Ungekannte Nähe


Der iranische Musiker Misagh Joolaee ist einer der erstaunlichsten Erneuerer der klassischen persischen Musik. Von seiner Wahlheimat Berlin aus geht der Virtuose auf der Stachelgeige Kamancheh zumBeispiel Teamworks mit deutschen und türkischen Kollegen ein, hat einen breiten Hintergrund von Barock bis Flamenco. Jetzt ist sein erstes Soloalbum Unknown Nearness erschienen. Darüber, und über die Geheimnisse seines Instruments hat er sich mit mir unterhalten.

SRF 2 Kultur sendet meinen Beitrag über Misagh Joolaee am heutigen Dienstag, den 21.9. in der Sendung Jazz & World aktuell ab 20h (Wiederholung am 24.9. ab 21h). Zu hören im Stream, oder in der Schweiz auch nach Ausstrahlung im Podcast.

John Coltrane: Astronaut des Jazz – Jazz und World aktuell – SRF

Misagh Joolaee: „Unspoken Words“
Quelle: youtube

Wortloses Sehnen

Auf dem Cover seiner neuen CD schaut Misagh Joolaee aus einem schlichten Fensterrahmen hinaus, in die Weite, auf einen unbekannten Punkt. Sein Blick ist zugleich nach innen wie nach außen gekehrt, fragend, sehnsüchtig. Eine Haltung, die die Philosophie hinter dem Solo-Werk des iranischen Stachelgeigen-Virtuosen schön im Bild eingefangen hat. Denn Unknown Nearness ist ein Album, das nicht nur die Spieltechnik auf der Kamancheh revolutioniert, sondern auch die drängenden Fragen des Künstlerdaseins in sich trägt.

Diese Fragen haben sich schon im Titel niedergeschlagen. „Darin liegt eine Ambivalenz, die sich vor allem auf den Entstehungsprozess der Stücke bezieht“, erläutert der in Berlin lebende Musiker. „Wenn ich etwas Neues schaffe, ist da eine Dringlichkeit und eine Sogkraft, die sich unbekannt und ungewohnt anfühlt, zugleich aber doch nah, denn all das kommt ja aus mir. Du bist ungeduldig, willst diesem Gefühl auf den Grund gehen.“ Und er zitiert den Autor Ferdinand von Schirach, der einmal gesagt hat, ein Künstler könne gar nicht in sich ruhen und endgültige Zufriedenheit spüren, daher suche er nach einem Ausweg, einer Lösung durch sein Schöpfen. Diese Lösung allerdings könne er nie ganz erreichen, sonst stünde er ja still und wolle nicht mehr auf der Suche sein.

Nach seinem letzten, von der Deutschen Schallplattenkritik prämierten Album „Ferne“ mit dem Perkussionisten Sebastian Flaig, war es eigentlich eine logische Konsequenz für Misagh Joolaee (sprich: dschulei), bei der Auslotung seines Instruments auf den konzentriertesten Ausdruck zurückzugehen, der möglich ist: das Solospiel. Die Corona-Pandemie als Zeit der Isolation hat diesen Schritt noch forciert. Entstanden ist ein Zyklus von zwölf Stücken, die einen Bogen zwischen persischer Tradition und hintergründigen Anklängen an beispielsweise den Flamenco oder Johann Sebastian Bach auffächern, wie er auch unter der Generation junger Musiker mit persischer Provenienz einzigartig sein dürfte.

