Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? Selbst der romantischste Utopist muss einräumen: Songs allein können die Welt, wenn die politische gemeint ist, nicht verändern. Die Visionen einer Joan Baez sind bis heute unerfüllt, Sam Cookes „A Change Is Gonna Come“ wird durch die Realität Lügen gestraft, Marvin Gayes Verzweiflungshymnen können noch heute aus guten Gründen gesungen werden. Und auch die musikalischen Protagonisten des „Arabischen Frühlings“ müssen zusehen, wie zehn Jahre nach ihren beherzten Auftritten die Hoffnungen von damals zerschellen. Songs können zum Nachdenken animieren, das Aufstehen gegen Unrecht in schlagkräftige Verse packen, Gleichgesinnte in einer gesungenen Vision vereinen. Nachhaltige Auswirkungen haben sie nicht.
Künstler können trotzdem nicht anders, als immer aufs Neue musikalische Mittel mit poetischen Kräften zu koppeln, um gegen korrupte Machthaber, die Lügen der Herrschenden und die Übergriffe der Polizei anzusingen, so wie es der Kuti-Klan in Nigeria seit über 50 Jahren ohne greifbare Ergebnisse tut. Seit Fela Kuti antrat, ist die Geschichte des Landes eine Abfolge von Militärdiktaturen, Vetternwirtschaften und Wahlfälschungen, ethnischen und religiösen Konflikten, mitverursacht durch die kolonialen Altlasten. Dabei ist die Waffe namens Afrobeat, die Fela vor über 50 Jahren schmiedete, eine akustisch mächtige, paart die Chants der Yoruba mit den Rhythmen des Funk und glühender Wut in den Texten.
Nach dem Patriarchen und seinen Söhnen Femi und Seun tritt jetzt die dritte Generation auf den Plan: Felas Enkel Made Kuti veröffentlicht sein Debüt-Album „For(e)ward“. Es ist auf Wunsch des Vaters Femi eine konzertierte Aktion: Zeitgleich erscheint dessen neues Werk „Stop The Hate“. Femi hält auf seiner neuen Scheibe am Sound fest, den er seit dem legendären „Shoki Shoki“-Album (1997) etabliert hat: Kompakter, schneller, zorniger Afrobeat mit dichten Backgroundchören, keine harmonischen Abschweifungen, direkte, konfrontative Anklage von Regierung und den Ausbeutern Afrikas. Doch so aufwühlend die Band, merkt man ihrem Leader die lange, vergebliche Rage an, seine Stimme scheint müde, abgekämpft.
Femi Kuti: „As We Struggle Very Day“
Quelle: youtube
Sohn Made tönt merklich anders: Sein Afrobeat gibt sich reflektierter, fast feinfühlig, auch wenn ein paar Uptempo-Stücke wie die knackige Single „Free Your Mind“ noch partytauglich sind. Textlich besteht sie gerade mal aus einer Zeile: „Befreie deinen Geist und entfessle deine Seele“ klingt eher nach esoterischem Heilsversprechen, denn nach politischer Aktion. Doch Made stellt im Pressetext klar: „‚Free Your Mind’ heißt, alle Möglichkeiten des Verstands auszuschöpfen, kritisch zu sein, Antworten zu finden.“ Und dann wird es konkreter: „Your Enemy“ prangert Polizeigewalt nicht nur an, sondern sucht nach ihren Ursachen. Made singt das auf Pidgin English mit seiner zornfreien, geradezu lyrischen, dunkel getönten Stimme, während sich die Bläsersätze um ihn aufbäumen. „Blood“, ein fast melancholische Betrachtung der Black Power, ist eine verstörende, fast räumliche Collage aus politischer Rede und rhythmisch komplexem Marching Band-Gefüge.
Um sexuelle Übergriffe geht es in „Young Lady“, mit derart gewagten Harmonien, dass man sie erst bei wiederholtem Hören durchdringt. Hier siedeln die Talking Heads fast um die Ecke. In einer Schlüsselzeile des Debütwerks stellt Made klar, dass sein Opa kein Prophet einer besseren Zukunft war: „Jetzt müssen wir verstehen, wie erschreckend es ist, dass wir dieselben Probleme wie in den Siebzigern haben und wie hart wir kollektiv daran arbeiten müssen, uns zu befreien.“ In der dritten Generation ist der Afrobeat vom Agitprop zur Analyse übergegangen, ist eher Kunst als Konfrontation. Mades Schlusswort transportiert immer noch Hoffnung auf Veränderung: „We Are Strong“ ist sein Appell an die Macht der Gewaltfreien.
© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 15.02.2021