Nitin Sawhney Live At Ronnie Scott’s (Gearbox/Edel)
Unter den Protagonisten der British Asian-Szene war Nitin Sawhney immer derjenige mit dem größten Hang zum Jazz. Zwar spielte auch die Electronica-Philosophie des Asian Underground immer wieder eine Rolle in seiner Arbeit, dominierte sie aber nicht. Dass Sawhney eine Rückschau auf seine zehn Werke als intimes Akustik-Liveset präsentiert, zeigt, wie stark seine Songs auch ohne jeglichen Schickschnack bestehen. Im renommierten Londoner Jazzclub vermählt er in Septett-Besetzung Souliges immer wieder organisch mit Subkontinentalem, mit am schönsten im Opener „Sunset”. Maßgeblich am Gelingen beteiligt sind die beiden dunklen Stimmen von Eva Stone und Nicki Wells, die auf die indischen Färbungen von Ashwin Srinivasans Bansuri und Aref Durveshs Tabla treffen.
Ein Cello sorgt für warmen, melancholischen Hauch, und inmitten seines Ensembles verbindet Sawhney als virtuoser Könner und einfühlsamer Begleiter an der akustischen Sechssaitigen. „Homelands” vereint rasanten indisches Vokalmäandern mit fast balkanesker Rhythmik, „Herencia Latina” lugt mutig in den Flamenco hinein, „Tere Khyal” begibt sich tief in eine nokturne Raga-Stimmung, und mit „The Conference” gibt das Ensemble ein Kabinettstückchen von Khonakol-Virtuosität, dem indischen Silbengesang. Weit breitet Sawhney mit „Breathing Light” am Piano balladeske Schwingen aus, und „Nadia”, im Original mit hibbeliger Elektronik gewoben, ist hier purer meditativer Genuss.
Ihr Leib: nur noch ein Block aus schwarzer Lava-Schlacke, geopfert auf dem Altar der Schmerzen. Ganz allmählich kann sie die Vagina-artige Wunde in ihrem Brustkorb mit silbernen Perlen und leuchtenden Fäden schließen, die Heilung beginnt. Mit plakativer Symbolik wie dieser breitete Björk auf dem Vorgängeralbum Vulnicura (Wundpflege) die einzelnen Kapitel ihrer Trennung aus. Utopia ist ein logischer Nachfolger: Die Genesende erzählt uns, nicht minder episch, nicht weniger bildgewaltig, wie sie zur ewigen Kraft der Liebe zurückfindet – ohne die Narben zu verschweigen.
Um die radikale Preisgabe von Emotionen in Musik und Text für sich und ihr Publikum erträglich zu machen, hüllt sich die Isländerin seit einiger Zeit in Video, Bild und auf der Bühne in maximale Maskerade: Auf dem Cover präsentiert sie sich als extrem stilisiertes Zwitterwesen zwischen Klingonenkriegerin und Porzellanpuppe, die Vagina ist auf die Stirn gewandert, ein Fötus ruht an ihrer Schulter, eine Flöte hält sie in der Hand. Hatte sie auf den vergangenen Werken schon immer eine bestimmte Klangfarbe mit Elektronik kombiniert, mal einen Chor, mal Blechbläser oder ein Streichquartett, ist es diesmal tatsächlich ein vierzehnköpfiges weibliches Flötenensemble, dem eine Schlüsselrolle zukommt. Für die Synths hat sie sich wieder den Venezolaner Arca geholt, Harfe und Cello bereichern in Nebenrollen den überwältigend räumlichen Sound.
Zunächst fällt es nicht leicht, sich innerhalb der 72 Minuten zurecht zu finden. Denn irgendwann um das „Medulla“-Album herum ist Björk die melodische Strahlkraft der früheren Werke abhanden gekommen. Statt zu Hook Lines und Refrains neigt sie oft zu einer Art Rezitation, für die sie in der isländischen Tradition des Rímur-Gesangs ein Vorbild hat. Doch da jeder „Song“ auf eine geschlossene Geschichte verzichtet, stattdessen einen Seelenzustand beschreibt, eine „emotional landscape“, wie sie es schon im Hit „Jóga“ vor zwanzig Jahren sang, passt es wiederum, dass sie Phrasen wiederholt statt entwickelt.
