Alicudi ist die kleinste und wildeste der äolischen Inseln, und Awa Ly sucht sie immer wieder auf, um Inspiration zu tanken. „Ich habe dort ein Ferienhaus an der Flanke des Vulkans, zwischen Himmel und Meer. Die Stille ist enorm, und wenn ich dort die Schönheit der Natur wahrnehme, entdecke ich auch die Ressourcen in mir.“ Alicudi gab der Franko-Senegalesin die Kraft, fernab des lärmenden Paris ein neues, von den Elementen inspiriertes Album zu entwerfen.
In vier Kapitel à drei Songs hat sie ihr drittes Werk Essence & Elements unterteilt, jedes Element ordnete sich durch scheinbar zufällige Begegnungen einem anderen Produzenten zu. „Das ist die Magie dieses Albums, ich folgte einfach dem Flow des Lebens“, sagt Ly. „Auf Alicudi sah ich zum Beispiel eine Doku über Nicolas Repac, wie er mit ungewöhnlichen Perkussionsinstrumenten eine Klangwelt zwischen Okzident, Orient und Westafrika schuf, auf die sich kein Etikett kleben lässt. Genau dieser universelle Sound schwebte mir vor, ihm ordnete ich die ‚Erde‘-Sektion zu. Und als ich LossaPardo traf, der als Maler eigentlich nur das Cover für mein werdendes Album gestalten sollte, spielte er mir Musik aus seiner Feder vor, und in meinem Kopf gruppierte ich ihn sofort zum Wasser.“ Ähnlich organisch geschah es bei der „feurigen“ Electro-Künstlerin Léonie Pernet, und bei der für die Luft zuständige Londonerin R&B-Produzentin Hannah V, die sie beide durch Emel Mathlouthi kennenlernte.
Essence & Elements wurde so auch eine stilistische Reise von einer anfänglich jazzy Grundstimmung über Afro-Folk und Soul hin zu einem elektronischen Finale, die aber immer durch den Multiinstrumentalisten Polérik Rouvière homogen zusammengehalten wird. Textlich geht es auf Englisch, Französisch und Wolof oft bildhaft um die Wechselwirkung unseres Lebens mit Erde, Wasser, Luft und Feuer, aber auch mal ganz konkret um die Gleichgültigkeit gegenüber dem ökologischen Kollaps des Planeten. Und letztlich auch um die Quelle des Seins: „Die ‚Essenz‘ im Titel und in der ersten Single des Albums bedeutet für mich: der ewige Teil von uns, der unendliche, lichtvolle. Das ist unser wahres Ich, und es verweist darauf, dass wir alle vom gleichen Ort abstammen.“
Mali ist ja nun wahrlich keine unbekannte Variable in den Weltmusikgleichungen der letzten 30 Jahre. Trotzdem birgt das Land der vielen Ethnien immer noch Überraschungen. Die Musik der Dogon im Südosten galt mit ihren unergründlichen Mythen als bisher eher unzugänglich, als Ressort der Feldforscher und Völkerkundler, die stundenlange Doku-Filme über sie gedreht haben. Mit Petit Goro hat sich in den letzten Jahren aber ein Vertreter der Dogon aus auf den Weg nach Bamako gemacht, um die rituelle Musik seines Volkes in einen Bandkontext zu übertragen – und die Kultur, die von Dschihadisten gepiesackt wird, vor dem Untergang zu bewahren.
Das Album Dogon-Blues From Mali ist das Resultat. Auf den ersten Höreindruck klingen die zehn Tracks mit ihrer fünftönigen Struktur nach einer Kreuzung aus Wassoulou-Musik, Wüstenblues und frühen Habib Koité-Songs, allerdings sind die Rhythmen erheblich widerspenstiger, geradezu „stotternd“. Dazu tritt der fremde Klang der Dogon-Sprache. Die Vocals besitzen eine eigenartige, unreine Melancholie, in den schnelleren Stücken haben sie einen Hauch beschwörenden Charakters. Eine wie durch eine alte Telefonleitung schnarrende Fiedel schleicht sich hinein, sie ergeht sich auch mal im flinken Pizzicato. Schließlich treibt eine unorthodoxe, sehr synkopische Gitarrenarbeit quer, die sich mit dem harten Bass verbündet.
