Ich bin mir sicher: Viele Leidensgenossen meiner Jahrgänge sind im Musikunterricht auch mit den verschiedenen Versionen von Mussorgskys Bilder einer Ausstellung gequält/gelangweilt/entzückt worden (Nichtzutreffendes bitte streichen). Für mich waren die wundersamen Varianten von Isao Tomita damals eine weitaus größere Entdeckung als Emerson, Lake & Palmers Adaptionen – besonders sein gewaltiges „Great Gate of Kiev“.
Nippons größter Synthesizer-Pionier ist am 5.5. gegangen – ihm zu Ehren noch einmal eine schöne Metamorphose eines anderen großen klassischen Werkes: Die „Venus“ aus Gustav Holsts The Planets.
Isao Tomita: „Venus -The Bringer Of Peace“
Quelle: youtube
Nein, mit dem Titel spiele ich nicht so sehr auf seine eigene Tonsur an, vielmehr auf seine Vorliebe für den Berner Käse Tête-de-moine, die er gestern ausgiebig auf der Bühne äußerte.
Ed Motta, Brasiliens gigantischster Klangkörper war gestern zu Gast in der Kaserne am Jazzfestival Basel, mit einer unvergesslichen Show aus Funk, Postbop, AOR, souliger Disco und herzschmelzenden Balladen im Donny Hathaway-Style, mitsamt glänzend eingestellter, von Keyboarder Matti Klein zusammengetrommelter Band und der grandiosesten Scat-Einlage, die er wohl je gegeben hat. Und er hatte ein Aretha-T-Shirt an: weiterer Pluspunkt.
Ed Motta ist im deutschsprachigen Raum demnächst noch zu hören:
10.5. Kaufleuten, Zürich (CH)
24.-26.6. Bingen swingt, Bingen (D)
30.6. Porgy & Bess, Wien (A)
14.7. Rosenfelspark, Lörrach (D)
Während die Öffentlich-Rechtlichen durch Wegsparen der Nischen ihr eigenes Grab schaufeln, gibt es im Netz neue Radioaktivität zu vermelden: Auf radiooooo.com kann man sich durch Kontinente, Stile und Dekaden hören und so Mosaikbausteine für den Soundtrack des Planeten seit 1900 sammeln. Das Konzept ist simpel: Eine anklickbare Weltkarte bringt einen zum gewünschten Land, dann wählt man sein favorisiertes Jahrzehnt. Des weiteren lässt sich nun zwischen „slow“, „fast“ und „weird“ differenzieren – und dann spuckt die globale Jukebox ein Stück aus nebst – rudimentären – Infos zum Track.
Ein paar Stichproben: Im Brasilien der 1930er bekommt man unter „weird“ Noel Rosas neckischen Samba „Com Que Roupa“ geliefert, fünfzig Jahre später Azymuths „Dear Limmertz“. An aktueller Musik aus China wirft der elektronsiche DJ eine örtliche Version von Abbas „Dancing Queen“ aus. In unseren eigenen Breiten reicht das Jahrhundertspektrum von den Gebrüdern Wolf („Dat Paddelboot“) bis zu Solumun und seinem „Kackvogel“. Gemogelt haben die Betreiber bei der Antarktis: Hier sind nicht nur menschliche Klangerzeugnisse, sondern Buckelwalgesänge und schmelzendes Eis zu hören.
Besonders reizvoll die Taxifunktion: Hier stellt man sich seine eigene musikalische Weltreise zusammen, die dann automatisch wiedergegeben wird. Neue Eingänge sind in einer eigenen Rubrik anklickbar, außerdem gibt es ein „Neverland“ mit kindgerechtem Sound. Zum basisdemokratischen Radiooooo (die fünf „o“ stehen für die Kontinente) kann jeder mit eigenen Musikvorschlägen beitragen.