Der 38-Jährige aus der nordiranischen Provinz Mazandaran erlernte das persische Skalensystem, den Radif auf der europäischen Geige, bevor er auf die obertonreiche Stachelgeige umstieg. Er hat zugleich ein profundes Wissen in abendländischer Klassik und andalusischen Formen, war stets ein Suchender, ein Erneuerer, ohne sich von der Verankerung in der Tradition bilderstürmend losreißen zu wollen. „Meine Denkweise und meine Sprache ist tief im Radif verwurzelt, wenn ich ein Stück in einem bestimmten Modus (Dastgāh) schreibe, dann bediene ich mich automatisch der überlieferten Spielfiguren (Guschehs). Was ich aber an Neuem beisteuere, das liegt im Bereich der von mir erfundenen Spieltechniken und noch nicht versuchten Rhythmen.“

Foto: Jo Titze

Das offenbart sich gleich zu Beginn von Unknown Nearness: Mit „Origins“, seiner Adaption einer bekannten Melodie aus Mazandaran, imitiert er den Klang der Laleva-Flöte. Das erreichte er im vortastenden Experimentieren, fand schließlich eine unerhörte Kombination von Obertönen und darunter liegendem Tremolo. Und im schnellen Teil entwickelt er verblüffende Virtuosität durch Staccato-Techniken, die einen mitreißenden, wirbelnden Galopp erzeugen. Diese besondere, wirbelartige Klangcharakteristik hat er vom persischen Hackbrett Santur auf die Kamancheh übertragen, sie begegnete ihm erstmals im Spiel von Parviz Meshkatian.

Ein Name, der im Gespräch mit Joolaee immer wieder fällt, er verehrt den 2009 verstorbenen Meister und hat ihm daher auch sein längstes, zentrales Stück auf der CD gewidmet, „Vastness“. „Sein Santur-Spiel ist mir von Kindheit an vertraut, und es hat mich so erfüllt, dass ich mir zunächst gar nicht vorstellen konnte, wie man da noch eins draufsetzen könnte. Das Wort ‚vastness‘ bezieht sich auf seine freien Improvisationen, wie er die verschiedenen Motive miteinander kombiniert und einen großen Bogen aufspannt mit Höhen und Tiefen.“ Joolaee erreicht in dieser zehnminütigen Ausgestaltung eine ähnliche Tiefe, ähnliche Innerlichkeit.

Den Widerstreit zwischen dieser spirituellen Tiefe und den neuen virtuosen Techniken in Balance zu bringen, sei ein Spagat gewesen, versichert Joolaee. Man dürfe nie den Fokus auf den Klang verlieren, es sei unabdinglich, jeden einzelnen Ton zu würdigen, sich zu fragen, ob eine virtuose Passage in einem Stück ihre Berechtigung habe. Geholfen hat ihm bei diesem Spagat das Studium eines anderen Vorbildes, Paco de Lucia, dem er das Stück „Nightwind“ gewidmet hat, gipfelnd in einem dem Flamenco entlehnten Rhythmus.

Misagh Joolaee: Nightwind“
Quelle: youtube

Ein klassisch ausgebildeter persischer Musiker auf Flamenco-Spuren? Es ist nicht die erste Brücke, die einem einfallen würde. Doch Joolaee erklärt das schlüssig. „In Flamenco-Formen wie der Soleá, der Taranta oder der Farruca hört man als persischer Musiker sofort Modi wie Schur, Nawā oder Isfahan heraus. Sie haben gemeinsame Wurzeln, und der Begründer der arabo-andalusischen Musik in Córdoba, Ziryab, stammte ja aus dem persischen Reich. Als ich mit meinen Flamenco-Kollegen zusammenkam, fiel ihnen auch auf, wie gut dieser rauchige, kratzige Klang der Kamancheh zum Flamenco-Klang passt, viel mehr als die Gitarre!“

