Lange hat es gebraucht, bis Europa ihn entdeckt hat. Dabei ist er für den brasilianischen Anspruchs-Pop, für raffinierten Funk und Soul made in Rio seit den Neunzigern das, was Tom Jobim für die Bossa Nova war. Zudem ist er: Wunderkind und Weinkenner mit eigenem Sommelier-Blog, Musicalschreiber, Filmesammler und Comic-Connoisseur. Um Ed Mottas Eigenschaften getreu abzubilden, ließen sich Seiten füllen. Und auch der Interviewtermin mit dem in jeder Hinsicht kolossalen Sänger, Keyboarder, Komponist und Arrangeur uferte mehrstündig aus. Anlässlich seiner neuen Platte Perpetual Gateways (Must Have Jazz/Membran) und bevorstehender Tourdaten in Deutschland und der Schweiz die besten Ausschnitte aus einem für mich denkwürdigen Gespräch.
Ed, weil du die europäische Kultur so liebst, bist du nach Berlin übergesiedelt. Wie kommt man als Carioca mit den deutschen Temperaturen zurecht?
Motta: Kein Problem! In Rio hatten meine Frau und ich eine so starke Klimaanlage im Apartment, dass sie sich immer beklagt hat. Und jetzt in Berlin sagt sie: „Geh doch mal raus, du liebst doch die Kälte.” Aber ich bin ein Stubenhocker, gehe kaum vor die Tür. Meine Musik entsteht im Innern meines Hauses, nicht aus Erlebnissen von der Straße. Sie entsteht aus absolut intellektuellen Erfahrungen, aus dem Studium meiner Platten- und Filmsammlung, da geht es nicht um das „wirkliche Leben”. Aber irgendwie ist das doch auch das „wirkliche Leben“, oder nicht?
Die letzten Alben hast du ja tatsächlich in deinem Heimstudio produziert, aber für das aktuelle Album Perpetual Gateways bist du ja dann doch ziemlich rausgegangen, nach Kalifornien…
Motta: Zufall. Mein Manager, die Plattenfirma und ich saßen zum Brainstorming zusammen und beratschlagten meine weiteren Schritte. Da kam die Idee auf, in L.A. aufzunehmen. Um ehrlich zu sein, es ergibt Sinn, da meine Platten seit dem Debütalbum von 1988 immer beeinflusst waren von der schwarzen Musik Amerikas und dem West Coast-Sound.
Auf dem Cover sieht man dich vor den Watts Towers stehen. Der Stadtteil Watts war ja 1972 auch Gastgeber des berühmten Wattstax-Festivals, wichtig für den Soul und die Bürgerrechtsbewegung. Ist das also ein versteckter Hinweis auf den Bezug deiner Musik zum damaligen Soul?
Motta: Kamua Kenyatta, mein Produzent sagte mir: „Du musst zu den Watts Towers gehen!“ Als ich dort ankam, hatte ich noch gar nicht vor, das als Cover Artwork zu verwenden. Aber da erinnerte ich mich an das Cover von Harold Lands In the Land Of Jazz und an Willie Bobos Do What You Want To Do, auch an Don Cherrys Album von 1975, die alle die Watts Towers drauf hatten. Und ich sagte mir: Oh mein Gott, sieht ja aus wie ein dadaistischer, afrozentrischer Gaudí, denn der Erbauer hat ja auch gebrauchte Flaschen und solche Dinge benutzt. OK, sie sind auch ein Symbol, eine Flagge des Widerstands. Aber Flaggen sind nicht so mein Ding, ich glaube nicht an sie, denn ich stamme halb von Afrobrasilianern, halb von Italienern ab. Meine Verbindung zu Watts ist eher die, dass dieses Album ja mein erstes ist, das ich mit African Americans aufgenommen habe, das war immer mein Traum gewesen. Mit Afrobrasilianern zu arbeiten ist dagegen schwieriger für mich, denn die beschäftigen sich lieber mit Samba.
Deine Stimme scheint auf diesem Album eine neue seelenvolle Qualität bekommen zu haben, sehr relaxt, nicht mehr so ausgesprochen virtuos…
Motta: Ja, damit bin ich einverstanden. Das passierte ganz natürlich. Vielleicht ist das so, weil sämtliche Aufnahmen an drei Tagen entstanden. Für mich ist das ungewöhnlich, denn früher habe ich viel länger daran gefeilt. Wenn du Richtung Perfektion arbeitest, wird es kühler, die seelenvollen Sachen dagegen entstehen, wenn du diese Perfektion zugunsten des Gefühls aufgibst. Vielleicht auch, weil ich mich entschieden habe, höhere Noten zu singen.