Christa Couture Long Time Leaving (Black Hen Music/Alive)
Kanadas große Tradition exquisiter Songschmiedinnen bekommt gerade in letzter Zeit immer mehr Aufwind. Eine bei uns völlig zu Unrecht wenig bekannte Dame mit feiner Feder ist Christa Couture. Die Grundsubstanz ihres neuen Albums könnte man als Countrypop charakterisieren, doch ihre empfindsame Stimme konterkariert diese vorschnelle Einordnung. Befasst man sich mit Coutures Geschichte – Krebserkrankung als Teenagerin, Verlust eines Beines, der Tod zweier Kinder – kann man kaum begreifen, wie sie diese sanft gewobenen, niemals larmoyanten Melodien schaffen konnte. Und dann ist dieses Opus zudem noch ein Trennungsalbum. Das Spektrum reicht von Rocknummern mit einem Twang („If I Still Love You”) bis zu dem von federleichter Slidegitarre getragenen „Alone In This”, vom zarten Tänzchen zur Countryfiedel (Lovely Like You”) bis zur vom Piano getragenen Ballade „In the Papers”. Das schönste Kleinod der ganzen CD versteckt sich in der Miniatur am Schluss: „Aux Oiseaux” ist ein zart schlurfender Abschiedswalzer, der einem richtig an die Nieren geht.
Christa Couture: „That Little Part Of My Heart“
Quelle: youtube
Maia Barouh ist eine franko-japanische Künstlerin, die auf ihrem aktuellen Album Kodama (Echos) auch den Schock über die Nuklearkatastrophe in Fukushima verarbeitet. Die musikalischen Traditionen in dieser nördlichen Region Japans waren schon lange vom Aussterben bedroht, durch Erdbeben, Tsunami und Kernschmelze scheint die Kultur der abgelegenen Landstriche endgültig dem Untergang geweiht. Das möchte Maia, Tochter der französischen Komponistenlegende Pierre Barouh nicht hinnehmen. Zwischen Folk, Jazz und Electronica sind ihre Stücke angesiedelt, am eindrücklichsten für mich das Stück „Isotopes“ – unten in einer getanzten Form – , in dem sie die Halbwertszeiten radioaktiver Stoffe rezitiert.
Am 30. Jahrestag des Supergaus von Tschernobyl geht der nukleare Wahnsinn in den meisten Ländern der industrialisierten Welt ungetrübt weiter – auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft.
Nach Prince hat es nun einen der Größten der afrikanischen Musik getroffen: Mit 66 starb während eines Auftritts in Abidjan der kongolesische Sänger Papa Wemba an Herzversagen.
Wenige Falsettstimmen vom schwarzen Kontinent – von denen es dort ja einige gibt! – haben mich so berührt wie seine, nicht umsonst nannte man ihn die „Nachtigall“. Aktiv mitbekommen habe ich seine Karriere erst ab den 1990ern, da war er schon lange ein Star von Kinshasa bis Paris. Als Sänger der Gruppe Zaiko Langa Langa konnte man ihn bereits 1974 beim Begleitprogramm zum legendären Boxkampf zwischen Muhammad Ali und George Foreman auf der Bühne sehen. Mit Zaiko und später mit Viva La Musica hat er die kongolesische Rumba revolutioniert, sie mit Rock versehen und ihr mehr Tempo verpasst, war so maßgeblich an der Herausbildung des Soukouss beteiligt. Gleichzeitig wurde er zum Doyen der SAPE-Bewegung, jener afrikanischen Dandys, die sich mit feinstem Zwirn kleiden, als Protest gegen die ehemaligen Kolonisatoren zeigen, dass auch sie sich mit westlichen Mode-Attributen zu schmücken wissen. Doch Papa Wemba wirft sich genauso mit der Kriegerkleidung seines Volkes Tetela in Schale.
