Gilberto Gil, Cortejo Afro, Nucleo de Opera da Bahia &
Orquestra Nova Lisboa
Baloise Session Basel, 7.11.2017
Noch einmal in satter Besetzung! Das hatte man von Gilberto Gil, dem Begründer des Tropikalismus, der Ikone der Música Popular, diesem streitbaren, politisch aktiven und sozial engagierten Musiker gar nicht mehr erwartet. Der 75-jährige Ex-Kulturminister, seit über einem halben Jahrhundert auf den Bühnen der Welt, hatte sich zuletzt auf intime Projekte zurückgezogen: eine Live-DVD nur in Zwiesprache mit seinem Sohn, eine wunderbar transparente Samba-Platte. Doch nun noch einmal das ganz große Besteck – mit der Carnavalsgruppe Cortejo Afro und vier klassischen Sängern aus seiner Heimatstadt Salvador da Bahia, sowie dem portugiesischen Kammerensemble des Orquestra Nova Lisboa. Ein Projekt, das derzeit nur ein paar handverlesene Male in Europa zu erleben ist, so auch bei der Baloise Session.
Gil geht hier an eines seiner Herzensthemen zurück: Er als Mann aus Bahia, dem schwärzesten Bundesstaat Brasiliens, hat sich immer um das afrikanische Erbe der Kultur Brasiliens gekümmert, in Afrika selbst musikalische Querverweise über den Atlantik erforscht. Genau zu diesem Zweck gründete sich auch vor rund zwanzig Jahren in Salvador da Bahia der Cortejo Afro, der den kommerzialisierten Karneval neu erdet.
Dass karnevalesker Überschwang an diesem Abend allerdings kaum eine Rolle spielen wird, damit hatten wohl die wenigsten Zuschauer gerechnet.
Als das 12-köpfige Orchester in weißen Gewändern und mit neckischen Federhütchen Platz nimmt, werden die Klänge des afrikanischen Erbes zwar zelebriert, allerdings als selbstbewusster Weg in die abendländische Klassik hinein: Unter Leitung des Italieners Aldo Brizzi gibt es Auszüge aus Scott Joplins mit Ragtime und Blues angetupfter Oper „Treemonisha“. Melancholisch sinnen Flöten und die Geige nach, das Blech verweist auf die Kapellen der frühen Kolonialzeit. Eine Arie wird mit Belcanto-Schmelz von Sopranistin Maria Das Graças De Almeida gefüllt, und die sieben Perkussionisten des Cortejo Afro halten sich mit Sambareggae-Rhythmen teils im Hintergrund.
Gilberto Gil selbst kommt spät auf die Bühne, hat aber zugleich joviale Präsenz, streut mit seiner leicht brüchigen Stimme Dialoge in Richtung Gesangsquartett. Und es ist eine weitere Oper, die den Kern dieses Abend bildet: Mit „Negro Amor“, basierend auf Sanskrittexten, erzählen Gil und Brizzi aus brasilianischer Perspektive die Krishna-Liebesgeschichte mit grandioser Dramaturgie: Kraftvolle chorale Schübe und Blechfanfaren sind die Mittel, aber auch süffige, romantische Brasiljazz-Harmonien mit ergreifenden Flöten- und Klarinettenlinien, inmitten derer Gil seine Stimme mehr und mehr zu altem, warmem Glanz entwickelt. Arrangements, die keine Angst vor Sentimentalitäten haben.
Gils Querschnitt durch seine eigenen Hits sind nur noch der Kitt zwischen den beiden Opernblöcken, doch in diesem Setting leuchten sie neu: „Andar Com Fé“ bekommt durch den Chor einen hymnisch-erhabenen Touch, und „Eu Vim Da Bahia“ singt er mit den für ihn so typischen Jauchzern, verbreitet fast jugendlichen Charme. Mit schmetternden Trompeten wird die Capoeira-Atmosphäre von „Filhos de Gandhi“ bereichert, und zum Schluss donnert seine frühe Erfolgsnummer „Expresso 2222“ mit dem organischen Motor der Trommelgruppe mächtig über die Bühnenbretter.
Einen ganz großen, fast schockierenden Höhepunkt gestaltet Gil komplett solo: „Não Tenho Medo Da Morte“ – ich habe keine Angst vor dem Tod, aber vor dem Sterben: Mit grollender Stimme gestaltet er die Auseinandersetzung des alten Mannes, mit dem, was da kommen wird. Alle, die zum Tanzen gekommen waren, wurden über weite Strecken bitter enttäuscht. Offene Ohren allerdings erlebten einen spannenden Abend – und man ging mit der Erkenntnis davon, dass Brasiliens Ikone auch mit 75 für eine dicke Überraschung gut ist.
Stefan Franzen, veröffentlicht in der Badischen Zeitung, 9.11.2017