Das Drehbuch schrieb der Ozean

Charles Maimarosia

Liebe Freund*innen!

Heute wird dieser Blog fünf Jahre jung.  Ich möchte das nachdenklich feiern – mit einem Thema, das nur auf den ersten Eindruck weit weg sein mag, aber uns alle angeht. Es geht um Musiker, deren Heimat auf der anderen Seite des Planeten liegt: Sie kommen aus Rapa Nui, Aotearoa, Taiwan, den Salomonen, Sarawak, Madagaskar und vielen weiteren Inselgebieten des Pazifischen und Indischen Ozeans. In einem weitverzweigten Projekt zeigen uns diese 50 Musiker*innen die Stärke der austronesischen Kultur und die Verletzlichkeit der Weltmeere und des Regenwalds. Small Island Big Song ist nicht nur eine bunte exotische Show. Es ist ein letzter Appell an uns alle.

„Manche sagen, der Ozean trennt uns. Wir sagen: Der Ozean vereint uns.“ So steht es auf der Leinwand des Rudolstädter Theaters, auf der Clips aus dem Pazifischen und Indischen Ozean laufen. Eine Reise durch Inseln und Riffe, durch den Regenwald, entlang von Flüssen, Reisfeldern und in Dörfer der Ureinwohner, durch die Habitate von Leguanen und Lemuren. Davor, auf der Bühne, ein verwirrend vielschichtiges Geschehen: Neun Musiker in leuchtend bunten Kleidern, mit großartigem Kopfschmuck und Körperbemalung vereinen sich zu kraftgeladenen, mal archaisch beschwörenden, mal fast poppigen Chorgesängen. Doch da sind auch zarte Elemente, Mondlieder, Lullabies, das Hauchen von Nasenflöten. Eine Vielzahl an Schlaginstrumenten, Muschelhörnern, Pan Pipes, Schwirrhölzern, Zithern und Lauten kommt zum Einsatz, untermalt wird die Musik von Natursounds, Vogelgesang, dem Gluckern von Wasserläufen, und immer wieder: dem Tosen der Wellen. Doch der Ozean ruckelt. Via Laptop eingespielt vom australischen Musikproduzenten Tim Cole setzt das Brausen immer wieder für Sekundenbruchteile aus, als wolle sich dieser gewaltige Sound mit keiner noch so großen Rechnerleistung einfangen lassen. Und irgendwie ist das auch ein unfreiwilliges Symbol dafür, dass mit unseren Weltmeeren etwas nicht stimmt.

Was sich hier beim Rudolstadt Festival abspielt, ist eine genauso eindrückliche wie friedliche Machtdemonstration einer der ältesten Kulturen der Menschheit. Es ist zugleich die mit dem größten Territorium überhaupt und mit der sechstgrößten Sprachfamilie der Erde. „Small Island Big Song“, kurz SIBS, nennt sich das Projekt, in dem Cole und seine taiwanesische Frau, die Projektmanagerin BaoBao Chen indigene Musiker aus Rapa Nui (Osterinsel), Aotearoa (Neuseeland), den Salomonen, Taiwan, Sarawak (Nordborneo), Madagaskar und vielen weiteren Inseln zusammenbringen. „Es ist faszinierend, dass vor 5000 Jahren, also vor dem Bau der ägyptischen Pyramiden, eine Gruppe von Menschen die Technologie, Navigationskunst und den Mut besaß, von Taiwan aufs offene Meer hinauszufahren“, sagt Cole. „Für sie muss das gewesen sein wie für uns heute eine Reise zum Mars.“ Die austronesische Kultur – zu ihr zählen unter anderem Poly-, Mela- und Mikronesien – hat sich bis 1100 nach Christus immer weiter im ganzen Pazifik und Indik verbreitet, von den Philippinen über Malaysia nach Madagaskar, von Fidji über Tahiti bis nach Hawaii und Rapa Nui, zuletzt nach Neuseeland – über 22.000 Kilometer. Das Drehbuch ihrer Geschichte schrieb also gewissermaßen der Ozean selbst.