Sein Weg nach Europa beginnt in den Achtzigern, und er führt über den Weltmusikproduzenten Martin Meissonnier zu RealWorld-Chef Peter Gabriel. Die Alben auf dem Label aus Bath werden zu Meilensteinen der frühen Weltmusik, besonders die Scheibe Emotion, wo der charismatische Crooner Songs seines aufstrebenden Kollegen Lokua Kanza genauso vorstellt wie ein Cover seines Idols Otis Redding. Den Opener der CD „Yolele“ habe ich hier nochmals ausgesucht.
In den Folgejahren bleibt es turbulent bei Papa Wemba: Er veröffentlicht Werke, auf denen er Rap, Salsa und Funk in seine Musik einfließen lässt. Und bekommt Ärger mit dem Gesetz, da er Menschen als Backgroundsänger außer Landes schmuggelt und daran verdient. Nachdem er die Zeit im Gefängnis überstanden hat, erfindet er sich mit einer neuen Generation von Landsleuten noch einmal neu, im Ndombolo-Sound, dem Dernier Cri des Soukouss-Universums. Seit gestern ist nicht nur der Kongo um ein schillernde Musikerpersönlichkeit ärmer.
Fraser Anderson Under The Cover Of Lightness (Membran)
Ich verfolge schon seit etlicher Zeit den Gedanken, dass Schottland die feinsinnigste Art von Soulmusik hervorbringt, die man sich vorstellen kann. Bei Mr. Anderson manifestiert sich Seelenvolles in Überfülle: Spätestens seit seinem Album Little Glass Box hat er eine wunderbar empfindsame Brücke zwischen folkigem und souligem Songwriting offenbart, die er jetzt auf seinem neuen Opus (VÖ: 29.4.) ausbaut. Mit schwebenden Gitarren, rauschend-gedämpften Blechbläsern und einer verletzlichen Stimme zaubert er Perlen hin, die den weiten Raum zwischen frühem Van Morrison und Nick Drake ausloten. Eine traditionelle Flöte mogelt sich in „The Wind And The Rain“ zur glimmenden Hammondorgel, durch das ergreifende „Crying From My Heart“ schnurrt eine Fiedel, und eine schreiende E-Gitarre konterkariert den herzblutenden Tenor in „Feel“. Der neuen Heimat Bristol geschuldet, gibt es plötzlich auch mal elektronisch unterfütterte Strukturen, die an den Triphop verweisen – und mit einem Rap, in dem er seine Überforderung als Vater bekennt, widerlegt er alle Mackerposen des Genres. Und überhaupt: Der Opener sollte sofort heilig gesprochen werden (s.u.)
Am 14. April ist im Alter von 80 Jahren ein Pionier der afrikanischen Fotografie gegangen. Der Malier Malick Sidbé hat mit seinen Schwarz-Weiß-Bildern auch die Musikgeschichte des Landes im wahrsten Wortsinn mitbeleuchtet. Seine Porträts von tanzenden Paaren aus dem nächtlichen Bamako der 1960er und 1970er vermitteln lebendig den Aufbruch der Jugend im unabhängigen Mali. Sie sind zugleich auch eine Lossagung vom bis dahin kolonial geprägten Blick auf Afrika. Es sind buchstäblich musikalische Bilder, in denen man den damaligen Soundtrack mithört. Nicht von ungefähr entschloss sich das Label World Circuit 2001, die CD Pirate‘s Choice der Afro-Salsa-Bigband Orchestre Baobab mit seinen Werken zu schmücken. Sidibé war in seinem Studio in Bamako bis zu seiner Krebserkrankung vor wenigen Jahren aktiv, fotografierte auch aktuelle Musiker wie etwa die franko-malische Sängerin Inna Modja. Der Pionier der afrikanischen Fotografie besaß internationale Popularität, auf mehreren Kontinenten waren ihm Ausstellungen gewidmet, seine Bilder wurden auch im Museum of Modern Arts in New York präsentiert. 2007 erhielt er auf der Biennale in Venedig den Golden Lion Award. 1997 zollte Janet Jackson seiner Fotoästhetik in ihrem Video zu „Got Til It‘s Gone“ Tribut.