Deine Stimme wurde immer wieder mit der des Soulsängers Donny Hathaway verglichen. Würdest du diesem Vergleich zustimmen?
Motta: Ich bin ein großer Donny Hathaway-Fan. Für mich hatte er die beste Stimme, die es je gab, in jedem Stil, er konnte alles machen. Bei ihm lernte ich, wie man beim Singen mit der Luft umgeht. Stevie Wonder tut das auch, aber Donny Hathaway hat die Grand Cru-Qualität dabei.
Ein anderes Merkmal ist dein sehr eigener Scatgesang, bei dem du ganz tief runter gehst.
Motta: Das fing in der Schule an, in einer ganz naiven Art und Weise. Ich versuchte, die Stimme von E.T. zu imitieren. Und dann kam 1982 dieser Song von Earth, Wind & Fire raus, „Let’s Groove“, und da wurde ich verrückt danach, meine Stimme so einzusetzen. Zu der Zeit war ich noch Drummer in einer Hardrockband, aber dann wurde ich ihr Sänger. Ronnie James Dio und David Coverdale waren meine frühesten Einflüsse. Wir sangen Black Sabbath-Covers damals. Heute mache ich das nur noch live, denn ich bekam Mitte der Neunziger ein Problem mit meiner Stimme, es ist nicht gesund, wenn man das 50 Tage am Stück auf Tour macht. Ich habe schon zwei Operationen hinter mir. Aber es macht mir immer noch Spaß, denn es ist eine Möglichkeit, meine frühen Hardrockeinflüsse, meine Roots bei Led Zeppelin und Thin Lizzy zu zeigen.
Warum hast du Kamau Kenyatta als Produzent ausgesucht? Warst du beeindruckt von seiner Arbeit mit Gregory Porter?
Motta: Das war für mich ein neuer Ansatz, denn bisher habe ich meine Alben von Anfang an selbst produziert. Und egal wie groß der Haufen Arbeit ist, den du reinsteckst: Die Leute spenden dir nicht so viel Aufmerksamkeit, sie denken, dass das billig klingen muss, denn „der hat das ja alles selbst gemacht“. Der Gedanke dahinter war, dass mir ein Produzent helfen könnte, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Und dann kommt dazu, dass ich Kamau sehr lange kenne, lange vor seiner Arbeit mit Gregory Porter. Ich liebe seine älteren Werke mit dem Spiritual Jazzer Ade Olantunji und Fred Johnson im Stück „A Child Runs Free“, das in Japan geradezu eine Hymne ist für die Jazzdancer. Kamau ist wie ein Bruder für mich. Ich dachte mir die ganze Zeit, dass wir wie Donald Fagan und Walter Becker von Steely Dan sind, denn wir lieben die gleichen Sachen, er mag zum Beispiel auch die Serie „Johnny Staccato“ mit John Casavetes.
Die Album-Band besteht aus Legenden wie Patrice Rushen, Greg Phillinganes, Cecil McBee und Hubert Laws. Wie gingen die Arbeiten im Studio vonstatten, war das alles live on tape oder gab es auch Overdubs?
