Heute vor 40 Jahren erschien der erste Vorbote aus Kate Bushs drittem Album Never For Ever. Die Single „Breathing“ markiert einen entscheidenden Wendepunkt in ihrer Karriere. Bush nahm sich eines Themas an, das Anfang der 1980er wie ein Damoklesschwert über den Staaten der westlichen und östlichen Welt hing: die Gefahr eines nuklearen Erstschlags mit allen bekannten Konsequenzen. Um diese um so eindrücklicher zu schildern, nahm sie dazu die Perspektive eines Ungeborenen ein, das den Fallout im Mutterbauch miterlebt. So politisch war Kate Bush nie zuvor gewesen, und mit dieser Themenwahl kündigte sich eine Abfolge mehrerer gesellschaftskritischer Songs an, die vor allem das Album Never For Ever und den Nachfolger The Dreaming markierten.
Auch musikalisch ging sie dabei neue Wege: Das straighte klassische Songgerüst gab sie zugunsten einer Dramaturgie auf, die sich von Strophe und Refrain hin zu einer dystopischen Klangcollage bewegt und dann in einer fast geschrieenen Klimax endet, bevor der Tod jegliches Leben verschluckt. Der Atem als Puls des Lebens, der im Fall einer globalen Katastrophe aber auch zur Vernichtung des menschlichen Körpers führt – sechs Jahre vor Tschernobyl und 40 Jahre vor Corona ist der Engländerin mit dem bedrückenden „Breathing“ unfreiwillige Prophetie gelungen.
Kate Bush: „The Sensual World“ (aus: Kate Bush – The Sensual World, 1989)
Die letzten 50 Seiten aus einem Klassiker der Weltliteratur als Initialzündung für einen Popsong – das dürfte einmalig sein. Molly Blooms Schlussmonolog aus James Joyces Ulysses zählt zu den sinnlichsten und sprachspielerischsten Passagen, die ein europäischer Schriftsteller je zu Papier gebracht hat, ein zu Buchstaben verfestigter, erotischer Gedankenfluss, der schon in sich Musik ist, wenn man ihm etwa in Siobhan McKennas Fassung lauscht. Kate Bush Pläne, den Joyce-Originaltext als Grundlage für den Titelsong ihres sechsten Studioalbums zu verwenden, scheiterten 1989, da es ihr die Erben des irischen Schriftstellers nicht erlaubten. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als die Soliloquy zu paraphrasieren – und dabei wand sie den Kniff an, Molly Bloom aus den Seiten des Buches herausspazieren zu lassen, hinein in die sinnliche Welt, „stepping into the sensual world“.
„The Sensual World“ stellt eine radikale Abkehr von vielen der sirenenhaften Gesangslinien früherer Kate Bush-Songs dar. Nach ihrer eigenen Aussage ist es ein Song, der ihre neugefundene Weiblichkeit widerspiegeln soll, ohne feministisch zu werden. Auf früheren Alben, so Kate, hätte sie doch immer wieder versucht, männliche Kollegen zu imitieren. An frühere Zeiten erinnert allerdings noch das irische Flair: Dieses Mal wird es durch den Uillean Pipes-Spieler Davey Spillane, John Sheahan an der Fiddle und Donal Lunny an der Bouzouki gezaubert, mit letzteren hatte Kate schon auf den Alben Hounds Of Love und The Dreaming gearbeitet. Bruder Paddy trägt mit dem Schwingen einer Angelrute zur ganz besonderen Rhythmusstruktur bei. Die Melodie, die die Iren spielen, ist allerdings mazedonischer Herkunft: Verschiedenen Quellen zufolge soll es der Brauttanz „Nevestinsko Oro“ sein, das ein Fan dem ethnobegeisterten Paddy geschickt hatte.
Beim ersten Hören hat mich „The Sensual World“ grenzenlos enttäuscht – so weit weg war das von allem, was Kate Bush bis dato veröffentlicht hatte. Nach wiederholten Durchläufen hat sich dann der der tanzende, atmende Klangfluss mit der monologisierenden Stimme festgesetzt und mich mehr in den Bann gezogen als viele andere exaltierte Bush-Kompositionen. Die Idee mit dem Waldspaziergang im Video weckt zwar ein wenig unangenehme Erinnerungen an das umstrittene Wald- und Wiesen-Video von Wuthering Heights. Doch wo Bush zwölf Jahre früher mit exaltierter Eurythmie zugange war, folgt sie jetzt in ruhigen Tanzschritten dem Puls ihrer Worte.
Die Single-Vorauskopplung aus dem Album ist heute vor 30 Jahren erschienen – und ist für mich auf immer mit dem Ende des Zivildienstes und dem Anfang des Studiums verbunden. 2011 schließlich nahm Kate Bush das Stück erneut als „Flower Of The Mountain“ auf. Jetzt hatte sie die Erlaubnis, den Originaltext von Joyce zu verwenden – doch an die Version von 1989 reicht die Neuauflage bei weitem nicht heran.