Foto: Joana Linda
Eine zweifelnde Nonne, ein Schlafloser, der sich vor dem Mond fürchtet, eine Frau, die zu ihrem gealterten Spiegelbild steht, eine tröstende Ärztin – das sind die Charaktere, die Cristina Brancos neues Album Eva (O-Tone Music/edel kultur) bevölkern, ihr persönlichstes überhaupt. Fado war vorgestern.
Von spröden Electronica-Tributen bis zu seichtem Orchesterteppich reichten 2020 die Beiträge, die große Fado-Ikone Amália Rodrigues zu ihrem 100. Geburtstag zu ehren. Es ist sehr signifikant, dass Cristina Branco gerade jetzt ihr erstes Album herausbringt, das jegliche Fado-Spuren getilgt hat. Ihr Ton war schon lange ein anderer, einer, der sich in Richtung sehr persönliches Songwriting abkoppelte und nun seinen Höhepunkt erreicht hat: mit der Beendigung einer Albumtrilogie, in der es ihr um die weibliche Perspektive geht.
Der Weg dahin war ein dorniger, mit einer Talsohle im Jahre 2006: „Ich wusste damals überhaupt nicht, in welche Richtung meine Karriere weitergehen sollte“, sagt Branco. „Da war eine junge Frau mit einem erdrückend vollen Terminkalender, die keine Zeit mehr für ihre Familie, ihr erstes kleines Kind hatte. Das überrollte mich ganz dramatisch, ich wurde krank, hatte Halsschmerzen, sobald ich einen Ton sang. Damals schrieb ich mir ein paar Versprechen an mich selbst auf, die mein Verständnis von Freiheit festlegten.“ Während sie sich bei einer Auszeit in Dänemark „reparierte“, begann sie ein Tagebuch, und kreierte dafür ihr Alter Ego namens „Eva“. Lange blieben die Einträge im „Eva“-Diary unter Verschluss, auch wenn die beiden kürzlich erschienenen Alben „Menina“ und „Branco“ schon ausgeprägt weibliche Themen hatten.
„Von Beginn meiner Karriere an habe ich große Sorgfalt darauf verwendet, was ich den Menschen erzähle. Ich bin nicht an Märchen interessiert, sondern an der Realität, an Dingen, die ich selbst erfahren habe. Meine Alben bekamen deshalb immer mehr biographische Züge. Aber so viel von mir selbst zu zeigen, davor fürchtete mich ein bisschen.“ Sie traute sich schließlich mit einem Kniff: Jungen lusophonen Songwritern und Poeten, vom gefeierten angolanischen Literaten Kalaf Epalanga über die Kapverdin Sara Tavares bis zum blutjungen Liederschreiber Churky, schickte sie ihre Niederschriften. Und die destillierten aus den dreizehn Jahren von Evas Einträgen Geschichten, die nun zu einem intimen Zyklus gebündelt sind. „Als die Demos eintrafen, fühlte ich mich sehr nackt, denn ich hörte ja meine persönlichsten Dinge aus dem Munde anderer“, so Branco. Diese Nacktheit spiegelt sich auch in den Bildern des Booklets. Die Porträts der Sängerin wurden teils verfremdet, erwecken so die Illusion, man sähe sie in verschiedenen Rollen und Altersstufen – und immer blickt sie einem nackt, ungeschönt, ja schonungslos entgegen.
Umgesetzt hat Cristina Branco das vertonte Tagebuch mit ihrem bewährten Quartett, das Jazzvokabular mit der portugiesischen Gitarre von Bernardo Couto kombiniert und so eine ganz eigene, zeitgenössische, genauso pop- wie kammermusikalische Klangsprache schafft. Mal kommt ein kreolischer Groove ins Spiel, wie etwa beim sonnigen „Quando Eu Quiser“, mal ein süffig-ironischer Walzer, wenn in „Inferno Do Céu“ von einer Nonne erzählt wird, die in einem Monolog zwischen der unzeitgemäßen Bigotterie der Kirche und ihren eigenen Sünden herumlaviert. In „Mau Feitío“ schraubt sich das Arrangement zu einer atemberaubenden melodischen Klimax, wenn das Charakterbild einer getriebenen, schlaflosen Person gezeichnet wird. Und im komplexen „Contas De Multiplicar“, dem sie selbst den Text verpasst hat, spricht sie von den Versuchen, der Umwelt seine wahre Persönlichkeit zu offenbaren, mittels unsichtbarer Landkarten, die unter der Oberfläche des Körpers verborgen sind.
Cristina Brancos Zusammenarbeit mit einer Riege unorthodoxer Songwriter jenseits der Fado-Welt zeigt mittlerweile zweifach Früchte: „Ich spüre, wie zu den Konzerten immer mehr junge Leute kommen. Die haben Fado immer abgelehnt, sind aber jetzt bereit, sich mit portugiesischer Kultur auseinanderzusetzen, sie in meiner neuen Klangwelt zu erleben. Es ist wunderbar mitzuerleben, wie sie die portugiesische Tradition in diesen neuen Kleidern Schritt für Schritt verstehen und respektieren. Und auf der anderen Seite ist es interessant, dass durch meine Musik diese jungen Autoren entdeckt werden. Das ist aufregend und verleiht meiner Arbeit eine ganz neue Bedeutung – über den Gesang hinaus.“
© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #137