Mit einer wunderbar clean gespielten E-Gitarre, umtriebigem E-Bass und feinpinseligem Schlagzeug bekommt der Choro einen zeitgemäßen Spin und bleibt doch Chamber Music. Ein Vibraphon leuchtet in Pixiguinhas „Ingénuo“ auf, ein wenig Street Parade-Feeling blitzt durch die bukolische Posaunenarbeit in „Na Gloria“. Und die Läufe aus Jacob do Bandolims „Assanhado“ und „Santa Morena“ hat man noch nie so butterweich gehört.
Für die Jazzfacts des Deutschlandfunks habe ich ein ausführliches Interview mit Emiliano Sampaio geführt. Mein Porträt ist am Donnerstag, den 8.4. zwischen 21h05 und 22h zu hören und steht danach 7 Tage im Podcast zur Verfügung.
Das Beste aus zwei Welten: die Energie des Soul und die Harmonien des Jazz, so definiert Myles Sanko sein Schaffen. Mit seinem neuen Werk Memories Of Love (Légère Recordings) vereint der Mann aus Cambridge sie in einer ungewöhnlichen Dramaturgie von Liebesliedern.
Im Video zu seiner neuen Single „Freedom Is You“ geht Myles Sanko ins Wasser. Mit den besten Absichten, denn dort erwartet ihn ein weißgewandeter Mann für die Taufe. „Ich bin kein religiöser Mensch“, stellt Sanko klar, „aber durchaus spirituell. Und in dieser Hymne an die Musik habe ich in Bilder gefasst, wie gut es tut, von Tönen ganz umflossen zu werden wie vom Wasser. Musik ist mein Leben, mein Alles, meine Zukunft.“ Man mag von seinem strahlenden, manchmal etwas plakativen Sound angetan sein oder nicht: Diese Aussage ist absolut glaubhaft, haben seine Songs doch immer die Aura der Hingabe.
Myles Sanko, der 1980 als Sohn eines bretonischen Seemanns und einer Ghanaerin geboren wird, hat eine unstete Kindheit, die er rückblickend aber doch als „fantastisch“ ansieht. „Als Fischer gehst du dahin, wo der Fang gut ist, und das hieß für mich, ein Leben zwischen der ghanaischen Hafenstadt Tema, dem togolesischen Lomé, Abidjan in der Elfenbeinküste und dem Senegal.“ Liebgewonnene Erinnerungen hat er vor allem an Ghana, wo die Lieder, mit denen die Fischer ihre Netze einholten oder mit denen der Zimmermann das Haus baute, ihm so etwas wie einen Urkick für sein rhythmisches Empfinden gaben. Doch schließlich schlug Sanko in Cambridge Wurzeln, wo er sich in der lokalen Szene die Hörner abstieß. Von seiner ursprünglichen Liebe, dem Rap ausgehend, entdeckte er durch die dort verwendeten Samples immer mehr die Vorläufergenres.
„Wir hatten hier eine kleine Soul- und Funk-Szene, die aber gerade groß genug war, um mir das Rüstzeug zu geben“, erinnert er sich. „Ich habe hier gelernt, wie man auf der Bühne agiert.“ Und genau das wurde auch zu seinem Leitgedanken: Ein guter Sänger muss ein geborener Performer sein. Daher offenbart Sanko auch eine ausgeprägte Liebe für die Rampensäue James Brown und Otis Redding, bewundert gerade bei letzterem, wie er von delikater Sensibilität auf Explosionskraft umschalten kann. Weitere frühe Heroen: Donny Hathaway und Bill Withers, dem er attestiert, er sei eigentlich ein Jazzer, man müsse sich nur eingehend mit seinen Kompositionen beschäftigen. Auch in Sankos Timbre hat sich Mr. Withers unverkennbar als seelenverwandter Vokalist niedergeschlagen.