Eine dornenreiche, trockene, nichts beschönigende Savannen-Musik, so schroff wie die Abbruchkante der Felsen, an denen die Dogon siedeln. In diesem Sommer ist Petit Goro unter anderem beim Rudolstadt Festival zu erleben.
Ich freue mich sehr, dass der von mir überaus geschätzte Cellist Matthieu Saglio, der mich noch Mitte März auf meiner kleinen „Ohren auf Weltreise“-Tour begleitet hat, sein neues Album Al Alba herausbringt. Es ist eine Gemeinschaftsarbeit mit seinem Bruder, dem Sänger Camille Saglio, und zusammen erschaffen sie eine imaginäre Welt zwischen mediterranem und arabischem, afrikanischem und barockem Klangraum, Fantasiesprache inklusive.
Über dieses Werk zweier verwandter Bruderseelen habe ich mit Matthieu gesprochen, meinen Beitrag sendet SRF 2 Kultur am Dienstag, den 29.04. ab 20h in der Sendung Jazz & World aktuell mit Moderator Roman Hosek. (Wiederholung am Freitag, den 2.5. ab 21h)
Mit multinationalem Team hat die deutsch-afghanische Sängerin Simin Tander ihr fünftes Album „The Wind“ (Jazzland Recordings/edel Kultur) eingespielt. Wie der Namensgeber fließt es grenzenlos zwischen Indien, Afghanistan, Europa und Amerika.
Es passiert etwa in der Mitte ihres neuen Werks: Für die stürmische Jagd einer Wolke über den Himmel greift Simin Tander zum Sprechgesang, rappt fast die Poesie des englischen Romantikers Percy Bysshe Shelley. „Diese Dramatik mit den archaischen Bildern von Natur und Donner, das hat mich berührt, weil es so klar ist und eine unglaubliche Kraft hat“, sagt sie. „Nursling Of The Sky“ ist zugleich ein Schaukasten dafür, was mit ihrer erprobten Rhythmusgruppe möglich ist: Die funky groovenden Kletterlinien des schwedischen Bassisten Björn Meyer und die tribal galoppierende Kraft des Schlagwerkers Samuel Rohrer vereinigen sich hier zu elektrisierender Energie. Die hat so gar nichts Romantisches mehr an sich und konnte „nur mit diesen beiden, die eine starke individuelle musikalische Sprache auf ihrem Instrument entwickelt haben“ gezündet werden. Mit beiden hatte die Deutsch-Afghanin schon auf dem Vorgänger „Unfading“ gearbeitet. Komplettiert wurde das Quartett damals durch die Viola d’Amore des Tunesiers Jasser Haj Youssef, was insgesamt zu einem eher gedeckteren Klangspektrum führte – ihr damaliger Ausdruckswunsch mit einer Stimme, die sich schwangerschaftsbedingt tiefer gefärbt hatte.
Jetzt ist aber Harpreet Bansal neue Partnerin im Quartettgefüge: Die indische Geigerin, geschult im Raga-System, sorgt für helleres Kolorit: „Ihr Ton ist sehr warm und voller als das, was man von einer Geige normalerweise kennt, aber sie hat auch dieses endlos in die Höhe steigende. Und sie ist eine Meisterin darin, meinem Gesang zu folgen. Bei manchen Stücken ist sie wie ein verschnörkelter Schatten der Melodie, bei anderen spielt sie bewusst nur in die Pausen der Gesangsmelodie. Die Herausforderung war, dass ich auf meinem Pfad bleibe, obwohl da eine weitere ‚Stimme‘ ungefähr den gleichen Weg direkt hinter mir geht. Nur so ist das Gesamte wirklich stark.“ Man kann dieses faszinierende Miteinander von Bansal und Tander tatsächlich als Tanz einer Persönlichkeit wahrnehmen, die sich in verschiedene Nuancen auffächert. Gewissermaßen als „Windspiel“ gleitenden und suchenden Charakters.