Nach der gleichnamigen Datingplattform hat Björk Utopia scherzhaft als ihr „Tinder“-Album bezeichnet. Und am Anfang sind wir wirklich Ohrenzeuge einer neuen, spontanen Liaison, in der jeder Kuss eine Explosion ist, Vokalspuren als Freudenschreie getürmt werden. In der Harfengirlanden umherschwirren und – wie in der Single „The Gate“ – immer wieder die Fürsorge für den anderen beschworen wird. Das Verliebtsein wird durch Musik getriggert: Sie ist vernarrt in seine Songs, Mixtapes werden als Streicheleinheiten ausgetauscht. Dass Björk ein zuckrig-verzärteltes Turteltauben-Werk serviert, glaubt man spätestens, als seufzende Exotikvögel den ersten Auftritt der Flöten umgarnen – und die kommen nicht als wildes, phallisches Element daher, sondern fast höfisch-barock. Doch auch wenn diese „Paradise Pipers“ jetzt nicht mehr von den Hörern weichen, kippt genau hier die Stimmung.
Utopia will erst erobert werden, und dafür durchmisst Björk nochmals ihre Schmerzensbahn: Unterstützt durch einen Chor erzählt sie mit gewaltiger Sounddramaturgie von der Entfremdung der Liebe in der Stadt, träumt sich ins mythische Nordland zurück, wo Körper und Natur verschmelzen. Hier bekommen Arcas atmende Beats mehr und mehr ihre große Stunde: Sie scheren sich oft nicht um Taktgebungen, sind eher Herzstolperer, dazwischenfauchende Wesenheiten, zischende Geysire, bis über die Grenze der soundtechnischen Überfrachtung hinaus geht das. Wir müssen abtauchen in die Schattenseiten, in die Tretmühle der Liebe: unerwiderte Gefühle, bittere Rache, patriarchale Übergriffe, das Vererben der Elternsünden an die Kinder.
In all dem Tumult mühen sich die Flöten, Leitfaden zum Licht zu sein, und therapeutische Sätze wie dieser: „Loss of love we all have suffered / how we make up for it defines who we are.“ Endlich kann in „Claimstaker“ das Land Utopia neu in Besitz genommen werden, mit allen Sinnen und dem Körper, der bei Björk auch immer Biographie und Geologie ist. Leider verpufft am Ende diese großartige Ohrenkino in einem entrückten Elysium. Der Himmel hängt voller Flöten, als eine allegorische Heilige auftritt und zum Reich ewiger Liebe geleitet: „Music heals, too, and I‘m here to defend it.“
Dann löst sich jegliche Rhythmik auf, selbst das Vogelkonzert verstummt. Synthetische Steeldrums und Björks verzückteste Sopranlinien duettieren. Nach so viel Körperlichkeit, nach so viel Kampf das Vakuum, „Utopia“ wörtlich genommen als „Nicht-Ort“. Björk, die Jeanne d‘Arc der Musik (= Liebe) im luftleeren Raum, das ist eine anrührende, aber irgendwie auch unbefriedigende Apotheose.
Sharon Jones & The Dap-Kings Soul Of A Woman (Daptone/Groove Attack)
Wie singt jemand im Angesicht des Todes den Soul? Bei der vor einem Jahr verstorbenen Sharon Jones scheint die Gewissheit über das Kommende einen heiligen Ernst entfacht zu haben. Auf dem nun posthum erscheinenden Soul Of A Woman hat sie zu einem machtvoll glühenden Ton ohne ein Quäntchen Pathos gefunden, der in „Matter Of Time“ oder „Sail On“ an die Intensität von Aretha Franklins ersten Atlantic-Alben erinnert, flankiert von den beißenden Horns der Dap-Kings, die wie ein großes Groove-Organ atmen.