Diese Unreinheit und Unschärfe, das Brüchige, ja, Gebrochene, das interessiert Misagh Joolaee auch in der menschlichen Stimme. Ihr gibt er in einer bewegenden Gedichtvertonung des großen Poeten Attar aus Neyschabur mit dem Stück „Deceived Heart“ Raum. Es sind Verse über die Sehnsucht nach der Geliebten, die in Sehnsucht nach dem Göttlichen mündet. Und hier schließt sich der philosophische Bogen: Die Suche nach dem Höheren, sie kann im Laufe eines Lebens nie zu Ende sein. Joolaee hat diese Erkenntnis in einem weiteren Paar von Stücken wie in einem Brennspiegel eingefangen, „Thrownness“ und „Longing“: Wie der Bogen da auf die Saiten fällt, das ist ein treffendes motorisches Abbild für die „Geworfenheit“ des Menschen in seine Existenz, so hätte es Heidegger formuliert. Für die Zwangsläufigkeit, mit der der Mensch sein Leben annehmen muss, und die daraus entspringende Sinnfrage: Was nun? Die Antwort auf diese Frage ist ein unerfülltes Sehnen, das sich am besten wortlos ausdrücken kann. Und dafür ist Misagh Joolaees Kamancheh ein besonders schönes Vehikel.

© Stefan Franzen, erschienen auf qantara.de

CD: „Unknown Nearness“ (erhältlich über https://pilgrims-of-sound.com/)

Konzerthinweis: Misagh Joolaee spielt im Rahmen der Kleinen Freiburger Musiktage (11.-13.6.) am kommenden Sonntag, 13.6. um 17h mit seinem Duopartner, dem Perkussionisten Sebastian Flaig im Kaisersaal des Historischen Kaufhaus Freiburg.

Misagh Joolaee: „Longing“
Quelle: youtube

Schwereloser Saitentanz

Für viele ist sie die Königin der persischen Instrumente: Die Kamancheh, eine Stachelgeige aus Maulbeer- oder Walnussbaumholz mit winzigem Resonanzkörper, wird aufgrund ihres obertonreichen, melancholischen Klanges nahe der menschlichen Stimme gerühmt. „Der Wechsel zwischen der hohen und tiefen Lage ist wie ein Dialog zwischen einem reifen, weisen Menschen und einem jüngeren, energetischen”, sagt Misagh Joolaee (sprich: misaag dschulai). „Mein erster Meister pflegte immer zu sagen: ‚Ich weine oft mit der Kamancheh, mit der europäischen Geige komme ich nur selten an diesen Punkt.‘“

Auch Joolaee, einer der spannendsten Vertreter der jungen Generation von Kamanchehspielern, hat diesen unmittelbaren Vergleich der Streichinstrumente erfahren: Mit sieben Jahren beginnt er, den reichen Schatz der persischen Kunstmusik, den Radif, auf der Violine zu erlernen. Doch als er über seinen jüngeren Bruder die Kamancheh entdeckt, wird ihm klar: Diese Musik kann viel besser auf der persischen „Schwester“ umgesetzt werden. Als Teenager entwickelt er parallel aber ein Interesse für die abendländische Klassik, Beethovens Violinkonzert habe ihn total umgehauen, verrät er. Die Beschäftigung mit zwei Musikwelten und die Beherrschung beider Instrumente bringt ihn auf einen außergewöhnlichen Weg: „Ich fing an, meine Hörerlebnisse in der europäischen Musik auf die Kamancheh zu übertragen. Doppelgriffe und Bogentechniken der Violine wie Staccato und Spiccato, die bisher nicht üblich waren. Außerdem inspirierten mich Zupftechniken von der Langhalslaute Setar, später auch das Anreißen der Saiten (Rasgueado) aus dem Flamenco.“ Diese Erschließung neuer Klangräume ist eine Pionierarbeit.