Das Album „The Wind“ beherbergt denn auch die verschiedensten Ausprägungen, die die Bewegung der Luft haben kann, vom Säuseln und Hauchen bis zur ekstatischen Entladung. Verblüffend, wie das Quartett eine Synthese zwischen packender Körperlichkeit und der Sphäre des Ungreifbaren in Töne gefasst hat. „Ich scheine eine Vorliebe für die Elemente zu haben“, schmunzelt Tander, die in ihrem neuen Werk Bezüge an die Wasser-Hommage „Where Water Travels Home“ von 2013 entdeckt. „Der Wind hat für mich eine symbolische Bedeutung für etwas, das durch die verschiedenen Epochen und Sprachen zieht und alles miteinander verbindet.“ Das wird durch das denkbar breite Repertoire auf dem Werk belegt. Als Gegenpol zur virilen Shelley-Vertonung wirft Tander die Hörenden mitten hinein in die Ära des neapolitanischen Liedes mit „I‘te Vurria Vasà“ von Edoardo Di Capua („O Sole Mio“), befreit es aber von allem opernhaften Schmelz und Pathos, nur mit begleitendem Geigenhauch. Eine Bearbeitung eines norwegischen Kirchenliedes und ein spanisches Lullaby schaffen weitere Klangräume aus europäischen „Randzonen“. Der inspirative Geist des Windes, er lässt sich von keiner Grenze stoppen.
Simin Tander – „The Wind“ Album Trailer
Quelle: youtube
Linguistische Challenges sind fester Bestandteil in Tanders Repertoire-Auswahl. Schon vor zwölf Jahren setzte sie sich das ehrgeizige Ziel, im komplexen Paschtu zu singen. Näherte sich der Sprache ihres Vaters, indem sie eines seiner Gedichte vertonte, phonetischen Unterricht bei einem Freund der Familie nahm, der ihr auch viele Lieder der Region erschloss. Seitdem ist das paschtunische Idiom fester Bestandteil ihrer Alben geworden. Populäre Songs der Region, die oft aus Bollywood-artigen Streifen stammen, finden sich auf „The Wind“ gleich dreifach und haben eine erstaunliche Metamorphose hinter sich. „Meena“ eröffnet das Album mit einem Gedicht aus dem 18. Jahrhundert, das Tander durch die populäre Sängerin Qamar Gula kennengelernt hatte. An „Jongarra“ zeigt sich, wie einfallsreich sie mit „jazzigen“ Reharmonisierungen arbeitet, das Original ist kaum noch zu erkennen: „Ich habe eine große Affinität zu Harmonien und Akkorden, die habe ich hier ausgelebt.“ Am lebhaftesten ist „Janana Sta Yama“, ein neckisches Stück der Schauspielerin Gulnar Begum.
Nie zuvor war Tanders Stimme ein so selbstsicheres, spielerisches Werkzeug. Vermehrt arbeitet sie nun mit Schichtungen. Eine der Eigenkompositionen, „Woken Dream“, zugleich einer der stärksten Momente des Werks überhaupt, zeigt, wie ein Song dadurch Zugänglichkeit auch für Hörende aus der Popkultur schaffen kann. „Natürlich ist es kein Pop-Album geworden“, stellt Tander klar. „Aber ich hatte schon den Wunsch, mich auf eine Art und Weise ganzheitlicher auszudrücken, weg von einer Nische zu gehen.“ Hier und da ist subtile, aber präsente Elektronik zu hören, getriggert von Rohrer am Schlagzeug. Überhaupt legt Simin Tander sehr viel Wert auf die Charakteristik des Sounds. Daher war es ihr wichtig, für den Mix und das Mastering Persönlichkeiten mit ausgeprägt „physischer Präsenz“ am Pult zu suchen. Gefunden hat sie sie im zweifach Grammy-nominierten Joshua Valleau und im Grammy-Gewinner Daddy Key, die mit der US-Pakistanerin Arooj Aftab, mit Kamasi Washington und Corinne Bailey Rae gearbeitet haben.
Ganz dem Wesen des Windes entsprechend schweift das Geschehen grenzenlos zwischen Indien und Afghanistan, dem Norden und Süden Europas und Amerika. Unser Interview findet in der heißen Phase vor der Bundestagswahl statt, die mit den bekannten Ereignissen die Selbstverständlichkeit solch schlagbaumloser Diversität künftig in Frage stellt. Mischt Simin Tander sich als kosmopolitische Künstlerin in politische Diskussionen ein? „Es geht heutzutage nicht mehr, dass man unpolitisch ist. Früher habe ich immer gesagt, dass mein Wunsch sehr persönlich ist, nämlich, den Reichtum der afghanischen und paschtunischen Kultur in die westliche Welt zu bringen. Das ist immer noch mein Hauptanliegen. Aber wenn es sich richtig anfühlt, mich nicht von der Musik zu sehr wegbringt, spreche ich jetzt auf der Bühne über Frauenrechte und die Situation in Afghanistan. Das ist auch eine Verantwortung, die ich als Künstlerin habe.“
Simin Tander: „Nursling Of The Sky“
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Vielen Dank an alle, die ins Foyer der Reithalle Offenburg gekommen sind, um diesen tollen Abend mit uns zu feiern.