Motta: Nur bei den Vocals und den Bläsern. Sie hatten meine Demotapes, Kamau hat alle Akkorde ausgeschrieben. Ich arrangiere, kann aber keine Noten lesen. Als wir ins Studio kamen, kannte also jeder die Stücke. Vor der Session gab es nur einen Tag Probe. Bei dieser Qualität von Musikern geht das, wenn du zu viel probst, verlierst du was. Martyn „Smitty“ Smith ist unglaublich, es war das erste Mal, dass ich Drums ohne Editing aufgenommen habe. Auf dem ganzen Album gibt es kein Editing. Das hat mich sehr beeindruckt, aber im Grunde habe ich das schon vorher gewusst, denn die US-Musiker sind einfach unschlagbar in der populären Musik, genau wie die Deutschen, wenn sie Geige spielen. Aber es gibt überall großartige Musik: Ich meine, schau dir in Deutschland die Jazzer an, Rolf Kühn zum Beispiel…
Deine Vorliebe für deutsche Musiker ist nicht gerade gewöhnlich für einen Brasilianer. Während eines Konzerts auf der Jazzahead-Messe in Bremen hast du dem Publikum von Kraan vorgeschwärmt…
Motta: Ja, und ich ziehe Kraan Can vor. Das Lustige ist, dass viele von den deutschen Rockern in Brasilien tatsächlich ziemlich groß sind, obwohl sie nie dort gespielt haben. Birth Control, Atlantis, Inga Rumpf, Guru Guru. Ich habe eine Platte von Birth Control, wo sie auf diesem Panzer stehen, auch Carthago mag ich, Volker Kriegel, Wolfgang Dauner, Albert Mangelsdorff, auch der frühe Klaus Doldinger vor Passport, ich liebe Passport, aber die Hardbop-Sachen von Doldinger gefallen mir noch besser. Du kannst dir nicht vorstellen, dass man all diese Dinge in Brasilien findet. Ich habe drei Platten von Manfred Krug, ein wunderbarer Mann! Die berühmte grüne Live-Platte, die habe ich aus der deutschen Botschaft in Brasilia. Als sie eines Tages auf CD umgestellt haben, rief mich ein Freund an, ich bin von Rio rübergeflogen und habe für drei Euro das Stück jede Menge MPS-Platten gekauft, Volker Kriegel-Originale und so.
Kaufst du für gewöhnlich deine Platten vor Ort in Läden während du reist, oder eher übers Internet?
Motta: Nein, im Laden. Zur Zeit kann ich das nicht tun, denn wir haben gerade erst unsere Zelte in Berlin aufgeschlagen und meine Plattensammlung ist nicht hier. Ich brauche einen Container, um das alles rüberzubringen, denn ich habe über 30.000 Platten. Ich muss jetzt erstmal schauen, ob ich mich hier einleben kann, ob ich gute Presse bekomme, und dann entscheiden meine Frau und ich vielleicht in Deutschland zu bleiben. Dann kann ich darüber nachdenken, meine Sammlung hierher zu holen und meinen EMT-Plattenspieler. Von den Aufnahmen in L.A. kam ich mit 300 Platten zurück, und ich habe vielleicht erst die Hälfte durchgehört! Ich kaufe Jazz, Soul, Reggae, Klassik, Soundtracks, fast alles bis 1982, das ist meine Trennlinie. Die Musik, die danach kommt, ist nicht meine Tasse Tee. Ich liebe Komposition, und ich höre heute keine guten Kompositionen mehr, gute Stimmen und gute Musiker schon, aber nicht Kompositionen während der letzten 30 Jahre. Nur wenn die alten Typen wie Burt Bacharach oder Donald Fagen ein neues Album raushauen, dann höre ich noch das, was man als „Komposition” bezeichnen kann.
Wie stehst du dann zur Neosoul-Welle, Leon Bridges, Curtis Harding, solche Leute?
Motta: Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht viel über diese neue Szene. Aber es gibt einige Sänger, die gut sind, technisch fein. Einige der Neo Soul-Sänger, die ich kenne, folgen dem Stax/Volt-Sound, ich dagegen bin eher ein Motown-Anhänger, Harmonien, Orchestration, Burt Bacharach, mehr Luxus in den Arrangements. Stax/Volt ist toll, aber das ist dreckiger, rauer, harmonisch einfacher gestrickt. Aber ich mag sie natürlich auch, Sam & Dave, Booker T. & The M.G.’s, Carla & Rufus Thomas. Neo Soul-Alben dagegen habe ich nie ganz durchgehört.
Was denkst du über die Soulszene in Brasilien heute? Vor zehn, fünfzehn Jahren gab es Leute wie Max de Castro oder Jair Oliveira, man hört heute nicht mehr viel von ihnen, weil es generell schwierig geworden ist, in Deutschland auf dem Laufenden zu bleiben, was brasilianische Musik angeht. Diese Produktionen kommen nicht mehr in den Vertrieb hier.