Wie unzählige andere freigeistige Künstler stößt Misagh Joolaee 2006 an seine Grenzen im Alltag unter dem iranischen Regime. Um sich entfalten zu können, entschließt er sich zur Ausreise nach Deutschland. Heute lebt er in Berlin. Doch das Erbe des Iran, insbesondere seiner Heimatprovinz Mazandaran im Norden, trägt er weiter im Herzen: „Die Region hat eine eigene abgeschlossene Musiktradition entwickelt, mit einer Gesangstechnik, die ganz außergewöhnlich ist. Diese „Mazari“-Tradition hat stark auf die persische Kunstmusik eingewirkt“, sagt Joolaee. Die Sehnsucht des Exilanten nach seiner ersten Heimat ist in sein Solo-Debüt, die CD „Ferne“ eingeflossen. Anfang des Jahres wurde sie mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik prämiert. Joolaee hat sie mit dem aus Freiburg stammenden Perkussionisten Sebastian Flaig eingespielt, einem profunden Kenner der orientalischen Musik, der auch schon mit den berühmten bulgarischen Frauenstimmen musiziert hat.

Von melancholischer Meditation über Trennung bis hin zu schwerelosem Tanz auf den Saiten und ekstatischem Kreisen reicht das Ausdrucksspektrum der Kompositionen, die die beiden in greifbar intensiver Zwiesprache live im Studio eingespielt haben. „Man strebt als Künstler immer an, so ein kleines Fenster von Transzendenz zu erreichen, das schafft man vielleicht ein paar wenige Male im Leben““, sagt Joolaee. Mit Flaig sei er diesem Zustand nahe gekommen, besonders in einem Stück namens „Berauscht“, das den verzückten Zustand der Sufis in ihrer Suche nach dem Höchsten abbildet.

Misagh Joolaee hat diese stille Zeit des zweiten Lockdowns genutzt, seine zweite CD aufzunehmen, in der er die Auslotung neuer Techniken in freieren Improvisationen noch konsequenter vorantreibt. Zur Kehrseite der Pandemie zählen natürlich auch abgesagte Konzerte: Das Haus der Kultur, ein rühriger Verein unter Leitung des iranischen Konzertpianisten Shafagh Nosrati, hatte einen Abend mit ihm und Flaig im Freiburger Humboldtsaal gebucht, der entfallen muss. Doch nach etlichen Bemühungen, so der aktuelle Stand, konnte das Konzert durch  Verlegungen in die nahe Schweiz gerettet werden.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen zeitung, Ausgabe 24.11.2020

CD: „Ferne“ (erhältlich über https://pilgrims-of-sound.com/)
Live: Misagh Joolaee & Sebastian Flaig, Kleines Museum Klingental Basel, 28.11., 20h (Beschränkung auf 15 Personen) und Kulturscheune Liestal, 29.11. 14h30 und 17h, (Beschränkung auf 30 Personen), Infos:
www.hausderkultur.com

Misagh Joolaee: „Fern der Geliebten“
Quelle: youtube

Berührender, wortloser Spiegel

Misagh Joolaee
Ferne
(Pilgrims Of Sound)

Auch wenn sie nur mit einem winzigen Resonanzkörper aus Maulbeer- oder Walnussbaumholz ausgestattet ist, erzeugt die persische Kamancheh einen einzigartigen Klang mit rauschhaften Obertönen, filigran, wispernd, schmerzlich. Der in Deutschland lebende iranische Stachelgeige-Virtuose Misagh Joolaee aus der nördlichen Provinz Mazandaran hat das Spektrum des Instruments spannend erweitert: Verblüffende neue Techniken lotet er aus, vor allem den Pizzicato-Gebrauch hat man auf dieser Geige selten so gehört. Joolaee bricht aber auch die herkömmlichen Skalen der persischen Kunstmusik auf, er arbeitet mit ungewöhnlichen Intervallen und mit Griffen auf mehreren Saiten. Das ist mehr als Experiment und Wagnis, das ist erfolgreiches, gelungenes Ausloten anderer Möglichkeiten, wie sich auf seinem Album Ferne zeigt.