„Ohren auf Weltreise“ machte in meiner Geburtsstadt Station, bereichert und begleitet von Awa Ly und Lucie Cravero.
Jürgen Haberer schreibt am 5.2. im Offenburger Tageblatt:
„Gut eine Stunde wird das Publikum in der Reithalle in einen musikalischen Sog hineingezogen. In der feinsinnigen Reduktion entwickelt das Duo eine bemerkenswerte Aura und Kraft. Das Publikum ist begeistert und beeindruckt, weil hier auch ein durchdachtes Konzept zum Tragen kommt: ‚Ohren auf Weltreise‘ als eine Lesung mit Musikbeispielen, kombiniert mit einem richtigen Konzert.“
Was sich hinter dieser Musik verbirgt und wie La Yegros ihn auf ihrem neuen Werk HAZ („Lichtstrahl“) verarbeitet hat, das erfuhr ich im Gespräch mit der Sängerin aus Buenos Aires, die mittlerweile in Paris lebt.
Nein, ich spiele hier nicht auf den Hit von Peter Fox an. Heute geht es um Sergej und Natalja und ihre Villa Senar am Vierwaldstättersee. Das Gewässer scheint eine besondere Anziehungskraft für ruhebedürftige Komponisten gehabt zu haben. Wenige Minuten außerhalb von Luzern residierte ab 1866 im Tribschener Landhaus Richard Wagner, wir aber wenden uns an diesem herbstlichen Ausflugstag mit dem Schiff dem Ort Hertenstein auf der anderen, der Rigi-Seite des Sees zu.
Nach 15 Minuten Fahrt taucht ein safrangelbes, kubisches Anwesen auf. Es bildet einen nüchternen Kontrast zur runden, sanften Umgebung eines Parks. Das ist das Grundstück, auf dem Sergej Rachmaninoff fast die ganzen dreißiger Jahre hindurch eine der glücklichsten Phasen seines Lebens verbrachte.
Erst einmal betätigte er sich als Landschaftsarchitekt und griff kräftig in die Natur ein: Er sprengte das Ufer ab, baute Stützmauern, füllte das Gelände auf und ebnete es ein, ließ Bäume angeblich gar aus Russland kommen, und er beauftragte die Schweizer Architekten Alfred Möri und Karl Friedrich Krebs, die 1931 bis 1933 eine Villa im Bauhaus-Stil errichteten.
Er nannte sie Villa Senar, eine Verschränkung seines Vornamens mit dem von Ehefrau Natalja. Man kann sich am See kaum einen idyllischeren Platz vorstellen. Von der riesigen Terrasse und den Zimmern eröffnet sich eine spektakuläre Aussicht auf den Pilatus und den Bürgenstock.
Lange Jahre der kreativen Blockade waren den Schweizer Jahren vorausgegangen: Rachmaninoff feierte zwar riesige Erfolge als Klaviervirtuose in den USA, neue Werke schuf er kaum, ihm fehlte in der Neuen Welt die Inspiration des alten Russlands. Die Sehnsucht nach dem Eingebundensein in die Natur wie auf seinem Landgut Iwanowka, das er 1917 für immer verlassen hatte, fand in Hertenstein schließlich eine Erfüllung.
Der Virtuose und Geschäftsmann wurde wieder Komponist, schuf seine berühmten Paganini- und die weniger bekannten Corelli-Variationen und eine dritte Sinfonie. Die fand verhaltenen Anklang. Rachmaninoff erinnert sich: „Ihre Aufnahme bei Publikum und Kritikern war säuerlich. Eine Rezension liegt mir besonders schwer im Magen: dass ich keine 3. Symphonie mehr in mir habe. Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass dies ein gutes Werk ist. 1939, bei Ausbruch des Kriegs, verließ Rachmaninoff die Schweiz und kehrte zurück nach Amerika.