Mittlerweile hat sich Myles Sanko von den Vorbildern und dem unverkennbar auf Retro gepegelten Sound der Frühwerke emanzipiert. „Ich denke, dass ich jetzt allmählich weiß, wo ich hinwill und dass ich akzeptiert habe, wer ich selbst bin. Ich bin gespannt, wie mein weiterer Weg verlaufen wird, denn ich habe mir vorgenommen, vor der Rente 15 Alben aufzunehmen! Memories Of Love hat einen sehr kraftvollen Sound, den ich zusammen mit meinem langjährigen Pianisten Tom O’Grady ausgeklügelt habe. Früher habe ich nicht viel mit Background Vocals gearbeitet. Aber jetzt habe ich mich gezielt entschieden, Chöre zu verwenden, viel Gospelanklänge zu verwenden. Das verleiht dem Album eine Spannung, eine Präsenz, und genau den richtigen Schwung.“ Was aber nicht heißt, dass alle elf Songs immer straightforward an die Bühnenkante gehen. Es gibt viel Platz für Improvisationen für Sax, Trompete und vor allem für O‘Gradys quirliges Klavier, auch mal unerwartete Progressionen.
Alle seine Bandmitglieder stammen aus Londons junger Jazzszene, zu der sich Sanko selbst nie zugehörig fühlte. „Ich als Außenseiter in dieser Londoner Jazzwelt, die Mischung macht’s!“, so sein Urteil. „Was mich im Soul manchmal stört, ist seine Schlichtheit, nach der aber manche der klassischen Songs des Genres gerade verlangen. Im Jazz dagegen fehlt mir zuweilen das tiefe Gefühl und die Leidenschaft. Mein Ziel ist es, das Beste aus beiden Welten zu vereinen, und die Würze sind die Streicher, der Gospel, ein Hauch Funk und HipHop.“ Sanko geht sogar so weit, dass er seinen Hörern auf dem Album zwei Songs in verschiedenen Versionen anbietet, einmal eher die jazzige Stripped Down-Version, einmal die seelenvolle Opulenz. „Wenn ein Song in reduzierter Form funktioniert, dann kannst du mit ihm nachher anstellen was du willst. Ich hoffe, ich kann meinem Publikum mit diesen Alternativfassungen auch verschiedene Reiserouten durch diese Songs ermöglichen.“
Eine mögliche Reiseroute ist auch die Landkarte der Liebe. Für Myles Sanko hat das überhaupt nichts Kitschiges oder Sentimentales. Sein Liederzyklus feiert nicht nur die Kraft der glücklichen Liebesbeziehung, er reicht auch oft ins Melancholische und Bittere, beinhaltet eben all das, was seine Erinnerungen an die Liebe triggert. Ganz offenkundig ist das im luxuriös gewandeten „Where Do We Stand“, mit dem er die problematische Beziehung zu seinem Vater aufarbeitet. „Er war ja nie da, immer auf See, ich hatte nie eine kontinuierliche Vaterfigur. Durch diesen Song können wir uns beide aneinander annähern, Heilung ermöglichen. Ich hoffe, dass das bei vielen Menschen eine Resonanz hervorruft, denn jeder schleppt ja solche biographischen Themen mit sich rum.“
Auch in „Never My Friend“ wird die eher zähe Seite der Liebe beleuchtet, die eines sich ständig ungeliebt fühlenden Pubertierenden, der neidisch die Liebespärchen um sich herum beobachtet. Hier leuchten deutliche Reverenzen an Hathaways balladeske Schwermut auf, und der Schlagzeuger hat Kaffeepause. „Viele kämpfen ja lange Jahre darum, eine Liebe zu finden, sie scheint immer ganz nah zu sein, entzieht sich dann wieder. Bei mir war das auch so, bis ich endlich meine Liebe fand.“ Ihr hat er „In The Morning“ gewidmet, eine Hymne auf die Schönheit, die mit neckischen Trompeten-Riffs und Philly-Strings gespickt ist.