Und in der Mitte passiert etwas Großartiges: Nach der weitgehend funky A-Seite (auch die CD folgt der LP-Ästhetik), reihen sich fantastische Balladen ganz unterschiedlicher Couleur aneinander: Ihr Phrasieren zur glimmenden Orgel in „Pass Me By“ gemahnt an den Minimalismus des jungen Al Green, das zum Niederknien mit Motown kokettierende „When I Saw Your Face“ lebt von gleißenden Streichern, „Girl“ von orchestralem Hochgebirge. Das kurze Album verdankt seine Magie auch der exzellenten Produktion – der unglaublich kompakte, zeitlose Sound macht Prädikate wie „retro“ endlich überflüssig. „Call On God“ heißt das Gospel-betupfte Finalstück aus Jones‘ eigener Feder – ein Schwanengesang, der zum spirituellen Triumph über den Tod geraten ist.
Sharon Jones & The Dap-Kings: „Call On God“
Quelle: youtube
Vielleicht gehört das eher zu den Randnotizen der globalen Eisenbahngeschichte: Island hatte vor 100 Jahren mal 2,5 Kilometer Schienennetz. Für den Musiker Högni allerdings, Island-Aficionados bekannt von den Indierock-Bands Gus Gus und Hjaltalín, ist das ein ganz zentrales Kapitel seiner aktuellen Karriere.
Die beiden Lokomotiven Minør und Pionér, die heute noch in Reykjavik zu sehen sind, haben 1913-17 Stein und Kies für den Bau des Hafens transportiert, nach kurzer Zeit aber wurden sie schon wieder ausrangiert. Die beiden Stahlrösser, so sagt Högni, seien für ihn Sinnbild seines Lebens geworden, während einer Phase, in der er unterschiedliche Persönlichkeiten in sich toben fühlte.
Minør im Hafen von Reykjavik, Foto: Manfed E. Fritsche
Die Musik auf Two Trains wird auch durch einen soundtechnischen Zweikampf faszinierend: auf der einen Seite die machtvollen, aber auch fast zärtlichen Männerchöre, die auf die lebendige Chortradition der Insel zurückgehen, auf der anderen lauern elektronische Rhythmen, die auf die Industrie-Ära während des Ersten Weltkriegs Bezug nehmen – jene Zeit, in der Minør und Pionér ihre Arbeit am Hafen verrichteten.
Cristobal And The Sea Exitoca (City Slang/Universal)
Aus Portugal, Spanien, Frankreich und Ägypten kommen die Mitglieder, doch beheimatet sind sie in London – und von dort aus schaffen sie einen tanzbaren, ansteckenden Pop, der so voll britischem Humor ist, dass man nur konstatieren kann, dass ihre Integration gelungen scheint. Darüber hinaus spielen sie auf ihrem zweiten Album mit den Errungenschaften der Tropical-Szene an der Themse: Kaum merklich werden die Songs aufgeladen mit indischen Rhythmen, afrikanischen Gitarrenriffs, Latin-Perkussion. Die dichten Vokalsätze erinnern an den kalifornischen Sunshine-Pop der Sechziger, und zwischendrin residieren Interludien, die aus Exotica-Soundtracks und dem Labor der frühen Minimalisten zusammengewürfelt sein könnten. Selbst Anklänge an den Discorock der frühen Achtziger werden nicht ausgespart. Ein großes augenzwinkerndes Antidot gegen den neuen Protektionismus auf der Insel und einer der schönsten Muntermacher des Jahres für verdrossene Geister.