Zumindest den Älteren von uns hat man im Schulunterricht beigebracht, dass der portugiesische Entdecker Fernando Magellan, dessen Erdumsegelung sich gerade zum 500. Mal jährt, als Erster den pazifischen Raum durchmessen hat. Es ist längst überfällig, diese eurozentrische Perspektive über Bord zu werfen. „Noch heute haben wir überall ähnliche Wörter für die Zahlen“, sagt Charles Maimarosia, der den Are’Are von der Salomoneninsel Malaita angehört. Der Sänger und Spieler von Pan Pipes und mannshoher, getrommelter Bambusrohre, ist zum Interview im Heinepark mitgekommen. Eben noch mit muschelbesetztem Outfit auf der Bühne des Kinderfestes, fröstelt er jetzt mit Pullover und Baseballkappe im kühlen Sommerwind. „Auch die Wörter für andere, täglich verwendete Begriffe wie ‚Augen‘ (‚mata‘) sind überall gleich. Wir wollen nicht unsere Unterschiede herausstreichen, sondern unsere Gemeinsamkeiten. Und die Musik ist Teil der Menschheit, seit sie existiert.“ Die Vielfalt in der Gemeinsamkeit zu feiern: Das ist die Philosophie des Projekts Small Island Big Song. Doch die koordinierende Kraft dafür kam wie so oft bei Weltmusikprojekten nicht von den Indigenen selbst.

Niedergeschlagen von den Berichten darüber, wie sich Erderhitzung und Plastikvermüllung auf die Ozeane auswirken, beschlossen BaoBao Chen und Tim Cole vor vier Jahren, ihre Organisationstalente zu nutzen und auf die düsteren Zukunftsaussichten mit einer kulturellen Gegenkraft zu antworten. „Wissenschaftler liefern seit Langem Fakten und Lösungen, aber niemand hört richtig zu“, sagt Chen. „Wir haben die Gabe, mit den Musikern eine Geschichte zu erzählen, und wenn wir so die Menschen übers Herz ansprechen, können wir vielleicht eine nachhaltigere Veränderung anstoßen.“ Immer wieder fällt im Interview ein Wort, das für die Austronesier zentral ist: „Mana“ kann man als Verantwortung, aber auch als Integrität, Anerkennung übersetzen. „Wir wollten, dass so viel Mana wie möglich in unserem Projekt ist“, sagt Cole. „Deshalb haben wir Künstler ausgewählt, die auf ihrer jeweiligen Insel als Wächter der Kultur gelten, und sie gebeten, einen Song in ihrer Umgebung, draußen in der Natur einzuspielen und dann mit den anderen zu teilen.“

Von den vielen Beteiligten, allesamt ganz verschiedene starke Persönlichkeiten, können wir hier leider nur einige herausgreifen: Ganz zentral ist etwa eine der drei taiwanesischen Musikerinnen und Musiker, SiaoChun Tai. Sie ist Paiwan, eines von sechzehn auf Taiwan lebenden indigenen Völker, die zum Teil immer noch um ihre Anerkennung von offizieller Regierungsseite kämpfen. „Paiwan sind gewöhnlich eher introvertiert“, sagt sie, „daher sind unsere Lieder auch eher statisch, und wir verwenden eine Menge Metaphern in den Texten. Wenn wir zum Beispiel einen hübschen und talentierten Mann preisen wollen, tun wir das mit der Umschreibung ‚erstklassige Zypresse‘, eine solche Frau würde ‚bunter Schnellkäfer‘ genannt werden. Selbst in Liebesliedern stellen wir also einen Bezug zur Natur her.“

Small Island Big Song feat. Siao Chun Tai: „Senasenai A Mapuljat“
Quelle: youtube

Es gehört zu den ergreifendsten Momenten einer Small Island Big Song-Show, wenn SiaoChun Tai mit ihrer dunklen Stimme ihr Lied „Senasenai A Mapuljat“ anstimmt, im begleitenden Video dazu schaut sie bei Mondschein auf den Ozean hinaus, singt von der Verwandtschaft der austronesischen Völker, deren Vorfahren einst an diesem Strand aufbrachen. Eine Verwandtschaft, die auch heute noch auf Taiwan gespürt wird: Als Charles Maimarosia vor zwanzig Jahren mit seiner Bamboo-Band nach Taiwan kam, vergaß die Gruppe dort eines ihrer Bambusinstrumente. Die Einheimischen kannten solche Instrumente noch von alten Fotos, sie waren bis vor kurzem dort auch noch beheimatet, aber das Wissen um die Fertigung und ums Spiel war bereits abhandengekommen. Dank dieses einen Instruments konnte die Tradition wiederbelebt werden, und heute gibt es bereits einen ganzen Park zu Ehren der „Bamboos“ an der Ostküste.

