A Cantadeira / Omiri
Burghof Lörrach
15.11.2024
MARO
ZOOM Frankfurt
18.11.2024
alle Fotos © Stefan Franzen
Als der Liedermacher José Afonso in den 1960ern loszog, um Portugals regionale Musikkulturen kennenzulernen, war er verblüfft über die Klangfülle seiner Heimat. Dass seine Lieder so einzigartig wurden, verdankt er auch den Einflüssen aus diesem Reichtum. Es ist beklagenswert, dass heute der Fado das Bild Portugals nach außen dominiert, denn diese Fülle ist auch bei der jungen Generation als Inspiration immer noch lebendig und verdient einen Export.
Eine zentrale Gestalt der neuen, jungen Folkszene ist Joana Negrão. Die Frau aus Setúbal hat lange Jahre über die mündlich überlieferte Musik ihres Landes recherchiert und sie mit Bands wie Dazkarieh oder Seiva modernisiert. In ihrem Soloprogramm, das unter dem Namen „A Cantadeira“ (die Sängerin) läuft, verdichtete sich im Burghof Lörrach ihre bisherige Arbeit: Mit Solostimme, Laptop, der Gaita (Portugals Dudeldack) und der einzigartigen quadratischen Rahmentrommel Adufe entwirft sie übereinandergeschichtete Klanglandschaften. „Ich möchte die Tradition der Vorfahren mit dem verschmelzen, was ich in meinem Alltag als Frau, Mutter und Künstlerin an Herausforderungen und Dilemmata erfahre“, sagt Negrão über ihr aktuelles Programm „Tecelã“ (Webstuhl). Ihre ausdrucksstarke Stimme steht im Brennpunkt dieser Soundscapes, die genauso in der südlichen Region Beira-Baixa wie im nördlichen Bergland von Trás-os-Montes wurzeln. Das Ergebnis ist tanzbar, seelenvoll und archaisch zugleich. Manchmal wirken ihre langen Ansagen ein wenig wie eine – dabei sehr unterhaltsame – musikethnologische Vorlesung, doch legt sie damit nur offen, wie ernst es ihr um das Anliegen ist, die Roots Portugals sichtbar und international bekannt zu machen.
Negrãos ehemaliger Dazkarieh-Bandkollege Vasco Ribeiro Casais geht mit seinem langjährig angelegten Projekt Omiri noch einen Schritt weiter: Er kartographiert seine Feldaufnahmen von Sängern und Musikern aus allen portugiesischen Regionen regelrecht und macht sie zur Grundlage seiner durchgängig Dancefloor-tauglichen Arrangements. Während seiner Show sind die traditionellen Akteure auf einer Videoleinwand zu sehen: Trommler in Tracht, seelenvolle Sängerinnen vor ihrem Haus, aber auch etwa Feldarbeiter oder Straßenpflasterer. Ribeiro Casais bettet das folklorische Grundmaterial in wuchtige Perkussion, spielt dazu schnurrende Schlüsselfiedel, das zehnsaitige Zupfinstrument Viola Braguesa, die brasilianische Ukulele Cavaquinho, Dudelsack und Bouzouki. Die reizvoll synchronisierte Interaktion zwischen dem Archivmaterial und den live gespielten Instrumenten hat technoide und zugleich zutiefst rustikale Züge. Es ist ein ergreifendes und genauso tanzbares Seelenbild einer Nation zwischen Vergangenheit und Moderne.
Drei Tage später, Spielort ZOOM Frankfurt. Der ehemalige Techno-Club im östlichen Industriegebiet der Stadt ist nach dem Umbau ein Spielort auch für ruhigere Konzerte geworden. An diesem Abend ist die junge Portugiesin MARO zu Gast, die in Los Angeles in Quincy Jones‘ Kaderschmiede ausgebildet wurde und seit etlichen Jahren vor allem ein Social Media-Phänomen ist. Während der Pandemie hat sie mit Hunderten von Home Video-Duetten von sich reden gemacht, bei denen auch Prominenz bis hin zu Eric Clapton vertreten war. Und, ja, sie hat Portugal mit „Saudade, Saudade“ beim ESC 2022 vertreten (Platz 8!) Die Dichte von 20-30-Jährigen im Publikum ist durchmischt mit Musikliebhabern älteren Semesters, denn die Klangsprache ihres aktuellen Albums Hortelã ist zeit- und alterslos.
Darío Barroso
MAROs Kennzeichen, die hauchige, „minzige“ Stimme, ist hier gestützt von lediglich zwei Gitarren, die aber in den Händen von den sicherlich derzeit größten Koryphäen Kataloniens liegen: Darío Barroso und Pau Figueres. Wie sie um die schlichten, manchmal ohrwurmpoppigen, dann wieder im Open Tuning-Folk beheimateten Songs ein Netzwerk weben, ist zum Niederknien. Mal geht es eher in vom Flamenco oder von der Rumba Gitán angetupfte Gefilde mit verblüffendem Interlocking von Schlageffekten, dann wieder in pure Melodieseligkeit mit kurz eingeflochtenen Solopassagen in hohen Lagen. „Lifeline“ ist so eine Miniatur, die sich von der Dancefloor-Version im Original mit Barroso und Figueres zum verzückten Sonnenstrahl gewandelt hat.
Von MAROs stimmlicher Unpässlichkeit, von der sie erst am Ende des Abends erzählt, merkt man nichts. Im Gegenteil: Für ihre 30 Jahre besitzt sie eine unglaubliche Bühnensouveränität, ihr Charisma ist pure Leutseligkeit mit Saal-Ansprache ohne Allüren. Ihr bewegendes Heil-Lied „Há-de-sarar“ geht mit melancholischer Grundstimmung unter die Haut. Bei „Ouvi Dizer“ animiert sie das Publikum zum Mitsingen des ausgelassenen „Ta-ri-di“-Refrains, in „We Could Be“ bringt sie ihrem Auditorium gar einen ganzen schleifenreichen Vierzeiler bei. Höhepunkt ist die ruhige, fast feierliche Liebeshymne „Juro Que Vi Flores“, in der die Gefühlsregungen wie feines Espenlaub zittern. Zwischendurch holt sie die beiden Niederländerinnen von Lumi auf die Bühne, die ein für meinen Geschmack etwas zu zuckersüßes Opening für sie gegeben hatten. Eine wirbelnde Solo-Einlage der Gitarreros lässt in der Schlusskurve den Atem stocken. Und zum Ende: „Saudade, Saudade“, ihr wiegender ESC-Beitrag: Feuerzeuge im Techno-Club.
© Stefan Franzen