Cristobal And The Sea: „Steal My Phone“
Quelle: youtube
Erstmals geleitet die Frau aus Georgia mit dem seelenvollen Alt ihre Hörer durch einen ganzen Zyklus von Coverversionen, die alle unter dem Motto „Gnade“ beziehungweise „Anmut“ stehen, beides mögliche Übersetzungen von „Grace“. Für die notwendige Verklammerung auf ihrem sechsten Album sorgt inmitten einer Könnerband – mit unter anderem Marc Ribot an der Gitarre und David Piltch am Bass – Joe Henry, einer der feinfühligsten Roots-Produzenten der Staaten. Denn das Spektrum reicht weit: Vom dunklen Blues „Barley“ über den erhabenen Gospelton in „Seems I‘m Never Tired Lovin‘ You“ geht die anmutige Reise, macht Station bei einem seltenen Bob Dylan-Song („Every Grain Of Sand“) und dem Orgelgeglucker in Ray Charles‘ „What Would I Do Without You“. In der Mitte siedelt mit dem Titelstück eine sehnsuchtsvoll loderne Hymne aus der Feder der Kanadierin Rose Cousins, stark auch die Standard-Ballade „Stars Fell On Alabama“, die hier vom Jazz zum folkigen Hauch getragen wird. Auch mit Fremdmaterial schafft Wright ihre unverwechselbare Verknüpfung von ländlicher Südstaaten-Ästhetik mit glamourfreiem Jazzgesang.
15 Jahre mussten wir warten – bis Brasiliens schönste Ménage à trois wieder ins Studio ging. Über das zweite Album der Tribalistas schweigt der Kritiker vorerst in Verzückung: zeitlos schöne Popmusik auf einer Stufe mit den Beatles – mindestens.
Obrigado, Marisa, Carlinhos & Arnaldo!
Rochen diese Songs nicht nach würzigem Waldboden, nach Frühtau, der über den Wiesen liegt? Nach der Verheißung von Wurzeln jenseits des entfremdenden urbanen Getriebes? Gesänge, als hätte man die Vokalschichtungen von Beach Boy Brian Wilson mit einem gregorianischen Chor gepaart, als stünden vervielfältigte Simon & Garfunkels in einer romanischen Kirche. Drumherum: Akustikgitarren, Mandolinen, Pauken, Glockenspiel. Als die Fleet Foxes aus Seattle um Sänger Robin Pecknold 2008 ihr Debüt veröffentlichten, sättigten sie die Americana mit ruralen Farben. Und sie wurden zu den zwar nicht ersten, aber erfolgreichsten Ikonen für die neue Generation der Bärtigen und Flanellhemdenträger, wie ausverkaufte Hallen von Los Angeles bis Sydney bewiesen. Auch der Nachfolger Helplessness Blues von 2011 folgte dieser folkigen, mythischen Naturphilosophie, angereichert mit mehr Raffinesse, Tempowechseln, jazzigen Einsprengseln.
Dann war erst mal Schluss, derweil andere den Sound der neuen Empfindsamen pflegten. Mumford & Sons, Sufjan Stevens, William Fitzsimmons, Iron & Wine etwa – aber niemand hatte diese erhabenen Stimmenschichtungen der Füchse. Und während allerorten die Hipster ihre Bärte kultivierten, rasierte Oberfuchs Robin Pecknold sich die Manneszier ab, knabberte an einer Trennung, schrieb sich an der Columbia University in Kunst und Literatur ein, lernte surfen und kletterte am Everest herum. Neue Songs kamen ihm dabei vorerst nicht in den Sinn. Drummer Joshua Tillman ging im Streit, benannte sich in Father John Misty um und gibt den Apokalyptiker, der für die digitale Gesellschaft nur noch Zynismus übrig hat. Seine Ex-Band dagegen antwortet jetzt, nach sechs Jahren Pause auf das absurde Welttheater völlig anders.
