Gilberto Gil: Gespräch über die neue CD und João Gilberto
Als er im Juli 2008 vom Amt des Kulturminister Brasiliens zurücktrat, war er ausgebrannt. Drei Mal musste er Präsident Lula um Erlaubnis fragen, bis der ihn endlich ziehen ließ. Seine neue Freiheit zelebrierte Gilberto Gil zunächst mit ausgelassener Partymusik des Nordostens, dann veröffentlichte er den Konzertfilm „Banda Dois“, ein intimer Mitschnitt aus São Paulo, auf dem er die denkbar radikalste Abkehr von der öffentlichen Person vollzog. Die Retrospektive auf seine Karriere in Gestalt eines Solorecitals zeigte ihn als Privatmann, der sich nur von den Söhnen Bem und José auf der Bühne untersützen ließ. Die junge Generation in Gestalt von Bem und Caetano Velosos Sohn Moreno ist nun auch wieder impulsgebend dabei: Auf Gilbertos widmet sich der 72-jährige Alt-Tropikalist seinem prägenden Vorbild João Gilberto und umschifft dabei jedes Bossa-Klischee.
Gilberto Gil, können Sie umreißen, was der elf Jahre ältere João Gilberto für Sie als junger Künstler bedeutete, als Sie in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern anfingen zu singen und Gitarre zu spielen?
Gilberto Gil: Er war ein sehr wichtiger Schlüssel, und das nicht nur für mich persönlich. Ich denke, für meine ganze Generation hat er diese Funktion übernommen, auch außerhalb Brasiliens, zum Beispiel in Japan und in den USA war er einflussreich. Er hat einen einzigartigen Stil in vielerlei Hinsicht entwickelt: eine Einzigartigkeit zu singen, zu spielen, aber auch eine eigene Art, die Bedeutung der Songtexte von Jobim, Carlos Lyra und anderen Komponisten zu „lesen“, die zeitgleich mit ihm in Erscheinung traten. Er hat es geschafft, für jede musikalische Perspektive den passenden Ausdruck in der Stimme zu finden.
Mit João Gilberto teilen Sie nicht nur den Namen, auch den bahianischen Ursprung. Welche heimatlichen Gefühle bringt es in Ihnen zum schwingen, wenn Sie ihm zuhören?
Gil: Er hat die Synkopen des Sambas bewahrt, aber auch gleichzeitig ein Flavour kreiert, dass diese Ruhe, diese Entspanntheit, diese Weichheit ausstrahlt, die man mit Bahia verbindet. Das entspricht der bahiansichen Art zu leben, sich zu bewegen. Der Charakter der Leute dort spiegelt sich sehr in seiner Musik wider.
Abgesehen von „Desafinado“ haben Sie auf dem Album keine offensichtlichen Welthits ausgewählt, sondern auch Stücke aus der zweiten Reihe seines Repertoires. Was waren die Kriterien für Sie?
Gil: Oberstes Kriterium war das Herz. Es kam mir darauf an, die Songs auszuwählen, die mich damals direkt auf einer Gefühlsebene angesprochen haben. Einige Tracks kommen trotzdem aus seinen ersten drei berühmten Alben, wie „O Pato“, „Doralice, „Aos Pés Da Cruz“. Denn die gehören in den Kontext dieses riesigen Einflusses, den er von 1958 bis 1961 auf meine Altersgruppe hatte. Andere Tracks, die ich ausgewählt habe, hat er erst in späteren Jahren aufgenommen, wie zum Beispiel Caetano Velosos „Desde Que O Samba É O Samba“ über den Geist und die Qualität des Sambas. Und „Eu Vim Da Bahia“ habe ich natürlich ausgewählt, weil es der einzige Song von mir ist, den er je aufgegriffen hat. Das ist seine Hommage an alle bahianischen Musiker. Dann gibt es ja noch seltenere Stücke wie „Tim Tim Por Tim Tim“, das ich wegen seines fantastischen Swings dazugenommen habe.
Die Arrangements vermeiden das Offensichtliche der Bossa Nova, sie sind ab und zu folkloristisch mit Akkordeon, Violine, Holzbläsern, oder man hört sogar eine Noise-Gitarre im Stil von Arto Lindsay. Wer war dafür verantwortlich?
Gil: Caetanos Sohn Moreno Veloso, mein Sohn Bem und ich selbst, wir haben das kollektiv ausgeheckt. Moreno und Bem sind noch sehr jung, bewegen sich mit ihren Musikern in ganz anderen Kreisen, sie haben einen sehr zeitgenössischen Stil mit Rock- und Pop-Elementen. Auf ihre Fertigkeiten konnte ich also bauen. Das Akkordeon habe ich ausgewählt, damit Eleganz reinkommt, Mestrinho beherrscht sowohl Samba als auch Baião und andere brasilianische Folkstile. Wir haben auch Rodrigo Amarante von Los Hermanos gefragt, ob er ein paar Kleinigkeiten auf dem Vibraphon oder der Triangel einfügen kann.
