Schwereloser Saitentanz

Für viele ist sie die Königin der persischen Instrumente: Die Kamancheh, eine Stachelgeige aus Maulbeer- oder Walnussbaumholz mit winzigem Resonanzkörper, wird aufgrund ihres obertonreichen, melancholischen Klanges nahe der menschlichen Stimme gerühmt. „Der Wechsel zwischen der hohen und tiefen Lage ist wie ein Dialog zwischen einem reifen, weisen Menschen und einem jüngeren, energetischen”, sagt Misagh Joolaee (sprich: misaag dschulai). „Mein erster Meister pflegte immer zu sagen: ‚Ich weine oft mit der Kamancheh, mit der europäischen Geige komme ich nur selten an diesen Punkt.‘“

Auch Joolaee, einer der spannendsten Vertreter der jungen Generation von Kamanchehspielern, hat diesen unmittelbaren Vergleich der Streichinstrumente erfahren: Mit sieben Jahren beginnt er, den reichen Schatz der persischen Kunstmusik, den Radif, auf der Violine zu erlernen. Doch als er über seinen jüngeren Bruder die Kamancheh entdeckt, wird ihm klar: Diese Musik kann viel besser auf der persischen „Schwester“ umgesetzt werden. Als Teenager entwickelt er parallel aber ein Interesse für die abendländische Klassik, Beethovens Violinkonzert habe ihn total umgehauen, verrät er. Die Beschäftigung mit zwei Musikwelten und die Beherrschung beider Instrumente bringt ihn auf einen außergewöhnlichen Weg: „Ich fing an, meine Hörerlebnisse in der europäischen Musik auf die Kamancheh zu übertragen. Doppelgriffe und Bogentechniken der Violine wie Staccato und Spiccato, die bisher nicht üblich waren. Außerdem inspirierten mich Zupftechniken von der Langhalslaute Setar, später auch das Anreißen der Saiten (Rasgueado) aus dem Flamenco.“ Diese Erschließung neuer Klangräume ist eine Pionierarbeit.

Wie unzählige andere freigeistige Künstler stößt Misagh Joolaee 2006 an seine Grenzen im Alltag unter dem iranischen Regime. Um sich entfalten zu können, entschließt er sich zur Ausreise nach Deutschland. Heute lebt er in Berlin. Doch das Erbe des Iran, insbesondere seiner Heimatprovinz Mazandaran im Norden, trägt er weiter im Herzen: „Die Region hat eine eigene abgeschlossene Musiktradition entwickelt, mit einer Gesangstechnik, die ganz außergewöhnlich ist. Diese „Mazari“-Tradition hat stark auf die persische Kunstmusik eingewirkt“, sagt Joolaee. Die Sehnsucht des Exilanten nach seiner ersten Heimat ist in sein Solo-Debüt, die CD „Ferne“ eingeflossen. Anfang des Jahres wurde sie mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik prämiert. Joolaee hat sie mit dem aus Freiburg stammenden Perkussionisten Sebastian Flaig eingespielt, einem profunden Kenner der orientalischen Musik, der auch schon mit den berühmten bulgarischen Frauenstimmen musiziert hat.

Von melancholischer Meditation über Trennung bis hin zu schwerelosem Tanz auf den Saiten und ekstatischem Kreisen reicht das Ausdrucksspektrum der Kompositionen, die die beiden in greifbar intensiver Zwiesprache live im Studio eingespielt haben. „Man strebt als Künstler immer an, so ein kleines Fenster von Transzendenz zu erreichen, das schafft man vielleicht ein paar wenige Male im Leben““, sagt Joolaee. Mit Flaig sei er diesem Zustand nahe gekommen, besonders in einem Stück namens „Berauscht“, das den verzückten Zustand der Sufis in ihrer Suche nach dem Höchsten abbildet.

Misagh Joolaee hat diese stille Zeit des zweiten Lockdowns genutzt, seine zweite CD aufzunehmen, in der er die Auslotung neuer Techniken in freieren Improvisationen noch konsequenter vorantreibt. Zur Kehrseite der Pandemie zählen natürlich auch abgesagte Konzerte: Das Haus der Kultur, ein rühriger Verein unter Leitung des iranischen Konzertpianisten Shafagh Nosrati, hatte einen Abend mit ihm und Flaig im Freiburger Humboldtsaal gebucht, der entfallen muss. Doch nach etlichen Bemühungen, so der aktuelle Stand, konnte das Konzert durch  Verlegungen in die nahe Schweiz gerettet werden.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen zeitung, Ausgabe 24.11.2020

CD: „Ferne“ (erhältlich über https://pilgrims-of-sound.com/)
Live: Misagh Joolaee & Sebastian Flaig, Kleines Museum Klingental Basel, 28.11., 20h (Beschränkung auf 15 Personen) und Kulturscheune Liestal, 29.11. 14h30 und 17h, (Beschränkung auf 30 Personen), Infos:
www.hausderkultur.com

Misagh Joolaee: „Fern der Geliebten“
Quelle: youtube

Berührender, wortloser Spiegel

Misagh Joolaee
Ferne
(Pilgrims Of Sound)

Auch wenn sie nur mit einem winzigen Resonanzkörper aus Maulbeer- oder Walnussbaumholz ausgestattet ist, erzeugt die persische Kamancheh einen einzigartigen Klang mit rauschhaften Obertönen, filigran, wispernd, schmerzlich. Der in Deutschland lebende iranische Stachelgeige-Virtuose Misagh Joolaee aus der nördlichen Provinz Mazandaran hat das Spektrum des Instruments spannend erweitert: Verblüffende neue Techniken lotet er aus, vor allem den Pizzicato-Gebrauch hat man auf dieser Geige selten so gehört. Joolaee bricht aber auch die herkömmlichen Skalen der persischen Kunstmusik auf, er arbeitet mit ungewöhnlichen Intervallen und mit Griffen auf mehreren Saiten. Das ist mehr als Experiment und Wagnis, das ist erfolgreiches, gelungenes Ausloten anderer Möglichkeiten, wie sich auf seinem Album Ferne zeigt.

Der Ausdruck der elf Stücke reicht von intensiver Innerlichkeit („Gefährten“), melancholischer Meditation über Trennung und Distanz (ganz stark in seinem Schmerz: „Fern der Geliebten“) bis hin zu virtuoser Komplexität („Unverhofft“), schwerelosem Tanz auf den Saiten und ekstatischem Kreisen („Berauscht“). Begleitet wird der Iraner vom Freiburger Perkussionisten Sebastian Flaig, der auch schon mit den bulgarischen Frauenstimmen und Lisa Gerrard musiziert hat. Flaigs frische Schlagwerkkunst, immer in enger Achtsamkeit auf die Geige, erzeugt eine kongeniale Partnerschaft. Ferne ist ein berührender, wortloser Spiegel von intensiven Seelenzuständen – eines Liebenden und eines Exilanten zugleich. (erhältlich über https://pilgrims-of-sound.com/)

© Stefan Franzen

Misagh Joolae: „Na Gofteh Ha“
Quelle: youtube