Instrumentenkunde ist neben dem omnipräsenten Naturbezug ein spannendes Kapitel in den austronesischen Verflechtungen, und wir finden sie auch bei der SIBS-Musikerin Alena Murang aus Sarawak, dem malaiischen Teil Borneos. Die aussterbende Pagang, die in ihrem Kelabit-Dorf noch gespielt wird, ist eine frühe Verwandte der madagassischen Röhrenzither Valiha, die Sammy Samoela in der Band virtuos einbringt. Murangs Hauptinstrument ist aber die Sape, eine bootsförmige Laute, die bis zur Christianisierung bei Heilungszeremonien verwendet wurde und einen zärtlichen, beruhigenden Klang hat. Mit der Sape sorgt sie für eine bewegende Facette bei SIBS, wenn sie zu Ehren des Flusses, an dem sie geboren wurde, das Stück „Pemung Jae“ anstimmt. Alena Murang bezeichnet sich als „kulturelle Aktivistin“ und steht zwischen den Welten: Ihr Vater ist Kelabit, ihre Mutter eine anglo-italienische Ethnologin, und sie selbst versucht, die Kultur der Kelabit sowohl forschend als auch ausübend zu bewahren, in Musik und Bildender Kunst.

„Ein Großteil meiner Arbeit besteht darin, mit den Alten zusammenzusitzen, ihr Vertrauen zu gewinnen und einfach zuzuhören, was sie mir weitergeben wollen. Seit der Generation meiner Großeltern haben wir gewaltige Veränderungen durchgemacht, etwa was die Glaubenswelt und den Übergang vom Dorf- zum Stadtleben betrifft.“ Murang lebt zwar in Kuala Lumpur, kehrt aber zur Reisernte, die bei den Kelabit als heilig gilt, in ihr Dorf zurück, oder auch, um neue Lieder zu lernen, die sie in die Arbeit mit SIBS einbringt. Hoffnung macht ihr, dass junge Indigene nun auch auf Borneo anfangen, wie zuvor schon in Kanada oder Neuseeland, Fragen nach ihrer wahren Geschichte stellen und diese aufarbeiten. Die Natur ist dabei ganz zentral: „Wenn wir über kulturelles Erbe sprechen“, so Murang, die sich auch für den Schutz der Ozeane einsetzt, „dann betrifft das genauso die Umwelt. Auch die Natur ist unser Erbe.“ Eine Erkenntnis, die sich schnell durchsetzen muss: Drei Viertel des Regenwaldes von Sarawak, der älteste der Erde, sind von Abholzung bedroht oder bereits vernichtet.

Wohin unkontrolliertes Fällen von Bäumen führt, dafür gibt es im Pazifik ein historisches Beispiel: Zum Kanubau und Ofenbefeuern haben die Bewohner in früheren Jahrhunderten die einst dicht bewaldete Osterinsel (Rapa Nui) komplett gerodet. Nach der landschaftlichen Verödung sind die mythischen Moa-Statuen heute das Pfund, mit dem das Eiland wuchert. Yoyo Tuki ist der einzige Musiker der knapp 6000 Einwohner zählenden Insel, der seine Botschaft von der Erhaltung der Inselkultur um die Welt trägt, die schon lange mit Pop flirtet. So ist Tuki der „Hit-Maker“ von SIBS: Mit „Ka Va‘Ai Mai Koe“ hat er der All Star-Band einen Ohrwurm im Reggae-Gewand geliefert. „Wie überall im Pazifik ist Reggae auch auf Rapa Nui sehr beliebt, und ich sehe mich als zeitgenössischen Songwriter, der solche Einflüsse auch miteinbezieht.“