Neuerdings kann man sein Anwesen wieder besichtigen. Bis 2012 hatte es noch sein Enkel Alexander bewohnt, danach bemühte sich der russische Gewaltherrscher um den Kauf. Glücklicherweise erwarb nach etlichem Hin und Her der Kanton Luzern die Liegenschaft und wandelte sie zusammen mit der Rachmaninoff-Stiftung zu einem Kultur- und Bildungszentrum um.
Schlendert man durch die Räume, sieht man eine nahezu unveränderte Einrichtung: Bis auf die Betten ist das Mobiliar noch vorhanden, man staunt über plüschige Sitzgruppen, exotische Lampen und originelle Standuhren, sogar der Geruch der 1930er scheint sich konserviert zu haben. Herzstück ist der angegliederte Kubus zur Seeseite hin: das Musikzimmer mit dem Original Steinway-Flügel von 1934, zur Wand hinzeigend, denn der Meister wollte beim Spielen das Licht auf Händen und Partituren.
Die sind noch in einem Wandregal gesammelt, und der Schreibtisch erweckt den Eindruck, Rachmaninoff könne jederzeit zurückkehren.
Am extra langen Flügel finden heute regelmäßig Konzerte statt und neuerdings auch CD-Aufnahmen. Der litauische Pianist Lukas Geniuşas hat hier kürzlich die erste Piano-Sonate in der schweren Originalfassung eingespielt.
Lukas Geniuşas spielt die Piano-Sonate No 1 in der Villa Senar
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Eine schöne Abrundung zum Thema Rachmaninoff wurde mir letzte Woche beim Besuch des Konzerts des Philharmonischen Orchesters Freiburg geschenkt. Die junge, ukrainisch-russische Dirigentin Anna Rakitina war zu Gast und bündelte souverän und mit sagenhafter Übersicht besonders den Schluss-Satz seiner Zweiten in eine mitreißende Dramaturgie.
London ist im britischen Jazz nicht alles: Mit Jasmine Myra eröffnet am 17.9. im Jazzhaus Freiburg eine junge Saxophonistin und Komponistin aus Leeds das Jazzfestival Freiburg. Vorab habe ich mit ihr gesprochen.
Langsam dürfte hierzulande durchsickern, dass die Jazzszene in Großbritannien nicht nur mit Londoner Leuchttürmen wie Nubya Garcia oder Shabaka Hutchings bestückt ist. Nördlich der Hauptstadt – und dafür steht mit dem Schotten Fergus McCreadie ein weiterer Festival-Act – gibt es derzeit viel Entdeckenswertes. „In Leeds bekommen Musikerinnen und Musiker natürlich nicht so leicht Zugang zu einem Label oder Unterstützung durch ein Management. Das hat dazu geführt, dass wir dort einen enormen Gemeinschaftssinn entwickelt haben, alle helfen sich gegenseitig“, so Myra. „Und dabei spielt es keine Rolle, was für ein Genre man pflegt, der Jazz dort fächert sich von Einflüssen aus Hip Hop bis Afrobeat auf.“ Stilistisch, so beobachtet sie, gibt es aber eine klare Tendenz: Während man in London auf Improvisation setzt, bevorzugt man in Leeds durchkomponierte Stücke und ausgefeilte Arrangements. Und das ist auch charakteristisch für ihre eigene Arbeit.
Mehrere Vorbilder waren es, die Jasmine Myra während ihres Jazzstudiums am Leeds Conservatoire prägten. Es kostete sie einige Zeit, um für ihr Instrument, das Altsaxofon, einen Leitstern zu finden: „Ich mochte schon viele Saxophonisten, aber oft war mir ihre Musik technisch zu kompliziert, oder sie hatten eine angeberische Attitüde. Dann hörte ich Cannonball Adderley, und ich stellte fest, dass er einfach und kraftvoll zugleich spielt, dass er Humor hat. Aber was er macht, ist natürlich sehr weit weg von meinen Kompositionen.“ Was die hohe Kunst des Arrangierens angeht, da schwärmt sie vom Kanadier Kenny Wheeler, der mit seinen elaborierten Schichtungen für Large Ensemble wegweisend war. „Wie er Harmonie und Melodie in Beziehung setzt, das ist unglaublich clever.“ Schließlich gibt es eine ausgeprägt lyrische Seite in Myras Kompositionen, die stellenweise fast an die klassischen Komponisten der englischen Spätromantik wie Frederick Delius oder Ralph Vaughan Williams denken lässt. Hier haben ihr die ruhigen Klanggemälde des Isländers Ólafur Arnalds auf die Sprünge geholfen.
