Gospel war der Ankerplatz ihrer Seele. Dank ihres Vaters, Reverend C.L.Franklin, und ihrer musikalischen „Tanten“, den berühmten Sängerinnen Clara Ward und Mahalia Jackson, erhielt die heute vor einem Jahr verstorbene Queen of Soul, Aretha Franklin, von Geburt an den Nährstoff der Baptistenmusik, auf den sie immer wieder zurückgriff. Auf dem Zenit ihres Soul-Erfolgs nahm sie im Januar 1972 eine Doppel-LP auf, die zur erfolgreichsten Gospelplatte aller Zeiten wurde.
Die Vorzeichen in der New Temple Missionary Baptist Church in Los Angeles standen günstig, schaut man sich die Mitwirkenden an: Reverend James Cleveland, ein Freund der Familie, leitete die Zeremonien mit warmherzigem, humorvollem Kommando. Mit ihm hatte Aretha bis zu fünfstimmige Chorsätze ausgearbeitet, sie vereinen die swingenden Dreiertakte der Baptisten mit den vorwärtspreschenden, feurigen Anrufungen der Pfingstkirche. Zu einem einzigen beseelten Körper schweißte der quirlige Dirigent Alexander Hamilton die 28 Stimmen des Southern California Community Choirs zusammen. Und die Band schlägt mit Drummer Bernard Purdie und Gitarrist Cornell Dupree die Brücke zum Soul und Funk. Wäre da nicht dieses eine große Missgeschick unterlaufen: Regisseur Sydney Pollack sollte den Gospelgipfel auf Filmrolle bannen, doch das Material wurde unbrauchbar, da Bild- und Tonspur nicht synchron liefen. Mit digitalen Mitteln ließ sich das später beheben, Franklin aber, unzufrieden mit dem Ergebnis, verweigerte die Veröffentlichung. Erst nach ihrem Tod gab die Familie den Film frei – und nach einer 47-jährigen Odyssee kann die Welt dieses Dokument nun endlich auch auf DVD zu Gesicht bekommen. Doch braucht man bei einem so innerlichen, religiösen Ereignis die Bilder?
Sie öffnen zumindest eine weitere Dimension, denn die Spiritualität des afro-amerikanischen Gospels ist auch eine sehr physische und visuelle. Das Hin- und Herwiegen, das Zittern und Klatschen des Publikums. Das Aufspringen der Chormitglieder bei eruptiven Momenten. Und im Zentrum natürlich: Die unendlich vielen Nuancen von Verzückung und Entrückung in Franklins schweißüberströmtem Gesicht, wenn sie mit geschlossenen Augen am Predigerpult singt, ihre Erschöpfung, ihre Seligkeit. Zu sehen, wie Stimme und Körper in Einklang von einem ekstatischen Strahl getroffen werden, fesselt auch alle, die nichts mit Gospel am Hut haben.
Für „Amazing Grace“ schrieb der Heilige Geist die Dramaturgie, nicht Sydney Pollack. Denn der nahm offenbar nicht seine besten Leute mit in die Kirche, die Bilder sind oft verwackelt, die Kameramänner suchen die Schärfe, zeigen fast nie die Band, sind selten im entscheidenden Moment zur richtigen Stelle. Oft sieht man den Choir und Dirigent Hamilton: Seiner Begeisterung zuzuschauen, dürfte für jeden Chorleiter, egal welchen Genres, Genuss und Inspiration sein. Berührend wird „Amazing Grace“ auch durch Momente abseits der Musik, bei denen auch ein Quäntchen Schauspielerei dabei ist: Etwa als Arethas Vater zum Pult tritt und ihr bei einem Solo den Schweiß von der Stirn wischt. Als Cleveland beim Titelstück ergriffen auf eine Seitenbank zusteuert und dort anfängt, wie ein kleines Kind zu weinen. Und nicht zuletzt ist es auch ein Stück Zeitgeschichte: Wenn die Kamera durchs Publikum dieser schmucklosen Kirche, ein ehemaliges Kino, in L.A.s „Problemviertel“ Watts schweift, zeigt sie die schwarze Gemeinde in einer Zeit heftiger Rassenunruhen. Kirchgänger in feinem Putz treffen auf junge Civil Rights-Bewegte, ein paar weiße Hippies mischen sich darunter, Mick Jagger und Charlie Watts von den Rolling Stones bestaunen als Hinterbänkler, wie der Spirit auf den Raum herniedergeht.
Unbegreiflich, dass es „Amazing Grace“ über die Berlinale hinaus nicht in die deutschen Kinos geschafft hat, selbst bei der jetzt erschienenen DVD muss man auf einen Frankreich-Import zurückgreifen. Doch es gibt wohl kaum einen anderen Film der Popgeschichte, in dem Musik und Mysterium so miterlebbar ineinandergreifen.
© Stefan Franzen (erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 16.08.2019)