Mit Hans-Christian Ströbele ist gestern einer der letzten glaubhaften Verfechter einer deutschen Friedenspolitik gegangen. Er wird fehlen in einer Zeit von zunehmendem Militarismus, der sich mittlerweile bis in bürgerliche Medien hinein beobachten lässt.
Am heutigen Weltfriedenstag lasse ich die Stimme von Jacques Brel zu Wort kommen. Es ist auffällig, dass gerade die französischen und belgischen Chansonniers immer wieder bilderreich und poetisch Anti-Kriegs-Lyrik geschöpft haben, von Boris Vians „Le Déserteur“ über Yves Montands und Serge Reggianis Vertonungen von Rimbauds „Le Dormeur Du Val“ bis zu Brels „La Colombe“. Der Belgier hat es 1959 eigentlich geschrieben, um seine Verachtung gegen den Algerienkrieg kundzutun, doch die unablässigen Fragen nach dem Warum sind zeitlos, passen auf jegliche kriegerische Auseinandersetzung.
Die unerbittliche Kriegslogik wird in den Marschrhythmen widergespiegelt, die zugleich den Rhythmus eines Zuges nachahmen – ein Zug, der die Kindheit der Soldaten beendet und sie zum Massaker transportiert. Von den leeren Phrasen bei den Beerdigungen der Gefallenen ist die Rede, vom Sieg, der eine Totgeburt ist. Und schließlich von der tränenüberströmten Geliebten, die immer mehr zum Schatten wird für den jungen Rekruten, der mit dem Zug in eine mörderische Schlacht fährt. Die Taube im Wald ist verletzt, sie wird getötet werden.
Jacques Brels „La Colombe“ wurde später auch von Judy Collins und Joan Baez im Charakter von folkigen Dramen aufgegriffen. Die dunkle, martialische Moll-Wucht des Originals aber halte ich dem Thema entsprechend für viel angemessener. Für mich ist dieses Finalstück vom Album La Valse À Mille Temps eines der stärksten Antikriegs-Lieder der Musikgeschichte – es erschüttert bis heute und müsste gerade jetzt wieder viel mehr interpretiert und gespielt werden.
Happy Birthday, Joan Baez. Wer wird bloß gegen die Unerträglichkeiten ansingen, wenn du mal nicht mehr bist.
Joan Baez ZMF Freiburg 14.7.2015
Wo sie ihre aktuellen Kämpfe ausfechte, wurde sie 2012 vom französischen Fernsehen gefragt. Sie selbst stehe heute nicht mehr in der ersten Reihe, entgegnete sie, vielmehr reflektiere sie über ihr Leben und kümmere sich um ihre 100-jährige Mutter. Doch es ließe sich heute ja unter einer großen Anzahl von Vietnams auswählen. Die Welt ist nicht friedlicher geworden, seit Joan Baez vor einem halben Jahrhundert ganz vorne mitmarschierte, von Selma bis Hanoi. Deshalb sind ihre Konzerte auch weit entfernt von akustischer Nostalgietapete. Das zeigte sich auch beim Freiburger Zeltmusikfestival, wo sie einen ihrer wenigen Deutschlandauftritte für dieses Jahr absolvierte.
Burschikos, in Bermudas, Sandalen und ärmellosem Top beginnt die 74-jährige im heißen Zelt ihre zweistündige Show solo. Ihre Stimme hat an dunklen Facetten gewonnen, doch die Höhen erreicht sie immer noch nahezu kristallklar. Dazu liefert sie flüssiges, swingendes Picking. Gleich zu Anfang setzt sie zwischen Steve Earles „God Is God“, „There But For Fortune“ von Phil Ochs und „Silver Dagger“ vom ersten Album die große zeitliche Klammer, die auch den Abend bestimmen wird. Potpourri-Charakter kommt trotzdem nie auf, und das liegt an der fein ausdifferenzierten Variation. Baez hat drei Mitstreiter gebracht, die ihr dienend zuarbeiten: Sohn Gabriel Harris setzt dezente perkussive Akzente an Congas, Cajón und Becken, Dirk Powell wirkt als Multiinstrumentalist. Mit schönen Mandolinenlinien schmückt er Dylans „It’s All Over Now, Baby Blue“, im Woodstock-Song „Joe Hill“ würzt er mit Akkordeon, „Long Black Veil“ bekommt durch seine Fiddle ausgeprägtes Country-Flair. Hier taugt auch das ländliche Timbre der Backgroundsängerin Grace Stumberg, die Baez meist angenehm harmonisiert, aber die Rauheit von „Me & Bobby McGhee“ zu sehr dämmt.