Small Island Big Song feat. Yoyo Tuki: „Ka Va‘ ai Mai Koe“
Quelle: youtube

Tukis Transportmittel dafür sind eine Ukulele und eine charismatische Stimme, die auf der Bühne vor allem im Trio mit Charles Maimarosias Bambus-Bass und dem berühmten Einschüchterungstanz Haka des Maori-Sängers Jerome Kavanagh eine virile Wechselwirkung entfaltet. Seine Texte sind von der Lebenserfahrung der Rapa Nui-Community geprägt, die auch heute wieder mit Umweltproblemen zu kämpfen hat: „Wir leiden zwar nicht unter dem steigenden Meeresspiegel wie andere Pazifikinseln, aber es wird eine unglaubliche Menge Müll aus Asien, Amerika und Europa an unsere Küsten gespült. Wir müssen die einsammeln und auf Schiffen nach Chile zurückschicken. Fische und Schildkröten konsumieren das Plastik und verenden daran.“ Die unkontrollierte Einfuhr von Autos und die Flut an Touristen, die die berühmten Moa-Statuen anschauen wollen, sind weitere Probleme: Gerade die Erlebnisreisenden zerstören den unberührten Charakter von Rapa Nui. „Meine Rolle ist es, die junge Generation weltweit zu erreichen“, sagt Yoyo Tuki, „ihnen von unserer Identität und den Werten zu erzählen, die durch die moderne Lebensweise weggefegt wird.“

Auch auf der CD von Small Island Big Song ist die Natur stets präsent. 18 Stücke wurden schon vor den ersten Livekonzerten von Tim Cole zu regelrechten Mosaiken zusammengefügt, mit insgesamt 50 Musikern, die nicht alle Teil der Shows sein können. „Es war fast unmöglich, eine Entscheidung zu treffen, in welche Reihenfolge wir die Songs bringen sollten“, erinnert sich Cole. „Letztendlich haben uns die Naturgeräusche, die wir immer mit aufgenommen haben und die wie ein weiterer Musiker wirken, die Entscheidung abgenommen: Erst kommen Stücke, die im Regenwald angesiedelt sind, dann sind die Wassersounds in den Mangroven und an Flüssen Thema, schließlich geht es zum Ozean.“ Zu jedem Track gibt es außerdem einen Film, die allesamt online zu sehen sind. Dort antwortet etwa die taiwanesische Sängerin Ado Kaliting Pacidal nach einem Taifun am Strand auf eine Röhrenzither aus Madagaskar. Charles Maimarosias Bambus-Instrumente fanden ihren Widerhall bei einer Band auf der Insel Bougainville und wurden mit Wasserpercussion von Frauen aus Vanuatu gepaart. Und der Rapper Sandro aus dem madagassischen Volk der Vezo vereinigt sich in „Gasikara“ mit seinem Kollegen Mau Power von den Torres Strait-Inseln zwischen Australien und Papua-Neuguinea zu einer Klage über das Verschwinden von Korallenriffen.

Ein Problem des ganzen ozeanischen Raumes: Charles Maimarosia ist es, der zum Ende des Interviews als unmittelbar Betroffener von der Klimakatastrophe einen Einblick in seinen Alltag gibt: „Auf der Salomonen-Insel Guadacanal sind die Korallen seit einigen Jahren bleich, es ist kein Leben mehr in ihnen, der Laichraum für die kleinen Fische ist zerstört. Außerdem beobachten wir, dass das Wasser jedes Jahr steigt, es hat das Grasland überflutet, wo früher unsere Hütten standen. Wir können nirgendwo anders hin, Papiere für andere Staaten bekommen wir nicht. Irgendwann wird es zur Überbevölkerung kommen, wir müssen unsere Zukunft mit großem Bedacht planen.“

Die Austronesier haben über Jahrtausende stets im Einklang und in Nachhaltigkeit mit der sie umgebenden Natur gelebt. Mit der internationalen Arbeit von SIBS geht jetzt ein bereits altbekanntes Dilemma der Globalisierung einher: Um die riesigen Distanzen zu überbrücken und im Teamwork ihre Botschaft um die Welt tragen zu können, muss der Musikertross etliche Langstreckenflüge absolvieren. Trotzdem werden das „Peanuts“ sein im Vergleich zum Schaden, den der Westen in ihren Regionen anrichtet. Letztendlich sind wir es, die darüber entscheiden, ob dieses kulturelle Netzwerk überleben oder an unserem Wohlstand zugrunde gehen wird – mit jeder Kreuzfahrt, jedem Flug und jedem Stück Plastikmüll.

dieser Artikel ist erschienen in der Zeitschrift Folker, Ausgabe 5/2019

CD: „Small Island Big Song“, zu bestellen auf der Website www.smallislandbigsong.com

Radiotipp: SRF2 Kultur strahlt am Freitag, den 18.10. in der Sendung „Passage“ mein einstündiges Special über Small Island Big Song aus.