Motta: Es gibt einen Typ in dieser Szene aus der neuen Generation, der für mich der Beste ist: Lucas Arruda. Der ist wie ein neuer George Duke, ein großartiger Komponist, er arbeitet nicht am Computer mit einem Haufen Editing. Er ist aufrichtig. Max de Castro ist auch toll, aber er nimmt momentan keine Platten auf, er beschäftigt sich mit Jingles. Als sein erstes Album rauskam, 2000, war ich sehr beeindruckt, obwohl ich mich nicht so sehr mit Elektronik und Programming befasse. Ich stehe da auf die älteren Sachen wie Tangerine Dream, Bruce Haack, Jean Jacques Perrer, Pierre Henry, Wendy Carlos, Raymond Scott. Max ist aber trotz allem ein Genie der jetzigen Generation, er sollte auf der ganzen Welt bekannt sein. Und Lucas Arruda muss nach Europa kommen. Er ist ein Stück Hoffnung, wenn ich Depressionen über die jetzige Musikszene bekomme. Dann lege ich Lucas ein und die Sonne geht auf.
Welche Musiker werden denn in Europa mit dir auf der Bühne sein?
Motta: Ich habe eine neue Band für die kommende Tour. Der Keyboarder Matti Klein hilft mir, die zusammenzustellen. Matti ist für mich auf dem gleichen Level wie die Amerikaner. Wir werden mit zwei Bläsern arbeiten, aber ohne Gitarre. Das ist mein erstes Album ohne Gitarre. Kamau sagte mir, vielleicht könnte das interessant werden ohne Gitarre. Gitarre ist so wichtig in meinem Leben, aber manchmal, wenn das Gitarrensolo kommt, denke ich mir auf der Bühne, dass ein Teil des Publikums es nicht mag. Da gibt’s Vorurteile gegenüber Gitarrensoli seit der Zeit der Sex Pistols. Die Leute sagen: „Gitarre? Nein! Das ist nicht cool. Nur, wenn du sie nicht gut spielst, nicht virtuos.” In meinem Leben fing die Guitarmania mit Johnny Winter, Rory Gallagher, Jimmy Page und Jeff Beck an. Und dann natürlich Steely Dan. Sie haben die Gitarre in den Himmel gehoben, weg von den Stereotypen und Attitüden des Gewaltsamen, bei ihnen wurde die Gitarre etwas Intellektuelles.
Die Musik auf Perpetual Gateways wird von deiner Werbeabteilung als „spiritual jazz“ bezeichnet, wohingegen du selbst gesagt hast, der Titel habe einen Sciene Fiction-Charakter. Ist das miteinander vereinbar?
Motta: Ganz ehrlich: Ich denke nicht, dass das Album irgendetwas mit spiritual jazz zu tun hat. Nein, für spiritual Jazz müsste die Musik modaler sein. Es gibt ja in meinen Lyrics nicht die Diskussionen, die es in den Texten des spiritual jazz gab. In „Overblown Overweight“ gibt es eine Stelle, an der es heißt: „There’s a call for you, don’t you hear that? Your mobile phone makes me sick.“ Das ist nicht die Spur spirituell! Ich würde das Album eher unter der Sparte Steely Dan- und Frank Zappa-Einfluss einordnen. Und Jazz natürlich auch. Die ganze zweite Seite ist jazzig im Sinne von Postbop. Im Postbop fidnest du natürlich auch spiritual jazz, aber es gibt bei mir nichts von diesem Afrocentric-Gedankengut. Ein kleines bisschen davon kommt höchstens in „Overblown overweight“ durch, die Stelle mit dem „avoid false speeches“ und „false flags“. Aber insgesamt definitiv mehr Woody Shaw und Joe Henderson als spirituell.
Und es ist viel komplexer als das Vorgängeralbum AOR, kein „Sunshine Pop“ mehr.
Motta: Ja, es geht ein bisschen weiter. Die Songs haben ein Drama, das AOR völlig vermieden hat. Es ist ein Sprung von Tom Selleck zu Klaus Maria Brandauer.
Du hast die Socken unter den Mokassins wieder angezogen.
Motta: Ja, genau! (lacht)
Du hast jetzt auch eine neue Rolle angenommen, die des Songtextschreibers. Und deine Texte sind ganz schön witzig. Wie kommt zum Beispiel unsere ehemalige Hautpstadt Bonn in den Text von „Captain’s Refusal?“
Motta: Ich wollte da eine 007-Atmosphäre schaffen, James Bond in Zürich und Bonn, jemand ruft ihn an und sagt ihm, er soll da und da hingehen. Es geht um ein Schiff, auf dem die Crew bestochen wird, das Schiff in Brand zu stecken, um die Versicherungsprämie zu kassieren. Der „Anruf aus Bonn“ war für mich ein Bild, um die Atmosphäre aus diesen Superagentenfilmen herzustellen.
