Medeiros / Lucas
Sol De Março
(Lovers & Lollypops)
Man wir schnell fündig, wenn man auf den Azoren nach typischer Musik sucht: Da gibt es die 12-saitige viola da terra mit zwei tränen- oder herzförmigen Schalllöchern, die ein wenig klingt wie die brasilianische viola sertaneja. Sie dient als Begleitinstrument für traditionelle Gesänge, oder steht bei Tänzen wie der Chamarrita im Mittelpunkt. Dann gibt es die Filarmónias, Bläserbands der kleinen und größeren Orte, die ich sowohl auf Dorffesten als auch bei der Prozession zum Heilggeistfest erlebt habe. Doch die Azoren haben auch eine Popularmusik-Szene, die einen Spagat von Pop bis Metal vollführt – und immerhin können sich mit Nelly Furtado und Katy Perry zwei Superstars eine Herkunft von den Inseln auf die Fahnen schreiben. Nun, die vorliegende Platte ist alles andere als vordergründig azoreanisch, sie steht eher für eine Nischenproduktion im Songwriting. Entdeckt habe ich sie im Plattenladen La Bamba der Hauptstadt Ponta Delgada auf der Insel São Miguel.
Mein Portugiesisch hat schon bessere Jahre erlebt, doch bei der Lektüre der Lyrics kann ich über den Farben- und Klangreichtum der Verse staunen, über die vielen metaphorischen Kniffe und elementaren Bilder. Das Meer spielt dabei naturgemäß eine große Rolle, sieht man es auf den Azoren doch meistens. Die gesamte Platte lebt von einem personellen Gegensatz: hier der reife, etwas grummelige, Suggestivkraft entfaltende Sänger Carlos Medeiros, der Texte des Schriftstellers und Dichters João Pedro Porto singt. Und dort die zwischen Indie- und Folkrock angesiedelten Saiten- und Tasten-Künste des eine Generation jüngeren Pedro Lucas, der von den Azoren nach Kopenhagen ausgewandert ist.
Der Opener „Lampejo“ heißt übersetzt nur „Lichtschimmer“, doch er entfaltet mit einer chromatischen Gitarrenmelodie und den drängenden Vocals eine fesselnde Dramaturgie, die eher strahlt als schimmert. „Podre Poder“ hat ein kreisendes Riff auf Gitarre und Keyboard als Unterbau, die fast höfische Melodie erinnert mich an manche Canções der portugiesischen Liedermacher-Ikone José Afonso. „Obscurantismo“ dagegen wummert mit Synth-Bässen, „Os Pássaros“ verströmt Surfrock-Atmosphäre. Und es bleibt unberechenbar: Mit Kirmesorgel und einer folkloristischen Melodie überrascht „Elena Poena“, eine espritvolle Miniatur kommt in Gestalt von „Em Condicional“ mit Vocoder, Vibraphon und kecker Trompete auf uns zu.
In der Schlusskurve wird es mit „As Calendas“ fast noch etwas jazzig, glimmende Fender Rhodes und gestopftes Blaswerk begleiten den poetischen Gesang, bevor mit dem „Fado Do Salto“ das Nationalgenre des Mutterlandes Portugal mit grandioser Rockmelancholie legiert wird. Ein kleines Meisterwerk, das zufällig mitten im Atlantik in meine Hände gefallen ist – fernab aller Inselklischees wäre das dennoch eine Platte für das einsame Eiland.
© Stefan Franzen