Small Island Big Song feat. Ben Hakalitz & Koyawa: „Alie Sike“
Quelle: youtube

Paddy Bush II: Schmuse-Instrumente und ein Phönix

                                              Paddy Bush nach dem Vortrag in Aarau, Foto: Stefan Franzen

Die Schlusstakte von „The Red Shoes“ verklingen, Paddy beantwortet ein paar Fragen und ich blicke unruhig auf meine Uhr. Er sei etwas müde, denn um in die Schweiz zu kommen, war er sehr früh aufgestanden, hat man uns am Anfang schon gesagt. Zudem hat er deutlich die vorgesehene Zeit seines Vortrags überschritten. Im Geiste schreibe ich das versprochene Interview schon ab, oder stelle mich darauf ein, dass ich mich mit einem Viertelstündchen begnügen muss.

Doch nach etlichen Handshakes und Selfies mit den Gästen stellt mich Eva Keller ihm vor, und er setzt überhaupt keine zeitliche Begrenzung. Er hat nur eine Bitte: Eine Tasse Tee möchte er gerne haben. Und so sitzen wir in gemütlichen Ledersesseln in einem hohen Raum mit einem bemalten Fries unter der Decke und starten. Vielmehr: Paddy startet, denn wie sich schnell herausstellt, kann man diesen unvergleichlichen Geschichtenerzähler wenig lenken und erst recht nicht stoppen. Aus dem befürchteten Viertelstündchen werden sagenhafte 70 Minuten, während derer ich meinen Fragezettel bald wegwerfe und einfach zuhöre.

Wie wir auf das Eingangsthema kommen, ist mir im Nachhinein schleierhaft: Weit holt Paddy aus über die Unterschiede des Musizierens zwischen den 1920ern und 1960ern. Die Uilleann pipes, der irische Dudelsack und die sardischen Launeddas klängen auf alten Aufnahmen sehr kantig, Staccato-haft, sagt er, in den Sechzigern sei dann plötzlich ein Flow in die traditionelle Musik hineingekommen, an vielen Orten der Welt unabhängig voneinander. Ein Bewusstseinssprung, wie mit den Affen, die Kartoffeln waschen, werfe ich ein. Ja, oder wie mit den Schafen in Wales, die gemerkt haben, dass sie über das cattle grid rollen können und dann in die Gärten der Nachbarn eingedrungen sind, um sie zu verwüsten, meint Paddy. Das wird ein lustiges Gespräch, denke ich mir. Und nutze eine Sekunde, in der er am Tee nippt , um ihn zu fragen, wie er denn ursprünglich zur Musik gekommen ist.

Bush: Auf der Seite meiner Mutter gab es viele traditionelle Musiker aus Irland. Mein Großvater war auch ein Instrumentenbauer. Sie waren arm, um also Zugang zu bestimmten Dingen zu bekommen, mussten sie sie selbst herstellen. Und ich vertrete die gleiche Sichtweise: Einige Dinge, an die du nicht rankommst, musst du dir eben selbst bauen.

Keltische Musik war also der Startpunkt für dich?

Bush: Es war das Folkrevival der 1960er, das für mich den Ausgangspunkt bildete. Ich machte meine erste Feldaufnahme von traditioneller englischer Tanzmusik als ich dreizehn war. Ich hatte ein Tonbandgerät, das unglaublich viele Batterien verbrauchte, aber Aufnahmen von fantastischer Qualität machte. Das war noch das Zeitalter vor den Kassettenrekordern. Ich habe traditionelle Musik immer geliebt und hatte immer eine sehr fixierte Sicht auf Musik als die einzig wahre Religion. Aber es kamen eben immer wieder Dinge vorbei, die meinen Glauben komplett zerstört haben. Weiterlesen

Paddy Bush I: Ein Zither-Gott und königliches Theater

Paddy Bush
„The Beauty & Complexity of Malagasy Music“

Forum Schlossplatz Aarau, 21.09.2017

Bis in die letzte Stuhlreihe ist der kleine Saal im Forum Schlossplatz besetzt. Als ein „Ort der Reflexion und Debatte“ stellt sich die seit 1994 im schweizerischen Aarau bestehende Einrichtung dar. Das Publikum soll hier “zur Auseinandersetzung mit kulturellen und gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart“ angeregt werden. Dafür haben die Macher aber auch wirklich eine schöne Stätte gefunden: eine Villa, die hoch über der Aare thront, am Eingang zur Altstadt der Aargau-Metropole mit ihren trutzigen Häusern. Was hier gleich passieren wird, darauf weisen in diesem schönen Saal mit seinen knarrenden Dielenböden und dem Kronleuchter zwei Dinge hin: Vorne, auf einem kleinen Podest, ruht ein länglicher Metallkasten mit Saiten, den man als Experte vielleicht als die Zither Marovany erkennt. Und an der Wand ist eine kleine Karte von Madagaskar festgepinnt.