Dann war ich auf dem falschen Dampfer. Ich dachte Bonn wäre eine Anspielung auf die Band Streetplayer, die einzige AOR-Band Deutschlands, die auf dem zweiten Sampler der Reihe Too Slow To Disco drauf ist.
Motta: Oh nein, ich kenne die Band gar nicht!
Ich denke, sie haben sich nach dem Track „Streetplayer“ von Chicago benannt.
Motta: Von Chicago 13, ja! (er singt). Ich liebe Chicago, James Pankow ist mein Lieblingsarrangeur für Bläser. Seine Posaune ist immer lauter als alles andere!
Ist der Song „Hypochondriac’s Fun“ ein ironisches Selbstportrait?
Motta: Oh, ja, ich bin ein schwerer Fall von Hypochonder! In diesem Track liegt natürlich Ironie. Nimm die Zeile: „They just started to dance, can you believe their lack of taste.“ Das ist mein tricky Humor über die Diktatur des Tanzens. Um etwas genießen zu können, musst du tanzen. Tanzen ist die Demonstration, dass du etwas magst. (macht eine abfällige Handbewegung) Wie glücklich sind die klassischen Musiker, die das nicht nötig haben, die nicht die Leute zum Tanzen bringen müssen, damit sie sagen können: Schaut her, sie mögen meine Musik! Die beneide ich wirklich. Ich spiele so gerne in Theatern, wo jeder sitzt. Wenn ich selbst zu Konzerten gehe, dann nur, wenn es bestuhlt ist. Sie müssen mich bezahlen, damit ich zu einem Stehkonzert gehe. Nicht einmal zu Steely Dan würde ich gehen, wenn ich da stehen müsste. Als Künstler kann ich überall spielen, natürlich, aber mit Stühlen fühle ich mich viel wohler, es ist millionenfach besser für die Musiker auf der Bühne. Denn die Leute schwätzen dann nicht, atmen nicht. Wenn sie stehen, brauchst du viel mehr Konzentration als Musiker, wenn Getränke verkauft werden und sie eine Party feiern. Da geht es nicht um Musik, sondern darum, Leute zu treffen. Ich mag Partys nicht, denn du gibst sie ja nie für dich selbst, sondern für andere. Niemand schmeißt eine Party, bei der alle zusammen sitzen und über das gleiche Thema sprechen, jede Gruppe spricht über etwas Anderes. Mein erstes Album war auf der Soul- und Funk-Schiene. Ich spielte damals viel vor Stehpublikum, die Leute erwarteten, dass sie bei meiner Musik tanzen könnten, bis sie tot umfallen. Ich hoffe inständig, dass ich aus der Nummer rauskomme, jetzt, wo ich älter werde. Ich will nicht mehr die ganze Zeit auf der Bühne denken: Bringt sie das Stück jetzt zum Tanzen? Wenn es bestuhlt ist, dann ist auch der Sound grundsätzlich besser.
Ironischerweise, nach allem, was du jetzt gesagt hast, ist „Hypochondriac’s Fun“ ein Dance-Track, denn der Groove erinnert sehr an Stevie Wonders „Superstitious“…
Motta: Ja, er hat dieses Stevie Wonder-Feeling, diesen Shuffle. Es ist mein paranoider Geist, der denkt, die Atmosphäre ist besser, wenn die Leute sitzen. Auch der dritte Track, „Good Intentions“, ist sehr funky, sehr tanzbar. Meine Sichtweise hängt auch damit zusammen, wie ich selbst Soul- oder Funkalben höre. Wenn ich B.T.Express oder Chuck Brown höre, dann tanze ich nicht. Manchmal wackle ich mit dem Kopf, aber nicht mehr. Denn wenn du tanzt, dann verlierst du dich in dir selbst. Du verlierst 95 Prozent deiner Aufmerksamkeit. Es geht dann nur noch ums Entertainment, um die Fast Food-Seite von alldem.