Mittlerweile hat Myra ihren eigenen Sound gefunden, und man kann ihn auf dem im letzten Jahr erschienenen Album Horizons erkunden. Ihr Ziel war es, sich mit ihrer Instrumentalmusik von den konventionellen Besetzungen einer Jazzband zu entfernen. Zwei Flöten, Harfe und Streichquartett formen neben Sax, Gitarre, Keys, Bass und Percussion die Textur der Stücke. Unterstützung erfuhr sie vom Produzenten Matthew Halsall aus Manchester, der mit seinem Gondwana Orchestra im Norden Englands seit Jahren ebenfalls einen starken Large Ensemble-Akzent setzt. „Matthew hat ein exzellentes Ohr dafür, was zusammen funktionieren kann. Er hat mich sehr ermutigt, als ich mit der schrägen Idee ankam, eine Harfe ins Ensemble zu integrieren.“ Myra zieht als Ideengeber für den Kompositionsprozess eine riesige Spotify-Playlist hinzu und schreibt ihre Stücke am MIDI-Keyboard, fixiert dann Note für Note. „Ich bin eine sehr visuelle Person und habe gerne alles, was ich entwerfe, vor mir auf dem Bildschirm. Aber nachher lasse ich meinen Musikern auch mal die Möglichkeit, sich vom niedergeschriebenen Arrangement zu entfernen.“
Von dieser spannenden feinen Linie zwischen Freiheit und Fixiertem lebt Horizons. Die Flöten und die Harfe sorgen für pastorale Pastelltöne, die Grooves schmiegen sich an eine tanzbare Downbeat- Philosophie, in den Harmonien gibt es einen spannenden Widerstreit zwischen klassischem Jazz, minimalistischem Pop und dezenten Verweisen auf die Ästhetik der Electronic Dance Music. Dabei ist Myra wichtig, dass trotz opulenter Besetzung eine luftige, transparente Architektur bleibt, kein Wall of Sound entsteht. In Freiburg wird sie das Album mit acht Musikern – inklusive Harfe! – auf der Bühne umsetzen. „Mein Management fragte mich: ‚Jasmine, du willst also tatsächlich mit einem Oktett auf Tour gehen?‘ Und ich sagte: ‚Ja, sicher!‘ Meine Musik braucht eben jeden Musiker, die Stücke würden leiden, wenn man auch nur eine Flöte wegließe!“
Ein Kontrabass, und wie er die Welt sieht: So könnte man die Vision von Georg Breinschmid beschreiben. Bassist, Komponist, Arrangeur, Bandleader, Liedschreiber, Schauspieler und Wortakrobat: Dieser Mann ist eine der spannendsten Persönlichkeiten Österreichs. Die Wiener Philharmoniker und das Vienna Art Orchestra als Lehrjahre, Experimente zwischen Balkan, Dadaismus und Soul, immer wieder die originelle Rückkehr zum Wienerlied, und vor allem das aktuelle Album Classical Brein: Über all das hat Georg Breinschmid mit mir bei einem langen Frühstück geplaudert.
Für die JazzFacts im Deutschlandfunk habe ich daraus ein Porträt des Wiener Musikers erstellt: Die „Geschichten aus dem Breinländ“ werde am Donnerstag, den 22.6. von 21h05 – 22h ausgestrahlt, danach sind sie eine Woche lang online nachzuhören.
Herr Dreyer, wie kam die Friedensstadt Osnabrück zum Festival beziehungsweise das Festival zur Stadt?