Von hinten erschallt ein „Good Evening“ und ein Mann mit grauem Wuschelkopf nimmt im Schneidersitz an der Marovany Platz. Im nächsten Moment ist der Raum erfüllt von filigranen Tongirlanden, die nicht nur Weltmusikfreaks bekannt vorkommen. Auf Kate Bushs Alben The Sensual World und The Red Shoes kann man solche auch entdecken. Kein Wunder, denn besagter Herr mit dem grauen Wuschel und dem fast zarten Lächeln ist ihr Bruderherz Paddy Bush. Klar, er hat sich schon ein wenig verändert, seit er in der Fernsehfassung des Songs „The Wedding List“ den Bösewicht spielte oder auf den Werbefotos für The Red Shoes posierte, doch man erkennt ihn sofort. Was um Himmels willen tut er mitten in der Schweiz? Die Antwort ist denkbar einfach: Er möchte Begeisterung wecken für seine größte Leidenschaft seit Jahrzehnten, die Musik Madagaskars. Weiterlesen

Paddy Bushs Trip in die Schweiz

Spannender Besuch in der Schweiz: Paddy Bush, Bruder von Kate, war vorgestern beim Forum Schlossplatz Aarau zu Gast, um über seine große Liebe, die madagassische Musik zu sprechen. Eingeladen hatte ihn die Ethnologin und Madagaskar-Expertin Eva Keller. Sie hat auch die Hör-Ausstellung Teny – Tany – Tantara kuratiert, die noch bis zum 1. Oktober läuft.

Mehr zu Paddys Vortrag und meinem Interview mit ihm, in dem er nicht nur über seine Forschungen auf Madagaskar, sondern auch seinen Instrumentenbau und seinen musikalischen Einfluss auf Kate Bush sprach, hier in Bälde!

Mein Beitrag über Paddy im Schweizer Radio SRF 2 Kultur ist am Dienstag ,den 26.9. um 20h in der Sendung Jazz & World aktuell zu hören, in der Wiederholung am Freitag, den 29.9. um 21h.

RIP: Madagaskars Tastenkönig


Er wurde dank seines virtuosen und vielgestaltigen Spiels oft im gleichen Atemzug mit den besten Akkordeonisten wie Flaco Jimenez und Richard Galliano genannt. Régis Gizavo aus der madagassischen Hafenstadt Tulear hat das Instrument, das Seeleute in seiner Heimat schon vor mehr als einem Jahrhundert heimisch gemacht hatten, auf ein Weltniveau gehoben. Im Alter von 58 Jahren ist er am 16. Juli gestorben.

Ganz und gar erstaunlich, was der Tastenkünstler in seinem Repertoire alles zusammenschweißte: seine Vergangenheit in Variété-Bands des Inselkontinents, die Tradition des Exorzismus, das Nachbilden des Sounds der Marovany-Zither sowie Facetten von Jazz bis zu Orient-Einsprengseln. Bereits 1990 bekam er dafür den Prix Découvertes von Radio France Internationale, was für ihn zum Sprungbrett für eine weltweite Karriere wurde. Während der tauchte er in die Jazz-Szene seiner neuen Heimat Paris mit der Bohé Combo ein, avancierte zum festen Mitglied der korsischen Supergruppe I Muvrini, trat mit Richard Bona und Sally Nyolo auf.

Sein ganzes Können jedoch legt Régis als Solist offen. Mit seinem chromatischen Akkordeon entfachte er Funkenflüge voller Rasanz mit der heilkräftigen Renitra-Rhythmik, streute Cajun-Anklänge ein. Die raffinierte Beherrschung der 120 Basstasten wurde sein unverkennbares Markenzeichen. Ökologisch engagiert zeigte sich Gizavo in seinen Texten, klagte die unkontrollierte Abholzung seiner Heimat an, setzte sich für den Tierschutz ein. Zu den Highlights unter seinen jüngeren Aufnahmen zählt die „Accordion Night“, ein Gipfeltreffen mit Musikern des ACT-Labels, das auf Vermittlung des Gitarristen Nguyen Lê zustande kam.

Toko Telo feat. Régis Gizavo: „Relaza“
Quelle: youtube