„Heritage Déjà Vu“ ist eines meiner Lieblingsstücke.“You’re just trying to take a chance to impress your fans“ – ist das ein Hinweis an deine neuen Fans hier in Deutschland, wo du jetzt verstärkt wirkst?
Motta: Vielleicht bezieht sich die Möglichkeit, neue Fans zu beeindrucken ja auch darauf, dass ich jetzt Lyrics schreibe! Ich bin etwas sarkastisch mir gegenüber…
Trifft dieser Sarkasmus auch auf „Overblown Overweight“ zu, könnte das auch ein Selbstporträt sein? Ich meine, du bist zwar nicht „aufgeblasen“, aber…
Motta:… übergewichtig? Haha! Nun, das „overweight“ bezieht sich im Text auf das „overblown“. Es heißt ja, „the new word in town is overblown and it’s overweight“. Es gibt also eine Überreaktion zu einer neuen Mode in der Stadt. Alle Texte tragen eine kritische Haltung in sich, aber ich hänge da keine Flagge raus. Es gibt keine Hoffnung in diesen Songs, das ist wie bei Donald Fagen. Keine Kinder, keine Blumen. Sie haben einen ätzenden Humor. Auch „I Remember Julie“: Da geht es um ein Mädchen, das teuren Wein aus dem Keller ihres Vaters trinkt und jetzt Vinyl sammelt, weil das gerade trendy ist. Da nehme ich diese neue Szene auf die Schippe.
Vor zehn Jahren waren wir Jungs im Plattenladen unter uns. Plötzlich sind da auch Frauen…
Motta: Das hingegen finde ich toll. Aber die Sache ist die: Mir geht es um die neue Vinylmania. Ich habe nie aufgehört, Vinyl zu kaufen, CDs haben mich nie beeindruckt. obwohl ich viele habe. Die entsprechende Phrase im Songtext heißt: „she now has been digging vinyl and how are indies gonna rate it?“
Aber du singst es so schnell, dass es niemand verstehen kann!
Motta: Ja, selbst ich nicht! Da bin ich von Eddie Jefferson beeinflusst, dieses schnelle Blablabla. Es ist besser, dass das niemand versteht, denn die „Indies“ könnten sich über mich aufregen. Als das Album fertig war, dachte ich, eigentlich müsste ich das Wort „Indie“ in „Hipster“ ändern. Aber warten wir das nächste Album ab!
Ein Anti-Hipster-Album?
Motta: Oh ja, ich bin absolut „anti-hipster“! Fundamentalist! Das sind ja jetzt die Neo-Hipsters, es gab ja auch die klassischen. Früher waren das die Beatniks, Ginsberg, Burroughs. Die Gründe für das Hipstertum sterben ja nicht aus. Die Leute sind so folgsam, sie folgen jedem Hype, es ist hip, dieses und jenes Album zu mögen. Wenn du es nicht magst, dann bist du out. Ich liebe es, out zu sein, außerhalb der herrschenden Meinung, des herrschenden Geschmacks zu stehen. Darum geht es bei den Hipsters, nicht so sehr bei den Indierock-Typen. Ein bisschen geht es auch um sie, sie sind mit dabei. Also könnten wir sie mit einem Schuss zusammen erledigen, wenn sie schon mal da sind, erschießen wir sie zusammen! (Lachanfall)
Geht es bei „Town In Flames“ um irgendwelche politischen Ereignisse, etwa die, die sich in Brasilien vor der Fußball-WM abspielten?
Motta: Nein, nichts Politisches. Es ist ein fiktionaler Text. Als ich ihn geschrieben habe, dachte ich viel an Hitchcocks „Sabotage“. Jemand verübt Sabotage, zündet eine Stadt an. Der Text ist ein bisschen verwandt mit „Captain Refusal“. Es gibt zwei Feuerprobleme auf dem Album! Oh mein Gott, ich spreche ich über Lyrics! Mein ganzes Leben habe ich nicht über Lyrics gesprochen. (lacht) Aber jetzt ergibt es Sinn.
Bist du belesen? Liest du Gedichte, aus denen du Inspiration beziehst fürs Songwriting?
Motta: Nein. Ich sammle Comicbücher, aber nicht die für Kinder. Meine Frau Edna ist eine Comicbuchauotrin für Erwachsene. Diese Geschichten sind genauso tief wie Baudelaire, James Joyce, Henry Miller oder irgendeiner dieser Jungs. Oder Hugo Pratt erst.