Crack-Up („Zusammenbruch“) als Konzeptalbum zu bezeichnen, wäre untertrieben. Es ist Hörspiel, Folk-Oper und Traktat: Die Inspiration für den Titel empfing Pecknold aus einem Essay von F. Scott Fitzgerald, in dem dieser postulierte, ein großer Geist müsse völlig entgegengesetzte Ideen gleichzeitig verarbeiten können, ohne verrückt zu werden. Folgerichtig durchlebt die Hörerschaft während 55 Minuten unerwartete Moll-Eintrübungen und Dur-Aufhellungen, Wechsel von folkiger Stille in triumphale Breite, von introvertiertem Gemurmel, zu plötzlich aufstrahlendem Sologesang und diesen nach wie vor einzigartig kristallinen Chören. Anfangs mögen sich Vergleiche mit Pet Sounds von den Beach Boys aufdrängen.
Doch Pecknold collagiert weit mehr als Rock‘n‘Roll und Klassik wie einst Wilson: Streicherklänge kollidieren mit marokkanischen Kastagnetten, Gitarrenriffs aus dem Sahel, einem verlangsamten Cembalo und Orgelbrausen – all das allein vereinigt sich in „Mearcstapa“, einem Porträt des einsamen Biestes aus der Beowulf-Saga. Geigen gleißen am Horizont, Klavierlinien kreisen wie ferne Kirchenglocken, Mellotrone liefern glasige Liegetöne. Und auch wenn die Keimzelle oft nur ein Riff auf der Akustikgitarre ist, kaum gibt es ein Stück, das als herkömmlicher Song gelten könnte. Etliche sind Suiten mit Regieanweisungen: Mal befindet man sich auf dem weiten Meer, dann auf den Straßen einer Stadt, unvermittelt wieder in Pecknolds Studentenbude. In majestätischem Folkbombast berichtet die Single „3rd Of May“ von Pecknolds Freundschaft zum zweiten Band-Mastermind Skyler Skjelset, endet aber in einem nüchternen japanischen Klanggarten.
Fleet Foxes: „3rd of May / Odaigahara“ (live)
Quelle: youtube
Kryptisch sind die Texte, oft getragen von einem weihevollen Ton, trotzdem nicht weltfremd: Trauer über Muhammad Alis Tod wird verknüpft mit der über die Erschießungen zweier unschuldiger Schwarzer („Cassius“), „Naiads“ klagt die respektlose Behandlung von Frauen an, in Versen, die auch ein aus der Distanz kommentierender Chor einer griechischen Tragödie so vortragen könnte. Und tatsächlich werden antike Götter und Helden in den Lyrics wie als Gegengewicht zu den politischen Hanswursten von heute beschworen. „Wie konnte alles an nur einem einzigen Tag zusammenstürzen? Was für ein Staat wird uns erwarten?“, fragt Pecknold wie Millionen von Amerikanern am 20. Januar in „If You Need To, Keep Time On Me“. Als schlichter Folksong gemahnt er fast als einziger an die Frühzeit der Band. Am Ende gleicht „Crack-Up“ der epischen Irrfahrt eines modernen Odysseus und Orpheus in Personalunion, die, an den Schiffsmast gebunden, das (Her)einstürzen der Welt und der Wellen erleben. Hilflos? Wappnen können sie sich mit der Macht der Worte und Klänge, die eine neue Wirklichkeit erschaffen. Geht es nach den Fleet Foxes, heißt die Antwort auf den Wahnsinn nicht politische Agitation, sondern poetische Verfeinerung.
Die Musik der Alpen hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten immer mehr zur Welt hin geöffnet. Man spricht in Österreich und der Schweiz, in Südtirol und Bayern von einer „Neuen Volksmusik“, die mit den alten Klischees vom Schuhplatteln und Jodeln nichts mehr zu tun und stattdessen einen jungen, frischen, kosmopolitischen Anstrich hat. Ihre Wurzeln baut diese Generation aber dennoch raffiniert in die neuen Klangwelten ein. Dass das neue Werk des Ensembles Alma Oeo heißt, also einen Jodel-Laut aufgreift, ist mit seinem Bezug zum Alten völlig natürlich. Das Quintett, vier Frauen an Gesang, Geigen, Akkordeon und Kontrabass, sowie ein Mann an der Geige, stellt neben dem Blechblas-Septett Federspiel die Speerspitze der österreichischen Alpen-Avantgarde.
