die Resonanz auf meinen Aufruf ist erfreulich, und sie greift auch in andere Genres hinein.
Besonders rege ist die Klassik-Szene, die die Corona-Krise in vielfältiger Art und Weise für Live-Streams und Podcasts nutzt.
Ein Portal, das diese Aktivitäten bündelt, ist Concerti. Die Reihe #deinconcertiabend haben sie am 19.3. ins Leben gerufen, seitdem haben hier schon Eldbjørg Hemsing und Sveinung Bjelland, die Netherlands Bach Society, 4 Times Baroque & Sibylla Elsing sowie das Kuss Quartett gespielt. Heute Abend geht es weiter mit Ana de la Vega und Daniel Röhn. Bitte vergesst nicht, dass die Künstler, die derzeit keinerlei Auftrittsmöglichkeiten haben, eure Unterstützung brauchen (z.B. durch Erwerb der Tonträger oder direkte Spenden).
Eldbjørg Hemsing & argovia philharmonic Musik- und Kongresshaus Aarau, 22.09.2019
Der Name Edvard Grieg überstrahlt in der internationalen Konzertliteratur bis heute alle seine norwegischen Kollegen. Ohne Zweifel liegt dies auch am stets präsenten nordischen Kolorit, das naturgemäß starke Wirkung auf ausländische Hörer ausübt. Eher den Spuren Wagners und der italienischen Oper dagegen folgte Griegs rund zwanzig Jahre jüngerer Landsmann Hjalmar Borgstrøm: Er hat nicht so sehr den Bonus des exotischen Klangreizes. Ihn weltweit bekannt zu machen, ist das Ziel der jungen Geigerin Eldbjørg Hemsing, seit sie sein Violinkonzert aus dem Jahre 1914 entdeckt hat, ein einziges Mal war es zuvor öffentlich gespielt worden. Am Sonntag erlebte nun unter dem Motto „Wiederentdeckt“ Aarau die Schweizer Erstaufführung des Werkes – in einem grandiosen Auftakt zur neuen Saison der argovia philharmonic ohne festen Dirigenten.
Dass Hemsing dieses Stück, ja, ihr Instrument innig liebt, kann schon in den Anfangstakten niemandem im Publikum verborgen bleiben. Mitten ins Geschehen wirft Borgstrøm die Hörer, denn das Allegro beginnt mit einer solistischen Kadenz, aus der sich ein überbordender Gesang herauslöst. Hemsing gestaltet diesen Anfang genauso souverän wie voller Süße, die kurzen Dialoge mit dem Orchester geraten äußerst wach, da Gastdirigent Leo McFall für eine pointierte Verzahnung sorgt. Und dann das Hauptthema: Eigentlich besteht es nur aus zwei Seufzern, die Hemsing aber mit schmerzlich intensiver Melancholie auskostet, untermalt durch gedeckte, nordische Orchesterharmonien, die nicht so sehr an Grieg wie an Sibelius erinnern. In der anknüpfenden Doppelgriffpassage leuchten die Farben der Hardangerfiedel, Norwegens bordunreiches Nationalinstrument hervor, die die Solistin glaubhaft verkörpert, sie ist auch in der Volksmusik erfahren.
Ganz anders das Adagio: keine Farben skandinavischer Kühle, hier herrscht gleißende mediterrane Sonne. Fast wie eine Opernarie à la Puccini mutet die Dramaturgie an, und Hemsing lässt die Violine mit schier endlosem Atem singen. Ihr Timbre ist immer ausgewogen, in den Tiefen nie zu dick, in den Höhen nie zu spitz, dabei lässt Borgstrøm den Tonraum so emporstreben, dass er ihn durch künstliches Flageolett erweitern muss. Atemberaubend der nahtlose Übergang in den Schluss-Satz: Ein übermütiges, über die Saiten wippendes Thema lässt an norwegische Tänze wie den Springar denken, und hier kann Hemsing mit rauschender Virtuosität glänzen.
Volksmusikanklänge auch im Eröffnungsstück des Abends: Die „Chilbizite“ des – ebenso wiederentdeckten – Aargauer Komponisten Werner Wehrli will „nur“ einen Jahrmarkt porträtieren, vereint aber Heiter-Festliches, Heroisches im Stil von Richard Strauss und romantische Idylle. Kecke Klarinetteneinwürfe und schönen Oboengesang mit dramatischen Tutti, und dann noch mit einem Überraschungsauftritt eines Akkordeons in ein homogenes Klangbild zu packen: Der Engländer Leo McFall schafft das mit viel Herzblut.
Was für ein Glücksfall seine Verpflichtung ist, zeigte sich auch an seiner Lesart von Franz Schuberts „großer“ Symphonie Nr.8: Den „dicken Roman in vier Bänden“ (Zitat Robert Schumann) gestaltet McFall als spannenden „Pageturner“: Vom zügig genommenen Einstieg mit der berühmten Hornmelodie gelingt ihm eine überzeugende Bündelung des Orchesters ins punktierte Thema hinein, in dynamischen Wellen lässt er die Durchführung strömen. Wenn er im langsamen Satz das Marschartige fast etwas übertrieben herausmeisselt, hat der dissonante Abbruch und die Generalpause einen umso atemberaubenderen Effekt. Vor dem geradezu rasant swingenden Finale schafft das Orchester mit dem Scherzo sein Glanzstück: Wie ein Motor rattert das wuchtige Ländlerthema, während im Trio-Teil, die Holzbläser – über die ganzen vier Sätze feinsinnig agierend – wonnige Walzer-Ländlichkeit verströmen. Ein fulminanter Abend zwischen Romantik und Rückbezügen auf die Volkskultur.