Eine andere große Soulballade entfaltet er mit „Streams Of Time“, in der die Gitarre jubilierende Interludien liefert, bevor sich ein mächtiger Gospeldonner aufbaut. Und mit einem ganz unerwarteten Liebeslied klingt Memories Of Love aus. Der „Blackbird Song“ outet Myles Sanko als Naturliebhaber: „Ich habe mir neulich in Südfrankreich eine Villa gekauft. Eines Morgens war ich oben auf dem Dach, um was zu reparieren. Da fing eine Amsel zu singen an. Ich ließ den Hammer fallen und hörte einfach nur zu. In diesem Gesang, der ja so unverwechselbar ist, kamen so viele Erinnerungen hoch, an den Frühling und Sommer meiner früheren Jahre. Das war wie ein Schleusentor.“
Das zeigt auch die Debütplatte des Trios First Strings On Mars, in dem er gleichberechtigt an der Seite des österreichischen Bassisten Georg Breinschmid und seines Violinenkollegen Igmar Jenner agiert. „Wir wollen mit den Streichern in unbekannte Gefilde vorstoßen“, sagt Willeitner im Interview. „Zwar kommen wir alle drei von der Klassik, sind aber im Jazz und volksmusikalischen Stilen zuhause, wollen alle Einflüsse, die es auf dem Planeten gibt, sammeln und dann spätestens in zehn Jahren auf den Mars auswandern.“ Womit augenzwinkernd auch gleich der Name des Trios erklärt wäre.
Willeitner empfindet es als „Riesenglück“, dass er in beiden musikalischen Welten sehr offene Lehrer hatte, die ihm keinerlei Hürden in den Weg stellten. Grenzenlosigkeit wird nicht nur stilistisch, auch geographisch zu seinem Lebensmotto. Er schaut sich sehr viel in Irland um und versteht, es braucht vor allem eines, um die Leute zu berühren: den seelenvollen Groove. „Die irischen Fiddler haben eine Art zu phrasieren und zu verzieren, die mich fasziniert. Als Solist können sie ein ganzes Pub zum Tanzen bringen, lediglich mit einer einstimmigen Melodie.“ Eine weitere Lehrstation ist für ihn Brasilien, wo er sich das mehrstimmige Spiel bei den Virtuosen der alten Rabeca-Fiedel abguckt.
Und schließlich Südindien: „Die Flexibilität und Weichheit der linken Hand, die präzisen Rutscher auf der Saite, davon können Geiger bei uns nur träumen.“ Willeitner hat hart daran gearbeitet, seine Klangvorstellungen auf seine Instrumente zu übertragen, wobei ihm auch das Glück über den Weg lief. Seine Violine stammt vom legendären Wiener Geigenbauer Gabriel Lemböck, bei dem Paganini in den 1850ern seine berühmte Guarneri-„Cannone“ zur Reparatur hatte. Lemböck nahm Maß von ihr und fertigte einige Nachbauten an. Einen davon besitzt nun Willeitner, der schwärmt: „Sie hat einen so dunklen, vollen, warmen, kräftigen Sound.“ Mit einer speziell angefertigten „Soulfiddle“, die fünf Resonanzsaiten hat und eine zusätzliche tiefe Saite, kann er dieses Timbre noch intensivieren.
In Georg Breinschmid hat Willeitner einen Long Time Companion gefunden, der seit langem schon ähnlich global tickt, sein Territorium von der Klassik ausgehend weiträumig und mit Witz Richtung Blues, Jazz und Wienerlied abgesteckt hat. Und als Igmar Jenner dazustieß, war die Binnenchemie perfekt: „Es ist bei uns immer sehr entspannt und es gibt auch immer einen Hauch dadaistischer Einflüsse“, charakterisiert Willeitner das zwischenmenschliche Gefüge. Die Scheibe vereint kosmopolitischen Ansatz mit delikater, seelenvoller Virtuosität und hellen Humorfünkchen. Und so mag man im „Novemberlicht“ die Strahlkraft keltischer Fiddletradition heraushören.
Die Aura des Teufelsgeigers bis hin zur geräuschhaften Ekstase verbreitet sich in „Brazil Imported“ auf der Basis von Baden Powells „Canto De Ossanha“, während bei der „Dark Romance“ barocke Arpeggien in eine Schauermär überleiten. Auch eine Nähe zum Pop wird nicht gescheut, wenn das Trio etwa aus Stings Ballade „Fragile“ eine beredte Erzählung mit Pizzicato-Umspielungen macht, „The Green Wind“ dagegen ist Folksong-Seligkeit pur. In der Urheberschaft der Stücke kommt auch Breinschmid zum Zug: Sein Stück „Reminiscence“ trägt bluesige Färbungen und komplexe Jazzharmonik hinein, der „Swindler“ dreht die austriakische Länder-Tradition durch die Mangel. Ein grandioses Fest zeitgenössischer Streicher-Arbeit, warm und wild.
