Azorisches Tribut

Am 25. April 1974 jährte sich Portugals Nelkenrevolution zum 50. Mal. In der Nacht zuvor begann die Befreiungsarmee ihre Fahrt auf Lissabon, um der längsten faschistischen Diktatur, die Europa erlebt hatte, ein Ende zu setzen. Aufbruchssignal für den Sturz der Faschisten war ein Lied, das im Radio gespielt wurde: „Grândola, Vila Morena“ aus der Feder des Liedermachers José Afonso.

Bis heute ist der politisch aktive Sänger, den man in der Heimat liebevoll „Zeca“ nennt, eine ikonische Figur der portugiesischen Geschichte. Herzstücke aus seinem reichen LP-Katalog sind in den letzten Jahren auf dem Label Mais 5 (sprich: maisch sinku) wiederveröffentlicht worden. Zum krönenden Abschluss dieser gewaltigen Unternehmung hat Mais 5 nun anlässlich des runden Jubiläums der Revolution auf Initiative von Afonsos Sohn Pedro ein besonderes Projekt aufgegleist: Man brachte Musikerinnen und Musiker aus Portugal, aus Angola, Mosambik, Asturien und von den Azoren zusammen, um Zecas Erbe ins 21. Jahrhundert weiterzutragen. Mit den „Wanderer Songs“ feiert diese pan-lusitanische Band mit einer audio-visuellen Show und auf Tonträger die Klassiker seines Schaffens – in einer komplett neuen, aufregend zeitgemäßen Tonsprache.

Warum „Wanderer Songs“?

„Er war tatsächlich immer in Bewegung, immer am Laufen, ein unruhiger Geist“, sagt Tochter Lena Afonso, die viele lebendige Erinnerungen an ihren Vater hat. „Er hat dabei das ganze Land kennengelernt, vom Norden bis zur Algarve im Süden. Deswegen sagt man in Portugal sehr häufig: Zeca: Andarilho (Wanderer) und Sänger.“ José „Zeca“ Afonso: ein Rastloser, der alle Facetten der Volksmusik seines Landes erforschte, auch in den Kolonien auf die Suche der Klangvielfalt ging, all dies in seine Lieder einfließen ließ. Und der sich auf der anderen Seite unermüdlich gegen Faschismus und für Menschlichkeit einsetzte, dieses unerschrockene Engagement mit Schikane, Zensur, Verfolgung durch die Geheimpolizei und Haft bezahlte.

All diese Facetten einer spannenden Persönlichkeit arbeitet die „Wanderer Songs“-Band heraus. Sie entwickelte neue, dem 21. Jahrhundert gemäße Versionen der Afonso-Lieder, die nun von einem kraftvollen, manchmal experimentellen Indie-Rock-Sound getragen sind, parallel hierzu afrikanische und azorische Einflüsse erkennen lassen. Nach zwei Wochen Probezeit im April 2024 trat die Band im Teatro Faialense auf der Azoren-Insel Faial auf und spielte die Songs, die Afonso auch in seinem letzten Konzert im Lissabonner Coliseu am 29. Januar 1983 vor einem enthusiastischen Publikum vortrug. Nach ihrem Debüt auf der Atlantikinsel war die Band im vergangenen Sommer bereits auf dem Rudolstadt Festival zu hören, am 22. und 23. Januar 2025 folgten umjubelte Auftritte im Mutterland, in der Casa da Música in Porto und im Teatro Tivoli BBVA in Lissabon. Jetzt gehen die „Wanderer Songs“ hinaus in die Welt.

Dies geschieht in einem Moment, in dem sich erschreckend große Teile der Welt gegen Demokratie und Humanität und für die Verbreitung von Lüge und Hass entscheiden. Mehr denn je gilt es, sich in Europa und weltweit für die Ideale von „Zeca“ Afonso und der portugiesischen Revolution einzusetzen. Diese Musik erinnert uns machtvoll daran und macht uns Mut, denn ihre Botschaft ist: Wir sind nicht ohnmächtig.


Die Musiker

Die aus Mosambik stammende Sängerin Selma Uamusse ist eine der vielseitigsten afro-portugiesischen Stimmen unserer Zeit. Ihr Aktionsradius reicht vom Jazz über viele Teamworks in der Pop- und Songwriter-Szene bis zum Theater. In ihrer Solo-Arbeit beschäftigt sie sich in zeitgenössischer Art und Weise mit ihren Wurzeln, singt in mosambikanischen Idiomen und kombiniert den Klang traditioneller Instrumente mit Elektronik.

Seit einem Jahrzehnt steht PS Lucas für eine feinsinnige Songwriting-Kunst. Der von den Azoren stammende Musiker hat dabei eine Sprache entwickelt, die vom Wechselspiel zwischen Licht und Schatten, zwischen Ozean und Land, zwischen Stille und Eruption lebt. In seinen Liedern finden sich Echos von Leonard Cohen über Nick Drake bis Georges Brassens.