Eine erdige Polka, skandinavisch angehaucht, bekommt urplötzlich einen bluesigen Anstrich. In dichtem harmonischen Satz kreist ein Sommerwalzer, und ein Ländler aus dem Salzkammergut klingt wie ein erhabener Hymnus. Experimentell, ohne Scheuklappen vor der stimmlichen Reibung und der kratzenden Fiedel wird das Titelstück zum fernen, von Jazz aufgeladenen Gruß an vergangene Jodelvokabeln. Bei einem Ausflug ins süditalienische Apulien verbindet sich Liebesschmerz mit archaisch anmutendem Trauergesang. Und in ihrer Widmung an Anton Bruckner knüpfen die fünf Musiker Volkston an sakrale Innigkeit, ebenso wie sich das meditative Wehen des Akkordeons in „Tranquilla“ mit einer zackig-swingenden Sequenz abwechselt, in der die Violine aufschreit. Einen kleinen Einblick ins Paradies gewährt das finale Stück mit dem wunderbaren Titel „Renate grüßt das Universum“, inklusive versteckter Anleihen bei der Country- und Minimal-Musik. Das alles hat neben dem Innovationswillen vor allem viel Herzblut – und viel „Seele“, was ja die eigentliche Bedeutung des beliebten Frauennamens aus dem Alpenland ist.
2014 konnte ich Heliocentrics-Bassist Jake Ferguson in Dalston, Nordlondon zum Interview treffen, damals kündigte er dieses Album bereits an. Die Heliocentrics, diese grandiosen Klangarchitekten der soulig-funkigen Psychedelik haben ja bereits mit etlichen großen Männerstimmen von Orlando Julius bis Melvin van Peebles gearbeitet. Dass auf Albenlänge eine Frau in den Nukleus ihrer Arbeit rückt, ist Premiere. Über die Slowakin Barbara Petkova weiß man nicht viel, muss man auch nicht, denn auch so entfaltet sie ihre Vokalmagie auf A World Of Masks. Ihre Stimme ist nie direkt und filterlos aufgenommen, sie trifft patinabesetzt aufs Ohr wie aus einer anderen Ära, klingt mal nach orientalischer Klagefrau oder schnurrender Soul-Katze, nach lasziver Jazzlady, sogar nach verträumter Folk-Elfe mit Schlafzimmerblick.
In der typisch heliozentrischen Hörlandschaft blühen die verschiedensten Kräuter, die mal nach durchgeknallter, beschwipster Marching Band aus New Orleans klingen, an anderer Stelle nach den kosmischen Free Jazz-Attacken eines Sun Ra, dann wie aus einem SciFi-Soundtrack der 1960er hinaufsteigen, oder wiederum Reminiszenzen an „Tomorrow Never Knows“ von den Beatles aufkommen lassen. Exotische Flöten, dreckige Stromgitarren, unheimlich grunzende Bassklarinetten, gurgelnde Lamellophone, verhallte Pianoakkorde, zischende Drum-Fills und ostinate Riffs auf eigenartigen Bassinstrumenten sind nur einige Bestandteile, die diese fantastischen Klanggärten bauen. Zwischen Stimme und instrumentalem Geschehen entsteht so eine unglaublich dichte Dramaturgie. Ein weiteres Kultwerk der Männer aus Dalston, die hier einen weiblichen Spannungspol gefunden haben – es bleibt zu hoffen, dass „Babs“, wie die Jungs sie liebevoll nennen, den Heliozentrischen länger erhalten bleiben wird.