Und hier noch ein Radiotipp:
SRF 2 Kultur strahlt meinen Beitrag über First Strings On Mars am Dienstag, den 9.3. in der Sendung Jazz & World aktuell zwischen 20h und 21h aus, zu hören im Live-Stream.
Gitarre und Posaune – man wird nicht viele Musiker finden, die beide Instrumente gleichermaßen beherrschen. Der in Graz lebende Brasilianer Emiliano Sampaio hat sich nicht nur diese ungewöhnliche Kombination ausgesucht, er geht mit seinem Meretrio auch über Stilgrenzen von Jazz zu Rock und Country bis Funk. Die neue Scheibe des Meretrios befasst sich mit dem Choro, dem ersten städtischen Musikgenre, das auf brasilianischem Boden entstand.
Das Schweizer Radio SRF 2 Kultur strahlt meinen Beitrag über das Meretrio am Dienstag, den 16.02.2021 zwischen 20h und 21h in der Sendung Jazz & World aktuell mit Roman Hosek aus (Wiederholung am Freitag, den 19.02.2021 um 21h).
Der Weltenbähnler – die musikalischen Zugreisen von Erik West Millette & Westtrainz SRF 2 Kultur, Die Passage, 29.01.2021, 20h
Bandleader, Bassist und Bahnfreak: Auf seinen Zugreisen in aller Welt war der Kanadier Erik West Millette stets mit Mikro und Rekorder auf der Pirsch. Mit seinem Projekt Westtrainz hat er seine Trips zu Gesamtkunstwerken aus Blues, Rock und Weltmusik geformt – inklusive Lokschnauben, Waggonrattern und Bahnhofs-Atmos von Vancouver bis Wladiwostok.
Die griechische Pianistin und Komponistin Tania Giannouli entwirft Klanggemälde, die im Kopf der HörerInnen starke Bilder auslösen. Klassisch ausgebildet bewegt sie sich zwischen Avantgarde, jazzigen Improvisationen, Folk-Anklängen und Minimalismen. Jetzt hat sie mit einem ungewöhnlich instrumentierten Trio (Piano – Trompete – Oud) ein neues Album eingespielt und sich mit mir darüber unterhalten.
SRF 2 Kultur sendet meinen Beitrag in der Sendung Jazz & World aktuell am Dienstag, den 1.12. ab 20h, Wdh. am Freitag, den 4.12. ab 21h.
Er wuchs mit der Volksmusik Menorcas und der Pyrenäen auf, schulte sich am US-Jazz genauso wie an Ravel, Skrjabin und J.S.Bach.
Marco Mezquida wird von Kollegen der spanischen Presse als „Jahrhundertmusiker“ gelobt. Mit 33 hat er bereits über 20 Alben veröffentlicht, sein Repertoire reicht von Duo-Aufnahmen mit der katalanischen Sängerin Sílvia Pérez Cruz über Solo-Improvisationen und Flamenco-Kollaborationen bis zur jazzigen Trio-Arbeit.
Mit dem kubanischen Cello-Virtuosen Martin Meléndez und derm Schlagwerker Aleix Tobias hat er seine neue Scheibe „Talismán“ eingespielt, über die ich mit ihm gesprochen habe. SRF 2 Kultur bringt meinen Beitrag am Dienstag, den 17.11. in der Sendung „Jazz & World aktuell“ ab 20h, Wiederholung am 20.11. ab 21h.
am Dienstag, den 22.9. strahlt SRF 2 Kultur in der Sendung Jazz & World aktuell ab 20h meinen Beitrag über die Basler Musikerin Yumi Ito aus.
