mit dem Zugrattern, dem Wasserverkäufer vor dem Abteil einerseits, und andererseits den Gedanken im Innern des Kopfes während einer Migräne-Attacke. „Ich meine das natürlich nicht so dramatisch, sondern durchaus mit Humor“, betont Dina El Wedidi lachend. Andere Texte sprechen von den Fesseln, die eine Heimat oder eine Liebe erzeugen können, oder den verschiedenen Zuständen des Gefangenseins, seien sie physisch oder mental.
Was auch auf Ägyptens aktuelle Situation verweist. Für mutige Künstler kann es derzeit gefährlich werden, wie sich am Beispiel des kürzlich verhafteten Poeten Galal El-Behairy gezeigt hat. „Ägypten ist ein großartiger Ort, um Ideen zu empfangen“, sagt Dina El Wedidi. „Doch ich bevorzuge es, für die Verwirklichung im Ausland zu sein, da dort mehr Inspirationen und Ereignisse auf mich einwirken. Von Zeit zu Zeit muss ich außerhalb des Landes durchatmen.“
Als ehemalige musikalische Aktivistin auf dem Tahrir ist sie sich bewusst, dass mit der heutigen Situation nicht das eingetreten ist, wovon die junge Generation einst träumte. Dennoch findet sie zuversichtliche Worte: „Wenn ich durch die Welt reise, sehe ich viele Künstler in anderen Ländern, die unter ebenso großen Problemen leiden. Zensur ist ein globales Thema geworden, in den USA und Europa genau wie in Afrika und dem Nahen Osten. Was soll man dagegen machen? Am besten, man versucht weiterhin, das zu tun, woran man glaubt. Das ist meine Rolle.“ Auf Slumber hat sie eindrucksvoll und spielerisch Freiräume ausgelotet, sich ein eigenes Zwischenreich in Wort und Klang erobert.
Gordon Lightfoot „If You Could Read My Mind“ (Gordon Lightfoot)
(aus: If You Could Read My Mind, Reprise 1970)
Zuerst gehört habe ich das Lied sicher in der deutschen Version von Daliah Lavi („Wär‘ ich ein Buch“). Danach wurde es während der Olympischen Sommerspiele von München und Montréal von der ARD als Begleitmusik zur Wahl der schönsten Sportlerin verwendet. Der Name Gordon Lightfoot sagte mir damals natürlich gar nichts, erst viel später habe ich mich mit der Biographie des Mannes befasst, dem dieser empfindsame Bariton gehört. Aber die melancholisch fließende, in sich ruhende Melodie hat mich damals so in Beschlag genommen, dass dieser Song tatsächlich zu einem der ersten Ohrwürmer meines Lebens wurde.
Gordon Lightfoot hat heute in Kanada den Status einer nationalen Legende. Die meisten seiner singenden Landsleute müssen in den 1960ern aus wirtschaftlichen Gründen in die Staaten gehen, und es gerät zu ihrem Stigma, dass viele von ihnen bis heute für Amerikaner gehalten werden. Lightfoot dagegen kehrt nach kurzem US-Intermezzo früh/bald in die Heimat zurück. Mit seiner Lesart von Country und Folk formt er einen sehr persönlichen Ton – ein Ton, der sich nie patriotisch gibt, aber das Publikum glaubt, in ihm typisch kanadische Mythen zu entdecken: Starke Naturbilder tauchen in seinen Songs auf, sie handeln vom Unterwegssein in der weiten Landschaft, von der Geschichte der Eisenbahn, dem Untergang von Schiffen, den Arbeitern auf den Wolkenkratzern. Lightfoot, der privat mit vielen Dämonen von Alkoholismus bis zu notorischer Untreue kämpft, singt auch oft über die Liebe, manchmal zynisch, nie sentimental, aber durchaus philosophisch, wie eben in „If You Could Read My Mind“.
Nach Joni Mitchell ist Gordon Lightfoot die zweite Kreativkraft aus Kanada, die diesen Monat einen runden Geburtstag feiert, und zusammen mit Joni und Leonard Cohen bildet er die Triade der größten Songwriter des Ahornstaates. Happy 80th birthday, Mr. Lightfoot!