Man hat manchmal vergessen, dass in der Aktivistin Joan Baez auch eine fesselnde Erzählerin wohnt, die immer aufrichtig ist, im Privaten wie in der Parabel. Und so gerät ihre Eigenkomposition „Diamonds & Rust“, die intime Abrechnung mit Dylan, in abgeklärter Bitterkeit genauso zu einem Höhepunkt wie das fast aktuelle Lied für den Afghanistansoldaten „Day After Tomorrow“ und die düstere Folkballade „Seven Curses“, in der sie ihre epischen Qualitäten ausspielen kann. Konstantin Weckers „Wenn unsere Brüder kommen“ nimmt sie das pazifistische Überpathos und flankiert es mit einer Anekdote: Als sie vor Wecker, den sie verehrt, niederkniete, meinte der Charmeur: „Bist aber gut in Form für dein Alter!“ Was sie dann stimmlich auch noch mal beweist, als sie einen souligen Spiritual-Sopran durch „Swing Low, Sweet Chariot“ schweifen lässt, frei, fast ohne Akkorde.
Im Zugabenblock schließlich steht Joan Baez in einem schmucklosen Lichtkegel, 2500 Kehlen singen „Donna, Donna“ mit. Man sieht Schwarz-Weiß-Szenen aus Newport vor sich. Doch ihre Mahnung vor Vergangenheitsromantik klingt noch lange nach: „Das sind nicht die Sechziger, ihr müsst hier und heute Inseln der Gewaltfreiheit und des Mitgefühls schaffen.“ Mag sie auch nicht mehr selbst an der Frontlinie stehen, ihr engagiertes Charisma strahlt noch.
„The Death Of Queen Jane“ (trad.) (aus: OST Inside Llewyn Davis, Oscar Isaac, 2013)
Hat jemals irgendein Schauspieler so erbarmungslos einen erfolglosen Songwriter verkörpert? Oscar Isaac, dem ich heute zum 40. Geburtstag gratuliere, geht im Film der Coen Brothers Inside Llewyn Davis über die Schmerzgrenzen hinaus. Ich habe unsäglich mitgelitten, als er nach einem beschwerlichen Weg von NY nach Chicago (grauenhafte Kälte + ein alter Jazzer in Gestalt von John Goodman als Beifahrer!) dieses herzzereißende Lied spielt, um schließlich vom Clubbetreiber nur einen Satz zu hören: „I don’t see a lot of money here.“
Von der englischen Ballade, die durch die Sammlung von Francis James Child zu uns kam, existieren um die 20 Varianten, und sie wurde unter anderem auch von Joan Baez, den 10.000 Maniacs oder dem deutschen Countertenor Andreas Scholl interpretiert. Doch ich bleibe dabei: Isaacs schlichtes Folkclub-Vorspiel, das ohne jegliche Folgen für ein Engagement bleibt, geht am meisten unter die Haut.
Oscar Isaac: „The Death Of Queen Jane“ (aus Inside Llewyn Davis)
Quelle: youtube
„Ich werde König sein und du Königin – auch wenn nichts sie vertreiben wird, für einen Tag können wir sie schlagen“, heißt es in David Bowies „Heroes“. Als Indra Rios-Moore es am Ende ihres Konzerts in der Riehener Reithalle anstimmt, weiß das ergriffene Publikum bereits, dass da eine solche Heldin vor ihnen auf der Bühne steht. Und wird Zeuge der kompletten Verwandlung eines Songs: von einem Kultlied der Jugend zu einer zeitlosen Hymne des Widerstands, voller Strahlkraft und Löwenherz.