Und diese ungewöhnliche Gitarre in „Desafinado“?
Gil: Die hat Pedro Sá gespielt, ebenfalls ein Rocker. Er stellt in „Desafinado“ den Sänger dar, von dem im Text gesagt wird, er würde die Töne nicht treffen. Mit der Verzerrung wird dieses „out of tune“ dargestellt, die Gitarre tritt in Dialog mit der konventionellen Melodie. Es ist ein Kommentar aus der Ära, die der Bossa Nova nachfolgte mit den Errungenschaften von Os Mutantes, Arto Lindsay und den Tropikalisten.
Es findet sich auf Gilbertos auch das Stück „Milagre“, das Sie zusammen mit João, Caetano und Maria Bethânia 1981 für das Album Brasil aufgenommen haben. Was für Erinnerungen haben Sie an diese Sessions mit Ihrem Idol?
Gil: Wunderbare! Wie viele wissen, ist João ja ein sehr spezieller Charakter mit seinen Marotten, seiner Haltung und auch seiner Lebensphilosophie. Er hat eine ganz eigene Art und Weise, wie er Zuneigung aufbaut und zeigt. Ich war damals sehr berührt davon, wie er während der Aufnahemsessions zu „Brasil“ den musikalischen Motor in Gang brachte, wie er mit uns zusammen die Songs und Arrangements entwickelte. Es war eine sehr lehrreiche und wertvolle Zeit, die wir mit ihm verbracht haben.
Heute lebt João Gilberto sehr abgeschieden vom Rest der Welt. Haben Sie noch Kontakt zu ihm?
Gil: Leider nicht. Ich habe versucht, im Rahmen dieses Tributalbums Kontakt zu ihm aufzunehmen. Sogar ein Exemplar des Albums habe ich ihm zukommen lassen, aber es kam keine Antwort. Ich weiß nicht, ob er es überhaupt angehört hat. Er hat sich vom täglichen Lärm der Welt abgewandt, nur ein paar ganz enge Verwandte können ihn sehen. Ich habe es aber noch nicht aufgegeben, ihn zu erwischen und ihn nach seiner Meinung zum Album zu fragen.
Ihre Stimme klingt wieder sehr frisch und flexibel. Hat die Niederlegung Ihres politischen Amtes zu einer musikalischen Verjüngung geführt?
Gil: Oh ja! Als ich Kulturminister war, hat meine Stimme unglaublich gelitten. Sie war so müde, weil sie ständig im Einsatz war bei öffentlichen Terminen und bei Reden. Das macht die Stimme hart, im Gegensatz zum Singen. Ich musste mich dann sogar einer Operation unterziehen und einen Polypen auf einem der Stimmbänder entfernen lassen. Nachdem ich dann raus war aus dem Amt, habe ich sehr auf meine Stimme aufgepasst und konnte mich nach der Operation an sie wieder neu gewöhnen. Dazu gehörte, dass ich die Tonarten der Songs anpassen musste, ich singe jetzt nur noch in etwas tieferen Lagen, und ich singe auch weicher. Natürlich trägt auch mein Alter zur Veränderung der vokalen Qualitäten bei.
Den letzten Song auf dem Album, das Titelstück „Gilbertos“ haben Sie selbst geschrieben. Hier sagen Sie uns, dass in Brasilien einmal in 100 Jahren ein wahrer Meister auf den Plan tritt, und alle 25 Jahre ein Lehrling wie Sie. João Gilberto wurde 1931 geboren, wir müssten demzufolge also noch 17 Jahre auf einen neuen Meister warten. Was wird der für Musik machen?
Gil (lacht): Oh, das weiß ich nicht. Mein Text geht auf einen Kommentar zurück, den der große, 2008 verstorbene bahianische Sänger Dorival Caymmi gemacht hat. Als ihn ein Journalist nach seiner Meinung zu Gilberto Gil fragte, sagte er: „Gilberto Gil ist ein Künstler, wie es ihn nur alle 25 Jahre einmal gibt.“ Daran erinnerte ich mich, als ich diesen Song schrieb. Und zugleich dachte ich wiederum, Dorival Caymmi ist ein Genius, der uns nur alle 100 Jahre geschenkt wird, genau wie Joãão Gilberto. Ich spreche in den Versen auch von Caetano Veloso, Chico Buarque und Roberto Carlos, Kollegen meiner Generation, die auch in die 25er-Kategorie gehören, aber die sich darauf vorbereiten, vielleicht in die 100er aufzusteigen. Wer weiß, wer als Nächstes kommt in einigen Jahren? Aber wir können uns trösten: Wir haben ja zur Zeit schon ein paar Genies.
Dieser Artikel erschien in der Jazz thing #106.
© Stefan Franzen