Es war im Juli 2003, ein glühend heißer Sonntag am Genfer See, und das Montreux Jazz Festival hatte einen fast unwirklichen Gast. Wenig bis nichts hatte man von ihm gehört seit etlichen Jahren, doch da saß er tatsächlich auf der Bühne des Auditorium Stravinski, mit dicker Brille, Anzug und seiner Gitarre, die nur er so spielen konnte. Und uns war klar, dass wir zu den wenigen Auserwählten gehörten, die ihn in seiner zweiten Lebenshälfte hören durften mit seiner näselnden Stimme, die wie das Säuseln des Windes an einem ruhigen Strandabend in Ipanema klang, ein Abend, wie es ihn noch gab, als er seine Sechssaitige nach Rio brachte.
Vielleicht ist es die sanfteste Revolution der Musikgeschichte, die João Gilberto Prado Pereira de Oliveira 1958 losgetreten hat. Als erfolgloser Bohèmien lebt der krausköpfige Bursche mit den treuherzigen Augen in Rio zunächst jahrelang in den Tag hinein, mit seiner Gitarre war er aus Bahia gekommen, um am Zuckerhut das Glück zu suchen. Doch er verschwindet zunächst wieder ins Hinterland, nach Diamantina zu seiner Schwester, wo er an einer neuen Erfindung tüftelt. Und diese Erfindung macht ihn zum Tagesgespräch: In besessenen Monaten des Gitarrenübens auf einem winzigen Klo – des guten Echos wegen – entwickelt er eine verzögerte Phrasierung zwischen Instrument und Stimme, komplexe Harmonien und zarte, fast gesprochene Lautmalerei wie in seinen frühen Songs „Hô-bá-lá-lá“ und „Bim Bom“. Und irgendwie gelingt es ihm, das perkussive, erdige Flechtwerk des Sambas auf sechs Saiten zu einem Swing der mühelosen Schönheit zu bündeln. Die er seitdem immer weiter perfektioniert.
Sie wird die Formel der Jugend: Seinem neuen Gitarrenbeat, der bald Bossa Nova genannt wird (wörtlich etwa: „neue Flause“), verfallen in Rio die Söhne und Töchter der Bourgeoisie, musikalische Vordenker werden aufmerksam, unter ihnen der Komponist Antônio Carlos Jobim. Der hat ein Lied in der Schublade, mit Gilbertos intimer Stimme und dem neuen Zupfmuster würde sich das toll anhören, denkt er. „Chega de Saudade“ verändert Brasilien: Hinweggefegt der schwülstige Muff, der traurige Herzschmerz des alten Samba Canção. Von „peixinhos“ und „beijinhos“ künden nun wortspielerische Verse, „so viele Fischlein schwimmen nicht im Meer wie ich dir Küsschen auf den Mund drücken werde, wenn du zurückkommst.“ Drei LPs nimmt das Erfolgsduo Gilberto/Jobim bis 1961 auf, die rund 40 Stückchen begründen den Kanon der Bossa Nova mit späteren Welthits wie „Corcovado“, „Desafinado“ und „Samba De Uma Nota Só“. Leichtfüßigkeit mit Flöte, ein wenig Percussion, Pianotupfer und dieser unglaublich wendigen Stimme – eine raffinierte Schablone, die auch die USA besitzen wollen. Nach einem Carnegie Hall-Konzert wird Gilberto von der Bühnenkante hinweg verpflichtet. Das aufdringliche Saxofon von Stan Getz drückt seine Gitarrenkunst an die Wand, mit dem Ipanema-Girl und Gilbertos Frau Astrud wird die Bossa Nova amerikanisch und schmollmundig. Und in Deutschland singt Manuela den Twist: „Schuld war nur der Bossa Nova“. Der Geschlechterirrtum hat sich bis heute in der Presse hierzulande hartnäckig gehalten.
Musikalisch schließt man die Akte João Gilberto hier schon allzu oft. Zu Unrecht, denn er nahm weiterhin fabelhafte, immer reduziertere Alben auf, „João Voz e Violão“ etwa zur Jahrtausendwende, mit einem hauchenden, fagottgleichen Timbre. Doch die Medien pflegten lieber den Mythos vom einsamen Exzentriker. Je konsequenter er sich der Öffentlichkeit entzog seit den Siebzigern, zuerst im Ausland, dann in seinem Apartment im Süden Rios, in dem er seit vielen Jahren nachts lebte und tags schlief, desto arabesker sprossen Gerüchte. Er rede mit Katzen, kommuniziere mit der Welt nur über seine hundert Handys und spiele ununterbrochen Gitarre. Der deutsche Autor Marc Fischer hat ein ganzes Buch über die Suche nach dem Musiker veröffentlicht, ohne ihm begegnen zu können. Ob er tatsächlich von seiner eigenen Tochter Bebel entmündigt wurde, ob er zum Ende hin in Armut leben musste – diese Tragik tritt zurück hinter seinen Tönen. Wer nur zwei Minuten Musik von João Gilberto gehört hat – sofern er nicht „krank im Kopf oder fußlahm“ ist, wie es in dem von ihm interpretierten „Samba Da Minha Terra“ heißt – dessen Leben wurde für immer bereichert. Obrigado, João.
© Stefan Franzen