Gordon Lightfoot: „If You Could Read My Mind“, live 1972
Quelle: youtube
M3nsa habe ich entdeckt, als ich vor acht Jahren in der ghanaischen Hauptstadt Accra recherchierte. Als die moderatere und nicht ganz so frivole Zunge des Duos Fokn Bois (die andere Hälfte ist der Paradiesvogel Wanlov the Kubolor) hat er auch immer Soloprojekte verfolgt, sowohl in Ghana als auch seinen ausländischen Wirkungsstätten. Die „3“ in seinem Namen ist im Übrigen keine Ziffer, sondern eine Spiegelung eines besonderen E-Lautes in der Sprache Twi. Genug der Smart Ass-Ausflüge. Den neuen Song hat M3nsa mit der ghanaischen Shooting Star Amaarae aufgenommen, die mit der Kombination aus Tomboy-Attitüde und Säuselstimme eine Ausnahmeerscheinung der Urban Africa-Szene sein dürfte. So wie dieser feine Titel überhaupt: kein Auto Tune, keine knalligen Rhythmusmuster und Macho-Gehabe allenfalls in selbstironischer Brechung. Und trotzdem ein Ohrwurm!
Nach der erfolgreichen Erstausgabe im Frühjahr 2017 geht das Festival „Female Voice of Iran“ vom 8. bis 11. November zum zweiten Mal in der Berliner Villa Elisabeth an den Start. In Zusammenarbeit mit der Zeitgenössischen Oper Berlin hat die persische Musikologin Yalda Yazdani in vielen Regionen des Landes nach außergewöhnlichen, jungen Frauenstimmen gesucht, die jetzt an der Spree die Vielfalt des Irans auf musikalischem Wege präsentieren. Das stilistische Spektrum reicht von Klassik über Jazz und Fusion bis Folk.
Dabei ist die arabischstämmige Sängerin Mina Deris aus dem Grenzgebiet zum Irak, und mit Sahar Zibaei ist eine Vertreterin der kurdischsprechenden Metropole Kermanshah eingeladen. Turkmenische Facetten scheinen in der Vokalkunst von Jamileh Amaniyan auf, Samin Ghorbani bringt die Farben der aserbaidschanischen Grenzregion auf die Bühne, Atefeh Moghimi aus der Provinz Mazandaran im Norden. Außerdem ist mit Maedeh Tabatabaei Niya eine Stimme aus Isfahan dabei, Aida Norat, Maliheh Moradi Haghighi und Faravaz Farvardin ergänzen das Line-Up mit der Vielfalt der Szene Teherans.
Wenige Tage später, am 17.11., präsentieren sich mit Ali Ghamsari, dem Barbat Ensemble und Mohammad Reza Mortazavi männliche Vertreter des neuen Iran in einem Dreiergipfel in der Philharmonie Köln. Im Kern des Barbat Ensembles stehen die drei Brüder Mani, Nima und Pouya Khoshravesh aus der Mazandaran-Region Nordirans. Sie sind Neffen des berühmten Sängers Abolhassan Khoshroo, und sie stehen mit ihren Instrumenten, der Flöte Ney, der Langhalslaute Setar und der Spießgeige Kamancheh in einer Jahrhunderte langen Tradition. Alle drei tragen die Eigenheiten iranischer Musik aus dieser nördlichen Region in die Welt, leben seit einigen Jahren in Paris.
Die gleiche Philosophie verfolgt Ali Ghamsari: Der 34-Jährige Teheraner ist nicht nur einer der grandiosesten Virtuosen auf der Langhalslaute Tar in seiner Altersklasse, er hat durch die Gründung mehrerer neuer Ensembles und als Komponist für die persische Klassik ein Tor ins Zeitgenössische geöffnet. Seine Arbeit reicht von der mystischen Liedtradition bis zum Streichquartett, des öfteren arbeitet er auch mit der Sängerin Haleh Seyfizadeh zusammen.
Ali Ghamsari & Haleh Seyfizadeh live, Female Voice of Iran 2017
Quelle: youtube
Mohammad Reza Mortazavi schließlich setzt den eigenwilligsten Akzent auf diesen Gipfel der iranischen Jugend: Der Schlagwerker, dem vom ZDF-Kulturmagazin „Aspekte“ „die schnellsten Hände der Welt attestiert wurden, hat für Rahmen- und Bechertrommeln dutzendweise neue Schlag- und Fingertechniken eingeführt, schafft mit seinem Spiel eine polyphone, bilderreiche Trommelsprache mit Pop-Appeal.
Im Sommer 2019 werden noch mehr Facetten dieser Aufbruchsgeneration der persischen Musik in Deutschland zu erleben sein: Beim Rudolstadt Festival vom 4. bis 7.7. heißt der Länderschwerpunkt dann Iran.