Der Ausdruck der elf Stücke reicht von intensiver Innerlichkeit („Gefährten“), melancholischer Meditation über Trennung und Distanz (ganz stark in seinem Schmerz: „Fern der Geliebten“) bis hin zu virtuoser Komplexität („Unverhofft“), schwerelosem Tanz auf den Saiten und ekstatischem Kreisen („Berauscht“). Begleitet wird der Iraner vom Freiburger Perkussionisten Sebastian Flaig, der auch schon mit den bulgarischen Frauenstimmen und Lisa Gerrard musiziert hat. Flaigs frische Schlagwerkkunst, immer in enger Achtsamkeit auf die Geige, erzeugt eine kongeniale Partnerschaft. Ferne ist ein berührender, wortloser Spiegel von intensiven Seelenzuständen – eines Liebenden und eines Exilanten zugleich. (erhältlich über https://pilgrims-of-sound.com/)

© Stefan Franzen

Misagh Joolae: „Na Gofteh Ha“
Quelle: youtube

Der Raum zwischen zwei Noten

Behnam Samani & Kayhan Kalhor

Der Cellist Yo Yo Ma hat über die Saitenkunst seines persischen Kollegen Kayhan Kalhor gesagt: “Es gibt etwas in seinem Spiel, das über den Klang, den er erzeugt, hinausgeht. Nicht um die Noten selbst geht es, sondern wie man von einer Note zur anderen kommt. Und Kayhans Musik hat so viel von dem Unhörbaren, Unentdeckten, den unermesslichen Räumen zwischen zwei Noten.“

Das Suchen und Tasten ist ein wesentliches Element der persischen Klangkultur. Ganz anders als in der abendländischen Musik, in der Abläufe von Beginn an meist schriftlich festgelegt sind, entsteht hier anhand des Tonmaterials einer Skala allmählich eine Dramaturgie: Der Solist fühlt sich in die Stimmung einer bestimmten Leiter hinein, erkundet verschiedenste Wege der Ausgestaltung, erschließt sich nach und nach den Übergang in die virtuose Passage eines Stücks. Fast schon ein Sinnbild für dieses Ertasten ist die persische Stachelgeige Kamancheh. Mit ihrem winzigen Resonanzkörper, gefertigt aus Maulbeer- oder Walnussbaumholz, bespannt mit Fischhaut, schafft sie einen großen Raum der Innenschau: Rauschhafte Obertöne bestimmen ihren Klang, er wirkt filigran, durchscheinend, strahlt intensive Wärme aus, aber zugleich wispernde Schmerzlichkeit. Die Kamancheh besitzt vielleicht den berührendsten Klang aller Vertreterinnen der weit verzweigten Streichlauten-Familie vom Balkan über den Nahen Osten bis China.

Auf diesem genauso unscheinbaren wie erstaunlichen Instrument ist der iranisch-kurdische Musiker Kayhan Kalhor der größte Meister seiner Generation. Er spielte bereits als Teenager in Teheran im staatlichen iranischen Orchester, studierte die Traditionen verschiedener Provinzen, besonders des im Norden liegenden Khorasan und Khordestan. Und selbstverständlich ist er im Radif ausgebildet, dem riesigen Schatz der klassischen Musik Persiens. Doch Kalhor war auch schon in jungen Jahren Kosmopolit, ging nach Rom, später nach Ottawa, siedelte schließlich nach Brooklyn über. An allen Wahlheimaten ließ er sich von den neuen Einflüssen befruchten, die biographischen Reibungen spiegeln sich in seiner grenzenlosen Arbeit.

Kayhan Kalhor, aktueller Preisträger des Artist Awards der Weltmusikmesse WOMEX, hat nicht nur für die großen Stimmen der persischen Klassik komponiert, unter ihnen die Sänger Mohamad Reza Shajarian und Shahram Nazeri. Er gründete auch das Ensemble Ghazal, das Gemeinsamkeiten persischer und indischer Klassik und Volksmusik auslotet. Er wurde ein prominentes Mitglied von Yo Yo Mas Silk Road-Ensemble, das seit mehr als zwanzig Jahren Musiker von Amerika bis Fernost zu kreativen Höhenflügen vereinigt und 2016 einen Grammy gewann.