Gibt es eine Tradition für Graphic Novels in Brasilien?
Mitta: Ja, seit den Dreißigern. Diese Tradition hat glaube ich überall ziemlich gleichzeitig angefangen. Vincent MacKay, der Animé erfunden hat, hat das parallel getan zu Leuten in Japan, in Frankreich und Belgien. Mein Hauptinteresse ist der franko-belgische Strang. Das ist ein Einfluss von meiner Frau Edna. Wir haben uns bei der allerersten Comicbuch-Messe in Brasilien kennengelernt, sie war als Künstlerin da, ich als einer der größten Sammler der europäischen Comics in Brasilien. Sie hat mir die Undergroundsachen aus Amerika nahegebracht, die mich vorher nicht interessiert haben. Ganz ehrlich: Musik und Filme von heute mag ich meistens nicht, aber Comicbücher haben eine Qualität, da steckt Intelligenz drin, auch heute noch. In Nordamerika ist die Tradition zur Zeit noch stärker als damals Robert Crumb, die Seattle-Szene, das sind wunderbare Künstler. Auch aus Chicago kommt ein Genie: Chris Ware. Der Jacques Tati unserer Zeit. Ich sehe in keiner Kunstrichtung irgendeinen, der heute an ihn heranreicht. Nur ich natürlich! (lacht)
Ein paar Fragen habe ich noch. Bist du nicht zu müde?
Motta: Nein! Ich liebe Interviews! Ich bin Löwe, und Löwen sind die egozentrischsten Menschen überhaupt. Es gibt für einen Löwen nichts Schöneres, als wenn ihn jemand auffordert, über sich selbst zu sprechen. Nur Leute, die nichts zu sagen haben, hassen Interviews. Gewöhnlich sind das die gleichen Leute, die keine Studios mögen. Ich mag Interviews mehr als Liveshows. Interviews relaxen mich. Das ist wie ein Antidepressivum, wie eine psychologische Sitzung. Du bist der Doktor. Meistens endet es dann so, dass der Journalist sagt: Tut mir leid, aber jetzt muss ich wirklich gehen. (lacht)
Wir haben noch gar nicht über Bossa Nova gesprochen. Du hast ja einige aufgenommen, wie z.B. „Doce Ilusão“ oder „Imagina“ auf dem Casa-Album mit Ryuichi Sakamoto und den Morelenbaums. Welche Bedeutung hat Bossa Nova für dich, vielleicht auch als Antidot zu deinen Soul- und Funk-Songs?
Motta: Ich bin in einem Haus von Bossa Nova-Fanatikern groß geworden. Mit meinem Vater und meiner Mutter habe ich das ständig gehört. Durch Bossa Nova kam ich zum Jazz, durch die Harmonien der Bossa. Ohne Zweifel ist für mich das Wichtigste, das in der brasilianischen Musik passierte, die Bossa Nova. Man findet darin die Melancholie und die Komplexität der frühen Sambas aus den 1940ern und 50ern, und man findet die Jazzakkorde. Nach Bossa Nova war das Wichtigste für mich in der brasilianischen Musik die Clube da Esquina-Bewegung in Minas Gerais. Die ging über die Musik hinaus, bezog sich auch auf den Lebensstil. Es ist traurig, dass Bossa Nova in Brasilien nicht so groß ist, viel größer ist sie in Japan.
Sie wird vor allem von der Generation gehört, die mit ihr aufgewachsen ist, nicht von den Jungen.
Motta: Es gibt junge Bossa-Fans, aber das ist eine kleine Gemeinde. Der Bossa-Einfluss war groß auf Nordamerika, auf Burt Bacharach zum Beispiel, er war der Erste. In den Siebzigern hat sie auch großen Einfluss gehabt: Earth, Wind & Fire, George Duke, Stevie Wonder, „You Are The Sunshine Of my Life“, das ist brasilianische Musik! Wie er Major Seven-Akkorde verwendet, so hat das auch Jobim gemacht. Die Stereotypen über die Rhythmen in Brasilien machen mich irre. Der Rhythmus ist das Unwichtigste für die brasilianische Musik, den gibt es in ganz Lateinamerika. Aber in Brasilien ist dieser starke impressionistische Einfluss von Debussy, Ravel, Fauré präsent, wie die Major Seven-Akkorde verwendet werden. Melodie und Harmonie sind viel wichtiger. Aber dieser Stereotyp vom Rhythmus, ein Vogel auf deiner Schulter, ein weißer Anzug und ein Erfrischungsgetränk mit Limone in der Hand: sehr einfach. Das ist nur ein kleiner Teil der Wahrheit, aber nicht die Ganze. Bei Samba denken die Leute fatalerweise immer nur an Karneval, dabei ist er sehr sophisticated, musikalisch gesehen. Wie dort die verminderten Akkorde gebraucht werden zum Beispiel, wie bei Cole Porter. Er klingt einfach, ist aber sehr komplex.