Den Angolaner Nástio Mosquito kann man einen wahren Multimedia Artist nennen. Er vereint die Eigenschaften eines Sängers, Schauspielers und Moderators, arbeitet mit Klang, Video und Installationen, verknüpft als unberechenbarer, provokanter Performer Tradition mit Futurismus. Seine Shows waren bereits im New Yorker MoMA und der Londoner Tate Gallery zu sehen.

Seit den 1990ern trägt Nacho Vegas prominent zur musikalischen Independent-Bewegung der iberischen Halbinsel bei. Als Vertreter der nordspanischen Region Asturien beweist er, wie grenzübergreifend wichtig José Afonsos Arbeit war und ist. Vegas zeigt in seinen Werken eine breite Palette von Inspirationen vom spanischen Alternative-Rock bis zur chilenischen Liedermacherin Violeta Parra.

Das portugiesische Duo Lavoisier (Roberto Afonso und Patricia Relvas) folgt dem Geist des Tropicalismo der späten 1960er, der brasilianische, europäische und US-Einflüsse „fraß“, um daraus neue Klangcollagen zu gebären. Ebenso orientieren sich die beiden Musiker an der Arbeit von Michel Giacometti, der zur gleichen Zeit wie die Tropikalisten in Portugal die traditionelle Musik der Regionen dokumentierte. Aus diesen Quellen schaffen sie eine neue, unerschrockene Musik mit historischer Erdung.

Tiago Correia-Paulo komplettiert das „Wanderer Songs“-Line-Up: Der Mosambikaner ist Musical Director der Band und steuert als Multiinstrumentalist E-Gitarren, Drums und Synthesizer-Spuren bei.

 

Einige Songs

– „Balada De Outuno“: Diese „Herbstballade“ stammt aus Zeca Afonsos Frühwerk und ist im Original noch vom höfischen Ton des Fados der Stadt Coimbra getragen. Afonso betrauert hier das Versiegen seiner Stimme, und die Trauer spiegelt sich im Weinen der Flüsse. In ihrer Adaption machen Selma Uamusse und Patricia Relvas zum Auftakt der „Wanderer Songs“-Show aus der Klage einen Kampfruf im rockigen Gewand.

– Venham Mais Cinco“: Ein halbes Jahr vor der Nelkenrevolution veröffentlichte José Afonso dieses übermütige Lied. In jeder Zeile lässt sich die Aufbruchsstimmung eines Volkes hören, das sich geeint gegen die Diktatur stellt, im „Tiririri“-Refrain kündigen sich schon prophetisch die fröhlichen Feiern nach der Befreiung an. Patricia Relvas und die Band wandeln den Klassiker in eine unbändige Afro-Tanzhymne, die in ein großartiges Rock-Finale mündet.

– „Milho Verde“ ist eines jener ikonischen Stücke, für die sich Zeca Afonso von der portugiesischen Folklore inspirieren ließ. Eingebettet in romantische Naturszenerie wird hier mit dem für den Alentejo typischen mehrstimmigen Gesang von neckischen Schäferstündchen erzählt. Die spielerische Atmosphäre weitet sich bei der „Wanderer Songs“-Band zu einem kraftgeladenen Popsong.

– „A Morte Saiu À Rua“: Dieses Lied schrieb José Afonso für den im Widerstand tätigen bildenden Künstler Dias Coelho. Die Geheimpolizei PIDE hatte ihn 1961 auf offener Straße ermordet. Im Dialog mit den E-Gitarren von Tiago Correia-Paulo und PS Lucas schwingt sich Selma Uamusse zu einer bitteren Anklage gegenüber faschistischer Gewalt empor.

– Redondo Vocábulo“: Eines seiner stärksten Lieder überhaupt schrieb Zeca über seine Einzelhaft im Gefängnis von Caxias. Die Worte beschwören die klaustrophobische Atmosphäre der Zelle herauf. Im treibenden Arrangement der „Wanderer Songs“-Band ist der ungebrochene Trotz des politischen Häftlings eingefangen, die fast tribalen, ekstatischen Vokallinien durchbrechen selbst Gefängnismauern.

– „Vampiros“ entwirft ein scharfzüngiges Bild des Unrechtsstaates und ist damals wie heute gültig. Die Machthaber werden gezeichnet als blutsaugende, alles auffressende, gesetzeslose Gewaltherrscher. Uamusse, Vegas und Relvas haben das Schreckensszenario in einen eindrücklichen Sprechgesang transferiert. Ein zeitloses Manifest gegen politische Willkür und Machtmissbrauch.

© Stefan Franzen

Wanderer Songs: „Venham Mais CInco“
Quelle: youtube