Im abendländischen Kontext spielt Kalhor mit renommierten Kammermusik- oder Jazzensembles, etwa mit dem Kronos Quartet. Von Sufi-Mystik und türkischer Musik ist er ebenso inspiriert wie von den Troubadouren der Renaissance und Versen aus der Feder Walt Whitmans. Zudem hat Kalhor die Spielmöglichkeiten der Kamancheh schrittweise ausgedehnt. Er entwickelte mit der Shah Kaman auch eine neue Variante, eine Kreuzung aus Kamancheh und zwei ihrer Verwandten, der chinesischen Erhu und der türkischen Tanbur. Sie öffnet durch eine fünfte Saite die unteren Register, und so gewinnt ihr Klang an spiritueller Tiefe. Für Kalhor war die Entwicklung dieser neuen Kamancheh-Version eine Reaktion auf die Unruhen in seiner Heimat, die 2009 starteten und immer wieder niedergeschlagen wurden. Den politischen Turbulenzen wollte er mit klanglicher Innenschau, mit Erdung und Festigkeit begegnen.

Diese braucht es umso mehr in der aktuellen Großwetterlage, in der iranische Kulturschaffende nicht nur die Schikanen des eigenen Mullah-Regimes ertragen müssen, sondern auch durch wirtschaftlichen Boykott und militärische Bedrohung seitens der nicht minder menschenverachtenden Trump-Administration aufgerieben werden. Es ist bemerkenswert, dass der Künstler nach 24 Jahren in den USA nun in seine Heimat zurückgekehrt ist. Im vergifteten Klima wollte er als Einwanderer nicht mehr leben. Er und sein Frau wurden angefeindet, die Propaganda von Teilen der Medien gegen den Iran konnte er nicht mehr ertragen, wie er kürzlich dem Magazin Songlines sagte.

Bei seinem ersten Auftritt in Freiburg überhaupt wird Kayhan Kalhor mit dem Perkussionisten Behnam Samani konzertieren, der von Deutschland aus mit seinen Ensembles Dastan und Zarbang als herausragender Vermittler iranischer Trommelkunst wirkt. Auch er ist ein Erneuerer der Schlagwerkkunst auf der Bechertrommel Tombak und der Framedrum Daf, hat mit der Zarbang Udu ein eigenes Instrument geschaffen. Viele Größen der persischen Klassik haben sich während ihrer Auslandstourneen auf ihn als einfühlsamen Rhythmusgeber und Arrangeur berufen.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 10.02.2020

Tourdaten Kayhan Kalhor:
14.2. Moods Zürich – 15.2. Jazzhaus Freiburg – 16.2. Gasteig Black Box, München

Kayhan Kalhor – NPR Music Tiny Desk Concert
Quelle: youtube

Glut aus Fischhaut und Maulbeerbaum

alle Fotos: Stefan Franzen

Kayhan Kalhor
Elbphilharmonie Hamburg, 07.06.2018

Beim Hype um den großen Konzertsaal der Elbphilharmonie ist der kleine Bruder etwas ins Hintertreffen geraten. Völlig zu unrecht. Auch diesen Saal, mit topographisch, fast biomorph anmutenden Holzwänden, hat der japanische Akustiker Yasuhisa Toyota entworfen. Für alle, die die Klänge des Planeten über abendländische Klassik hinaus erkunden wollen, ist hier ein feiner Ort. Hier leistet sich die „Elphi“ die Reihe „Klassik der Welt“, in der unser europäischer Absolutheitsanspruch auf Kunstmusik viermal während einer Saison relativiert wird.

Zu Gast ist der persische Streichlautenvirtuose Kayhan Kalhor mit seinem Ensemble. Dass das Programm mit der blumigen Wendung „Die verborgenen Schätze des Gartens der Stille“ („Pardegian Baghe Sokoot“) angekündigt wird, verweist schon auf den introspektiven Charakter dieser Musik. Kalhor ist eine regelrechte Inkarnation der Versunkenheit: die Augen geschlossen, sein Antlitz oft verschleiert von einem langen Vorhang grauen Haupthaars. „Shoegazing“ würde man in Popsprache dazu sagen.