Jazz, Klassik, Pop, Songwriting – mit solchen dürren Begriffen kommt man der Musik von Yumi Ito nicht bei. Die Absolventin des Basler Jazzcampus agiert in den unterschiedlichsten Formationen, tritt solo, im Duo und Trio, aber auch mit einem Ensemble von 11 Musikern auf. Mit diesem Orchestra veröffentlicht sie jetzt das Album „Stardust Crystals“, das sie auch am 25.9. im Atlantis Basel im Rahmen des dortigen Jazzfestival vorstellt.
am Donnerstag, den 3.9. strahlt Deutschlandfunk Kultur von 21h05-22h mein Porträt des österreichischen Bassisten Lukas Kranzelbinder aus.
Er ist das Enfant terrible der österreichischen Jazzszene: Lukas Kranzelbinder trägt seinen Bass in Gefilde von Surfmusik über Gnawa-Grooves bis in den Free Jazz, geht mit dem Tieftöner auf Opernbühne und Alpengipfel, lässt sich von einem kongolesischen Poeten genauso inspirieren wie von Grillengezirpe. Sein Motto: „Alles ist erlaubt“.
Gerade mal 32, aber schon ein gestandener „Hans Dampf in allen Gassen“: Für Kranzelbinder ist keine stilistische Grenze existent. Mit Trompeter Mario Roms „Interzone“ öffnete er den – gerne auch freien – Jazz in Richtung Balkan, Bossa, Disco und Schlager. Surf- und Latin-Sound erkundet er mit Expressway Sketches auf originelles „Knackbass“-Potenzial und beim SWR New Jazz Meeting stellte er für das Projekt „On Boit Lumumba“, eine Band um den kongolesischen Poeten Fiston Mwanza Mujila zusammen.
Im Fokus seines aktuellen Werks steht jedoch das österreichisch-deutsche Septett Shake Stew, in dem sich mit hochsolistischem Bläsersatz sowie doppelt besetztem Schlagzeug und Bass eine neue Jazzdimension öffnet. Diese bezieht arabische Farben und afrikanisches Flair mit ein, verknüpft Filigranes mit Funk und Free. Regelmäßig rastet das Publikum bei Shake Stew-Shows aus, bekundet seine Sympathie mit „Schreien von ganz innen“, oder mit Komplimenten wie „eure Musik kann die Toten wecken“.
Shake Stew: Grilling Cricket In a Straw Hut, pt.1″
Quelle: youtube
Die Sendung ist auf der Deutschlandfunk-Seite im Live-Stream zu verfolgen und kann nach der Ausstrahlung 7 Tage online nachgehört werden.
Live-Tipp für Hörer aus der Region Freiburg:
Shake Stew werden am 25.9. beim Jazzfestival Freiburg zwei Sets (19h und 21h) spielen:
Die Veranstalter des kleinen „Rock am Bach“-Festival in Kirchzarten hatten im letzten Sommer den richtigen Riecher. Sie luden ein Quartett namens Bab L’Bluz ein, das mit seiner treibenden marokkanischen Rockenergie frenetisch gefeiert wurde. Dieser Tage bringt die Band ihr Debütalbum heraus – und das gleich mit den höchsten Weltmusikweihen, auf Peter Gabriels Label Real World. Es nennt sich „Nayda!“, ein Begriff, der in Marokko seit der Jahrtausendwende verankert ist. Damals sorgte der Wechsel im Königshaus vom autokratischen Hassan II., der seine Gegner in Kerkern dahinsiechen ließ, zum gemäßigteren Sohn Mohammed VI. für gesellschaftliche Lockerungen.
Und auch für einen Riesenschub der Musikszene: Rapper, Hardrocker und Jazzer vereinten sich in der Nayda-Jugendbewegung, Minderheiten machten sich musikalisch bemerkbar, wie die Berber und die Gnawa, Nachfahren ehemaliger Sklaven, die die Marokkaner aus Schwarzafrika verschleppt hatten. „‚Nayda!‘, das heißt im Darija, dem marokkanischen Arabisch, zum einen ‚Party‘, zum anderen steht es für intellektuelles Aufwachen, für eine aufrechte Haltung, dafür, nicht einfach der Schafherde hinterherzulaufen“, sagt Yousra Mansour, Frontfrau von Bab L’Bluz.
