(he)artstrings #30: Waldspaziergang mit Molly Bloom


Kate Bush: „The Sensual World“
(aus: Kate Bush – The Sensual World, 1989)

Die letzten 50 Seiten aus einem Klassiker der Weltliteratur als Initialzündung für einen Popsong – das dürfte einmalig sein. Molly Blooms Schlussmonolog aus James Joyces Ulysses zählt zu den sinnlichsten und sprachspielerischsten Passagen, die ein europäischer Schriftsteller je zu Papier gebracht hat, ein zu Buchstaben verfestigter, erotischer Gedankenfluss, der schon in sich Musik ist, wenn man ihm etwa in Siobhan McKennas Fassung lauscht. Kate Bush Pläne, den Joyce-Originaltext als Grundlage für den Titelsong ihres sechsten Studioalbums zu verwenden, scheiterten 1989, da es ihr die Erben des irischen Schriftstellers nicht erlaubten. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als die Soliloquy zu paraphrasieren – und dabei wand sie den Kniff an, Molly Bloom aus den Seiten des Buches herausspazieren zu lassen, hinein in die sinnliche Welt, „stepping into the sensual world“.

„The Sensual World“ stellt eine radikale Abkehr von vielen der sirenenhaften Gesangslinien früherer Kate Bush-Songs dar. Nach ihrer eigenen Aussage ist es ein Song, der ihre neugefundene Weiblichkeit widerspiegeln soll, ohne feministisch zu werden. Auf früheren Alben, so Kate, hätte sie doch immer wieder versucht, männliche Kollegen zu imitieren. An frühere Zeiten erinnert allerdings noch das irische Flair: Dieses Mal wird es durch den Uillean Pipes-Spieler Davey Spillane, John Sheahan an der Fiddle und Donal Lunny an der Bouzouki gezaubert, mit letzteren hatte Kate schon auf den Alben Hounds Of Love und The Dreaming gearbeitet. Bruder Paddy trägt mit dem Schwingen einer Angelrute zur ganz besonderen Rhythmusstruktur bei. Die Melodie, die die Iren spielen, ist allerdings mazedonischer Herkunft: Verschiedenen Quellen zufolge soll es der Brauttanz „Nevestinsko Oro“ sein, das ein Fan dem ethnobegeisterten Paddy geschickt hatte.

Beim ersten Hören hat mich „The Sensual World“ grenzenlos enttäuscht – so weit weg war das von allem, was Kate Bush bis dato veröffentlicht hatte. Nach wiederholten Durchläufen hat sich dann der der tanzende, atmende Klangfluss mit der monologisierenden Stimme festgesetzt und mich mehr in den Bann gezogen als viele andere exaltierte Bush-Kompositionen. Die Idee mit dem Waldspaziergang im Video weckt zwar ein wenig unangenehme Erinnerungen an das umstrittene Wald- und Wiesen-Video von Wuthering Heights. Doch wo Bush zwölf Jahre früher mit exaltierter Eurythmie zugange war, folgt sie jetzt in ruhigen Tanzschritten dem Puls ihrer Worte.

Die Single-Vorauskopplung aus dem Album ist heute vor 30 Jahren erschienen – und ist für mich auf immer mit dem Ende des Zivildienstes und dem Anfang des Studiums verbunden. 2011 schließlich nahm Kate Bush das Stück erneut als „Flower Of The Mountain“ auf. Jetzt hatte sie die Erlaubnis, den Originaltext von Joyce zu verwenden – doch an die Version von 1989 reicht die Neuauflage bei weitem nicht heran.

Kate Bush: „The Sensual World“
Quelle: youtube

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Ewige Liebe im Moor – Wuthering Heights 40

„Out on the wiley, windy moors we’d roll and fall in green“ – als diese irre hoch gesungene Anfangssequenz zum ersten Mal in Frank Laufenbergs Top Ten auf SWF 3 im Januar oder Februar 1978 aus meinem Cassettenradio tönte, konnte ich mir nur eine kleine Rotzgöre vorstellen, die das singt. Auch als Neunjährigem kam mir absurd vor, warum irgendjemand seine Stimme so hoch schrauben wollte. Doch was mir damals auch schon dämmerte: Das Lied unterschied sich von allem, was ich bis dato in dieser Hitliste am Sonntagabend gehört hatte, der ich seit dem Sommer 1977 regelmäßig lauschte.