Kalhor ist zugleich aber sicherlich der weltgewandteste unter den Stars der iranischen Klassik unserer Tage: Er ist Kollaborationen mit dem Kronos Quartet, mit Yo Yo Ma, mit Aynur, mit Toumani Diabaté eingegangen, er hat die Spielweise der Kamancheh, der persischen Ausprägung dieser Vertreterin der globalen Streichlautenfamilie erweitert. Sie ist sein Vehikel auf dem Weg zur mystischen Versenkung, kaum ein anderes Instrument könnte das mit seinem rauchzarten, rauschhaften, obertonwispernden Klang in einer solchen Tiefe leisten – und dass, obwohl es nur einen schier winzigen Resonanzkörper aus Maulbeer- oder Walnussbaumholz und Fischhaut besitzt. Die Kamancheh erinnert an eine klingende Spindel, denn nicht etwa der Streichbogen wechselt die Position, um eine andere Saite zu erreichen, es ist das Instrument, das der Spieler dreht.


Während der beiden langen Suiten, die Kalhor mit seinem Quartett entfaltet, kann man immer wieder über seinen improvosatorischen Fluss staunen: ein nicht versiegender Strom der Klage, mit breitem Strich vorgetragen, beredte, atemlose Sehnsucht, vielleicht die nach dem Auflösen der Isolation vom göttlichen Ursprung, vielleicht auch der genauso dringliche Versuch, über das Leiden an der Welt zu berichten und es nicht in genügend Töne fassen zu können. Doch vielleicht ist das auch nur ein Klischee, westlichen Hörgewohnheiten geschuldet. Kalhor steht klar in der Tradition des Radif, des klassischen persischen Skalensystems, doch er erlaubt sich Freiheiten, vor denen ältere Kollegen noch zurückgeschreckt hätten: Echo-Effekte, die er nicht mit Effektgeräten produziert, sondern auf dem Instrument erzeugt durch dynamisches Abebben, viele perkussive Passagen, die nach Pizzicato klingen, oft aber nicht gezupft, sondern mit einer Schlaghand generiert werden.

Es scheint paradox: Gerade der analytische Klang der Toyota-Akustik, im Falle der Orchestermusik im großen Saal oft als zu sezierend kritisiert, kommt dieser meditativen Musik entgegen – gerade weil er durch die präzise Abbildung der vier Instrumente ein tieferes Abtauchen in den Klang eines jeden ermöglicht. Und so kann die Zuhörerschaft die solistischen und die begleitenden Beiträge der drei Mitspieler trennscharf genießen: Santurspieler Ali Bahrami Fard bringt eingängige, geradezu poppige Melodien als Thema ein, der fast mythisch aussehende Tar-Solist Hadi Azarpira hält sich mit der Langhalslaute auffällig zurück, ist aber immer im richtigen Moment mit pointierten Einwürfen da.

Für den erstaunlichsten Moment des Konzerts ist schließlich Tombak-Spieler Navid Afghan verantwortlich. Als Kalhor das Gesangsmikrofon heranzieht und eine hymnisch-schlichte, fast heilige Melodie singt, baut sich darunter unvermittelt eine rasante Jagd auf der Bechertrommel auf, scheinbar ohne rhythmischen Bezug, der aber im ekstatischen Finale auch für europäische Ohren begreifbar wird.

Ein „Garten der Stille“ auf dem Deck des Klangschiffs, umgeben von den Wassern des Nordens an diesem strahlend-leuchtenden Sommerabend.

© Stefan Franzen

Kayhan Kalhor & Ali Bahrami Fard: in Concert“
Quelle: youtube