Dreyer: Die Antwort ist ganz banal. Das Festival ist in Osnabrück geboren, weil ich zu dieser Zeit dort gelebt habe. Gerade in den ersten Jahren haben wir viel mit iranischen MusikerInnen gearbeitet. Ich bin damals häufig gefragt worden: „Warum machst du das Festival nicht in Berlin oder Hamburg, wo es große iranische Communities gibt?“ Aber Osnabrück ist wegen seiner überschaubaren Größe für beide Seiten toll, da begegnen sich Musiker und Publikum nach den Konzerten in der Einkaufszone, alles ist fußläufig. Unser Publikum ist über die Jahre mitgewachsen. Wo gibt es das, dass sich Hunderte von Leuten traditionelle uigurische Musik anhören? Wohl nicht einmal in Urumqi. Und natürlich passt der Titel „Friedensstadt“ wunderbar dazu, aber das hat sich nur zufällig so ergeben.
Auf der Website des Festivals heißt es, das Wort „Orient“ rufe unmittelbar positive wie negative Klischees hervor. Aber ist das mit „Morgenland“ nicht genauso? Ist dieses märchenhafte Wort noch zeitgemäß?
Dreyer: Als ich 2005 begann den Blick auf diese Region zu richten, hörte man aus dem „Middle East“ nur schlimme politische Nachrichten, kaum etwas über zivilgesellschaftliche Themen, geschweige denn Musik. Gibt es Jazz in Syrien, HipHop in Iran? Niemand schien das zu wissen. Der Name entstand aus einem optimistischen Spiel mit der Mehrdeutigkeit: Morgenland, aufs Morgen hingedacht. Da jetzt auch die englischsprachigen Besucher von „Morgenland“ sprechen, hat sich das verfestigt, ich komme da nicht mehr raus! Mit der Terminologie ist es nicht ganz einfach. „Orient“ vermeide ich, „islamische Welt“ trifft es natürlich auch nicht. Korrekt müsste man es „Westasien“ nennen. Und musikalisch könnte man sagen, eine Musik, die auf Maqam basiert. Aber auch das stimmt wiederum nur teilweise.
Als einen Schwerpunkt in der Ausgabe 2023 könnte man die Präsenz vieler junger Künstlerinnen ausmachen. Geschah diese Auswahl bewusst?
Dreyer: Das Morgenland Festival Osnabrück wollte immer Klischees entgegenwirken, und eines dieser Klischees besagt, dass die Gesellschaften östlich des Mittelmeeres sehr patriarchalisch geprägt sind. Aber was wir etwa im Iran schon vor den Unruhen gesehen haben, ist ja das genaue Gegenteil, nämlich, was für eine starke Kraft vor allem junge Frauen dort haben. Im Iran sind die am besten ausgebildeten Menschen die jungen, schlauen, aktiven, selbstbewussten Frauen, und sie sind oft Anstoß gesellschaftlicher Prozesse. Die große Anzahl von Frauen beim Festival trägt diesem Aspekt Rechnung.
Das Miteinander von Musikern aus dem „Morgenland“ mit den Musikern aus dem „Westen“ ist ja die Essenz des Festivals. Wie stellt es sich in einer globalisierten Welt dar? Gibt es noch mehr musikalische Durchmischung, oder im Gegenteil wieder eine Berufung auf die jeweils eigene Tradition?
Dreyer: Die eigene Tradition zu pflegen ist ja etwas sehr Schönes. Heikel finde ich, wenn man von kulturellem Austausch spricht, aber defacto spielen nur MusikerInnen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen ihre Soli über einem Bordun. Ich lade MusikerInnen ein, die offen sind für einen Austausch, der darüber hinausgeht. Das funktioniert gut mit MusikerInnen der Alten Musik, weil sie auch nicht wohltemperiert spielen, und im Jazz, weil alle als improvisierende MusikerInnen schon per se sehr offen sind. Es geht mir darum, dass man die Begegnung nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner runterbricht, bei der beide Seiten ihre Komplexität und Schönheit verlieren, sondern beide Seiten sollen ihre Identität behalten und daraus Neues entstehen lassen. Das ist eine Metapher auch für ein gesellschaftliches Miteinander.
In den Begegnungen zwischen Ost und West spielt im Rahmen des Festivals nicht nur Alte Musik und Jazz, sondern oft auch der Orchesterklang eine Rolle. Dieses Jahr ist die kurdische Sängerin Aynur sogar mit dem gesamten Osnabrücker Symphonieorchester auf der Bühne.