Meine Theorie ist ja, dass Bossa Nova auch ein bisschen aus Freiburg kommt, denn Koellreutter, Jobims Lehrer, der Zwölftonkomponist, stammte aus Freiburg.
Motta: Sicher! Hör dir mal das letzte Stück auf der Antonio Brasileiro-Scheibe an. Das ist sehr zwölftönig, sehr Koellreutter. Das ist serielle Musik, Skrjabin und Britten verwandt. Das Lustige ist ja, dass Wagner schon vor all denen seriell geschrieben hat, im Intro zu „Tristan & Isolde“. Das lehrt jeden Demut, der sich für Harmonien begeistert. Jobim hat das im Intro von „Luisa“ verwendet. (er singt es vor) In Brasilien hat man ihm vorgeworfen, er hätte das geklaut, aber er hat nur Sachen miteinander kombiniert.
Wer weiß, hätte Jobim ein bisschen länger gelebt, wäre er vielleicht zur Zwölftonmusik übergegangen?
Motta: Ja, das glaube ich. Mein Lieblingsalbum von Jobim ist das von 1975, die meisten Stücke sind da mit Claus Ogerman. Auf diesem Album erforscht er Villa Lobos, seine klassischen Einflüsse.
Zum Schluss noch ein Bonbon für alle, die sich für deine Raritäten interessieren: Was ist denn mit den Aufnahmen passiert, die du 1994/95 in New York mit Bernard Purdie und Lenny White gemacht hast?
Motta: Das war ein ziemliches Durcheinander. Wir hatten einen italienischen Exekutivproduzent, der bezahlte die Musiker nicht, wir bekamen Geldprobleme, viele Fehler wurden gemacht. Die Aufnahmen wurden also nicht beendet, einige der Songs habe ich neu aufgenommen, da ich das Tape nicht verwenden konnte. Ich bin der Eigentümer des Tapes zusammen mit ihm, aber wir haben nie einen Weg gefunden, es zu veröffentlichen. Wir haben das mit Eddie Gomez, Anthony Jackson, David Spinoza, Steve Ferrone und Chuck Rainey aufgenommen. Aber an einige der Songs habe ich mich nochmal neu drangewagt, „1987“ zum Beispiel von AOR gab es schon auf diesem Tape, aber nicht unter diesem Namen und nicht mit diesen Lyrics. Ich würde es gern sehen, wenn das eines Tages veröffentlicht wird, obwohl es nicht mehr zu mir spricht heute. Hinter diesem Tape steckt eine ganz ähnliche Geschichte wie hinter der verlorenen Ogerman-Session von Joyce aus New York von 1977!
Würdest du sagen, dass dieser Aufenthalt in New York bis heute Auswirkungen auf deine Arbeit hat, oder bist du jetzt mehr auf Kalifornien geeicht?
Motta: Oh nein. Die Musik aus ganz Amerika hat mich immer beeinflusst. Die Jazz-Seite von Perpetual Gateway ist sehr New York-orientiert. Man könnte sagen, die Popseite ist L.A. beeinflusst, sonnig, aber die Lyrics sind New York, sarkastisch. Denn in L.A. spricht niemand über Hypochonder!
Lieber Ed, vielen herzlichen Dank für diese lange Interviewsession.
© Stefan Franzen
Fotos: Chachi Ramirez
Ed Mottas Tourdaten:
6.5. XJazz Festival Berlin
8.5. Kaserne Basel (Jazzfestival)
10.5. Kaufleuten Zürich
14.7. Rosenfelspark Lörrach (Stimmen-Festival)
Ed Motta: „Overblown Overweight“
Quelle: youtube