Heute vor 40 Jahren ist Kate Bushs Single „Wuthering Heights“ veröffentlicht worden, das Debutalbum The Kick Inside folgte am 17.2.1978. Die popgeschichtliche Einordnung ist spannend genug: Als „Wuthering Heights“ im UK auf die Nummer 1 kletterte (in Deutschland lediglich Notierung 11), regierte auf der einen Seite der vorkonfektionierte Schwedenpop von ABBA, auf der anderen Seite der Disco der Bee Gees aus „Saturday Night Fever“. Dass da eine 19-Jährige mit einer Orchesterhymne, inspiriert von der Schlüsselszene aus Emily Brontes Sturmhöhe, nämlich die Rückkehr des Geistes von Heathcliff zu seiner Geliebten Cathy, eine Schneise reinschlagen konnte: kaum vorstellbar.

Wäre es nach den Plattenmoguln der EMI gegangen, hätte die erste Single von Kate Bush „James And The Cold Gun“ geheißen – eine charmante, aber konventionelle Rocknummer. Die Künstlerin selbst setzte sich mit ihrem Gespür durch – und das öffnete ihr Tür und Tor zu einer großen Karriere. Aus meinem persönlichen Hörwinkel gebe ich zu, dass „Wuthering Heights“ bei weitem nicht mein Lieblingssong von Kate Bush ist. Selbst die zweite Auskopplung aus The Kick Inside, die orchestrale Ballade „The Man With The Child In His Eyes“, stelle ich von der Stringenz der Komposition her weit über die schon ziemlich hyperventilierende  Sturmhöhen-Hymne.

Trotzdem: „Wuthering Heights“ nimmt einen ganz besonderen Platz in der Popgeschichte ein. Mit diesen viereinhalb Minuten begann das Kapitel weiblicher Selbstbestimmtheit – eine Künstlerin, die in so konsequenter Art als Autorin, Sängerin, Tänzerin und ab ihrem dritten Album auch Produzentin in Personalunion auf den Plan trat, hatte es vorher nicht gegeben. Wer das Thema vertiefen will: Der Daily Telegraph hat zum 40. einen brillanten Artikel veröffentlicht.

Von allen Kate Bush-Songs ist „Wuthering Heights“ derjenige, der beim Covern am meisten zum Scheitern verurteilt ist. Gerne hätte ich zum 40-Jährigen eine kleine Liste erstellt, doch entweder sind die Adaptionen schwach oder albern. Deshalb gibt es hier nur drei Versionen von Kate Bush selbst. Die erste, ein Playback zur Originalfassung von 1978, stammt aus Alfred Bioleks Show „Bios Bahnhof“, es ist Bushs erster Fernsehauftritt überhaupt. Vorangegangen war eine Live-Version von „Kite“, umklammert wurde ihre Performance von einer amüsanten, heute sehr altväterlichen anmutenden Moderation der deutschen Fernsehlegende.

Kate Bush: „Wuthering Heights“, live in Bios Bahnhof, 9.2.1978
Quelle: youtube

Der zweite Clip ist eine Rarität aus dem französischen Fernsehen, in dem der Ausdruckstanz mit den wagenradgroßen Pupillen der beiden Originalvideos (Version 1, Version 2) etwas abgemildert ist – ein Ausdruckstanz, der neuerdings Menschen auf dem ganzen Globus dazu veranlasst, sich zu Hunderten auf einer grünen Wiese zu treffen und das Originalvideo nachzustellen.

Kate Bush: „Wuthering Heights“ (French TV)
Quelle: youtube

Und zu guter Letzt noch eine Live-Fassung aus einer Show in Manchester, entstanden während der „Tour of Life“ von 1979. Und hier lohnt es sich auf die Schluss-Sequenz zu hören: Denn was den Song für mich immer so speziell gemacht hat, war das sagenhafte, glückselig davonfliegende E-Gitarren-Solo des Finale (auf Platte spielte es Ian Bairnson vom Alan Parsons Project, live allerdings Alan Murphy.)

Happy Birthday, Wuthering Heights!

Kate Bush: „Wuthering Heights“ (live in Manchester, 1979)
Quelle: youtube

Das atemraubende Klangtheater der Kate Bush – I

hammersmith apollo

Foto: Stefan Franzen

Before The Dawn
Hammersmith Apollo London, 17/09/14

Wer dabei war, reibt sich immer noch ungläubig Augen und Ohren. Nach 35 Jahren intensivem Fremdeln mit den Bühnenbrettern ist Kate Bush ins Rampenlicht zurückgekehrt. Mit einem Gesamtkunstwerk, das sämtliche Kolleginnen ihres Alters und wesentlich jüngerer Jahrgänge auf die Plätze verweist. Kate Bushs Before The Dawn war eine Offenbarung, wie auch noch in der digitalen Ära Popmusik aus dem Theater befruchtet werden kann. Weiterlesen