Dreyer: Ich habe 2009 das Morgenland Chamber Orchestra gegründet. Das war eine Antwort auf Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra, dem ich iranische MusikerInnen vermittelt hatte. Damals dachte ich mir: Da treffen sich jetzt jüdische, arabische und persische MusikerInnen und spielen Schubert, Brahms, Schönberg. Das ist doch total verrückt! Warum laden wir nicht eher Musiker, Solisten und auch Dirigenten aus ihren Reihen ein und arrangieren ihre Musik. Im Morgenland Chamber Orchestra spielten Studenten aus Iran, Aserbaidschan, Syrien und Irak, und ein paar KollegInnen aus dem Osnabrücker Symphonieorchester. Es gab in diesem Rahmen etwa Konzerte mit Alim Qasimov, Djivan Gasparyan oder eben Aynur. Seitdem, und das ist 11 Jahre her, war es mein Wunsch, einmal Aynur mit einem vollen Symphonieorchester zusammenzubringen. Die Arrangements hat Wolf Kerschek geschrieben, ein begnadeter Musiker. Er leitet die Jazzabteilung der Musikhochschule Hamburg, arrangiert auch für Rammstein oder Helene Fischer, aber seine Liebe gilt ganz besonders dieser Art von musikalischen Projekten.
Eine weitere Klassik-Begegnung bezieht sich auf Vokalmusik. Die Cappella Amsterdam wird Werke der libanesischen Geigerin Layale Chaker und der iranischen Komponistin Aftab Darvishi realisieren. Wie sind die beiden Werke verbunden?
Dreyer: Layale Chaker hat dieses Stück für Chor und Violine zu Texten des irakischen Dichter Nineb Limassu geschaffen, der auf Neuaramäisch schreibt. Eigentlich wollten wir diese Komposition namens „The Bow and the Reed“ einem Konzert gegenüberstellen, für das der syrische Spezialist für frühchristliche, aramäisch gesungene Musik schlechthin, Nouri Iskandar, nochmals zu uns gekommen wäre, er ist jetzt 85. Es stellte sich als zu aufwendig für den Chor heraus und ließ sich auch nicht sinnvoll kürzen, da es sich um religiöse Musik handelt. Dann kam der Vorschlag von der Cappella Amsterdam, eine Auftragskomposition der Iranerin Aftab Arvishi mit Chor, Duduk und Kamancheh dazu zu gruppieren, auch das ist Poesievertonung, vom iranischen Dichter Hooshang Ebtehaj.
Es sind dieses Jahr viele Künstlerinnen und Künstler aus Ländern zu Gast, die politische Brandherde sind: Iran, Türkei/Kurdistan, Palästina. Hat das Morgenland-Festival den Anspruch, sich in politische Fragestellungen einzumischen?
Dreyer: Nein, es ist sogar explizit das Gegenteil. Als wir einmal aus dem Iran zurückkamen, hat Henryk M. Broder in einem langen Artikel geschrieben, wir würden Propaganda für die Mullahs machen. Ich habe daraufhin Hunderte wütender Emails bekommen, man fragte mich: Wie können Sie Ihren Kindern noch in die Augen schauen? Man merkt, wie man von allen Seiten instrumentalisiert wird. Ich betone: von allen Seiten. Wir machen ein Musikfestival, wir geben überhaupt keine politischen Statements ab. Ich habe natürlich eine Meinung zu politischen Themen, doch die gehört hier nicht hin. Vielleicht ist es an sich schon ein gesellschaftliches Statement, wenn wir uns uigurischer Musik oder kurdischer Musik widmen.
Können Sie Ihre Motivation, dieses Festival zu programmieren, mit wenigen Worten zusammenfassen?
Dreyer: Man kann aus dem Negativen heraus agieren. Zurzeit reden wir viel über Postkolonialismus, Eurozentrismus, all das sind ganz wichtige Themen, um die wir uns kümmern müssen. Man kann aber auch sagen: Auf der Welt gibt es so viel tolle Musik, wie dämlich wäre es, die nicht zu hören. Und ich möchte aus dieser positiven Motivation heraus handeln. Für mich hat sich in dieser Hinsicht nicht viel geändert seit ich elf war. Da bin ich zu meinem Nachbarn rübergelaufen und erzählte ihm: Hey, ich habe eine Platte von AC/DC gehört, und die ist so toll, die musst du hören!