„Ich werde der Kaltblütigkeit und dem Klima der Furcht in Amerika Widerstand leisten durch Liebe. Das ist mein Protest“, sagt Indra Rios-Moore im Interview. Und sie hat mit „Carry My Heart“ in diesem Geiste ein Album veröffentlicht, das die „quiet strength“ der afro-amerikanischen Spiritualität an die Stelle der „angry white men“ setzt. Nicht in der herkömmlichen, schwarzen Arbeitskleidung der Jazzsängerinnen tritt sie auf, ganz in Weiß singt die New Yorkerin, und genauso überwindet auch ihre Stimme die Genres. Ihr klares helles Timbre scheint oft Meilen über der Band zu stehen, hat die souveräne Phrasierung aus dem Jazz, das endlose, sehnende Ziehen der Töne aus dem Soul – und plötzlich funkeln da auch brillante Spitzentöne mit grandiosem Vibrato: Erbe ihrer klassischen Ausbildung. Immer wieder zeigt sie gen Himmel, rundet die Verse mit beiden Händen, strahlt meist übers ganze Gesicht: Ihre Spiritualität ist geradezu körperlich.
Für ihre „ruhige Kraft“ hat die Tochter einer Puertoricanerin und eines Amerikaners das ideale Begleittrio gefunden, ein einfühlsam-nordisches: Knut Finsrud malt förmlich an den Drums, mit geschlossenen Augen und offenem Mund, spielt oft mit Besen oder der bloßen Hand, auch mit leeren Wasserflaschen, hängt die Felle mal mit Tüchern ab. Basskollege Thomas Sejthen ist ein kontemplativer Handwerker, der swingende Ostinati und trockene Soli liefert. Und mit Ehemann Benjamin Trærup verbindet Rios-Moore auch auf der Bühne viel: Sein erzählend-melodischer Atem, sein schmauchend-sinnliches Spiel geht oft in enge Zwiegespräche mit den Vocals. Da wird das Tenorhorn auch mal zum zweiten Sänger, etwa in der Eigenkomposition „Give It Your Best“, das Rios-Moore zur Ermutigung gegen Depressionen geschrieben hat.
Die Mutmacher, sie sind das Kernstück ihres Repertoires: Steely Dans „Any Major Dude“ münzt sie zum Trotz nach dem letzten Wahltag um: Das Monster im Text ist nicht Trump, die Krankheit steckt in jedem von uns. Curtis Mayfields „Keep On Pushing“ verströmt im federleicht tänzelnden Dreiertakt die Gewissheit, dass alle Hindernisse allein durch eine stolze Geisteshaltung überwunden werden können. Und dann ist da „Carry My Heart“, eine Widmung an flüchtende Mütter, die ihre Kinder über viele Landesgrenzen hinweg tragen: Die Band hält sich hier ganz zurück, um den sehnsuchtsvollen Blue Notes der Stimme maximale Entfaltung zu geben.
Doch Indra Rios-Moore ist keine neue Joan Baez oder Tracy Chapman, entgrenzt das Image der Protest-Ikone: Sie glänzt ebenso mit feinmechanischem Swing im Jazzstandard „Like Someone In Love“, verwandelt sich in „Love Walked In“ von George Gershwin in ein Kornett mit Patina, und sie knüpft an den Gospel des „Little Black Train“ lautmalerische Zuggeräusche. Die romantische Ader ihres Lieblingssängers Johnny Hartman verschmilzt sie gar mit einem unwiderstehlichen Latin-Touch. Einmal noch geht es aus dem freudevollen Strahlen tief in den Schmerz: Das Spiritual „Trouble“ gestalten die vier Musiker mit Liegetönen im Bass zu einem erschütternden Mantra der gequälten Sklaven aus, und hier bäumt sich das Sax einmal zu einem Schrei auf. Riehen erlebte einen großen, seelenvollen Moment nicht nur innerhalb der diesjährigen „Stimmen“ – sondern in der ganzen 25-jährigen Geschichte des Festivals.
Auch ein halbes Jahrhundert später gibt es sie noch, die jungen Männer und Länder aus dem Phil Ochs-Song, unverändert. Und – fast – genauso unverändert gibt es auch ein halbes Jahrhundert später noch ihre Stimme.
Danke, Joan Baez, für den Auftritt in der kleinen Stadt.