Die quirlige Sängerin wuchs im libertären Geist von „Nayda“ auf. Schon die Eltern hörten einen Mix aus Led Zeppelin, Michael Jackson und klassischer arabo-andalusischer Musik. Jedes Jahr pilgerte sie nach Essaouira, um im Team des weltweit bekannten Gnawa-Festival mitzuhelfen. „Ich wurde immer mehr von dieser Musik in den Bann gezogen“, erzählt sie im Telefoninterview. Was wenig erstaunt bei den kreisenden Beschwörungszeremonien, die charakteristisch sind für die Gnawa. „2017 habe ich das Spiel auf der Gimbri begonnen, die Basslaute der Gnawa, und wurde in Marrakesch für ein Gnawa-Jazz-Projekt angefragt.“ Dort lernt sie den Franzosen Brice Bottin kennen, mit ihm, dem Drummer Hafid Zouaoui und dem Flötisten Jérôme Bartolome formt sie schließlich das Quartett Bab L’Bluz.
„Wir verstehen uns als erweitertes Powertrio im Geiste der Bands von Jimi Hendrix. Die Grundenergie heißt Rock, aber dann kommen Zutaten aus den marokkanischen Provinzen, aus der Gnawa- und Berbermusik, aus der Poesie der Hassania in Mauretanien dazu“, erläutert sie den Stilmix. „Bab L’Bluz“ bedeutet „Tor zum Blues“, zum afrikanischen freilich, viel älter als sein US-Bruder. Es packt einen beim Hören des Albums, etwa im ekstatischen Mondlied „El Gamra“ oder dem psychedelischen „Ila Mata“. Denn Bab L’Bluz heben sich aus der Fülle der oft behäbigen, ewig in Fünftonskalen kreisenden Desert Blues-Bands knackig heraus. Das liegt an der Kombination der Gimbri und der kleineren, eine Oktave höher gestimmten Awicha, sie übernehmen die Rollen von E-Bass und Stromgitarre, tönen aber weitaus ruppiger, trockener. Darüber legt Yousra Mansour ihre melismatischen Vocals, rauchige Flötengirlanden umschweben sie.
„Man hört dem Album eine gewisse Schizophrenie an“, lacht Mansour. „Ausgearbeitet wird das Rohmaterial im modernen Lyon, unserer zweiten Heimat, aber die Entwürfe der Songs passieren in Marrakesch, dieser sehr traditionellen und touristischen Stadt.“ Marrakesch mit seinem verwirrenden Gemisch aus Volksgruppen, Klängen und Düften gilt auch als „Tor zur Wüste“, und der Saharawind weht ständig hinein in die Songs von Bab L’Bluz. „Ich habe eine große Verehrung für die Kultur der Hassania in Mauretanien“, sagt Mansour. „Ein Song geht auf die Tebraa-Poesie der mauretanischen Frauen zurück, die in einer sehr konservativen und patriarchalen Gesellschaft ihre eigene Liebeslyrik als Geheimbotschaften an die Verehrten entwickelt haben.“
Die Frauen, das ist auch Mansours Einschätzung, haben sich generell in den letzten Jahren ihren Platz in der marokkanischen Musikindustrie erobert. Doch in anderen Belangen hat die Staatsführung bei aller Imagepflege in Richtung Europa im Innern wieder den Rückwärtsgang eingelegt. Konnte der als Versöhner geltende König Proteste während des „Arabischen Frühlings“ 2011 noch mit Verfassungsreformen im Zaum halten, hat sich seit 2016 ein neuer Widerstandsgeist in der Bewegung „Hirak El-Shaabi“ formiert – als Antwort auf die Unterdrückung der Berber im Rif-Gebirge, auf Polizeigewalt, Korruption und auf die Beschneidung einer regierungskritischen Presse bis hin zur Inhaftierung von Aktivisten und Journalisten.
Radiotipp!
Am Dienstag, den 16.6. sind Bab L’Bluz in SRF 2 Kultur im Rahmen der Sendung Jazz & World aktuell mit meinem Beitrag zu hören (Wdh. am Freitag, den 19.6. ab 21h)