Bon Anniversaire, Mireille.
Man kann über sie sagen, was man will, aber sie ist eine von sehr wenigen, die mir ein Lied gewidmet haben.
Deshalb: Was meine Kollegen der Tageswoche über ihren Alkoholgenuss geschrieben haben, möchte ich in Abrede stellen. (Liebe Schweizer, ihr müsst das scharfe S wieder einführen…)
Allgemein
Erdige Breitwand
The Breath
Carry Your Kin
(RealWorld/PIAS/Rough Trade)
Wenn der Gitarrist des Cinematic Orchestra und eine erdige nordirische Sängerin zusammen kommen, trifft Tradition auf Breitwand. Das kann gehörig in die Hose gehen, hier wird es zu einem Wunderwerk. Stuart McCallum baut mit großem Besteck neun Klanggemälde: Streichertextur, twangy Gitarren, lyrisches Piano und dynamisch gezügelte, aber vielfältige Drum-Arbeit sind die Farben, über denen die charakterstarken Vocals von Rioghnach Connolly mal solo, mal in kompakten Schichtungen schweben. Eine richtige Wall Of Sound wird weitestgehend vermieden, Transparenz ist das Gebot der Stunde. Anders als beim manchmal verkopften Cinematic Orchestra steht die Kraft suggestiver Melodik im Fokus – und die speist sich mit den sanften Kometschweifen der keltischen Seele stets aus dem Mutterboden Connollys.
The Breath: „Antwerp“
Quelle: vimeo
Crescent City-Funk des Altmeisters
Aaron Neville
Apache
(Tell It Records/Rough Trade)
75 Jahre jung, 56 Jahre Karriere, und immer noch eine schmelzende Stimme, die man vor allem aus Balladen kennt. Mit Apache jedoch feiert Aaron Neville die ganze Palette knackiger New Orleans-Sounds, vereint die Sozialkritik des Siebziger-Motownsouls mit dampfendem Funk à la Meters und Neville Brothers. Ungebremste Bläserenergie entlädt sich im Opener „Be Your Man”, die beschwipsten Horns des Südens swingen in „Stomping Ground”, und die Jamsession „Fragile World” könnte geradwegs aus einer Kneipe im French Quarter tönen. „Ain´t Gonna Judge You” verströmt den schwülen Funk der Sümpfe mit tonnenschweren Bassriffs, dicke Soul-Patina schillert im sinnlich aufgeladenen „All Of The Above” und mit „Heaven” taucht der Mann mit dem charakterstarken Falsett tief in Gospelgefilde. Und dann zaubert der Grandseigneur für seine Gattin noch ein Doo Wop-Liebesständchen hin („Sarah Ann”), bei dem jede Dame schwach werden muss. Ohne Zweifel schon jetzt eines der Soulalben des Jahres.
Aaron Neville: „Be Your Man“ (live)
Quelle: youtube
Rudolstadt-Vorfreude 2016
Liebe greenbeltofsound-„Folger“,
das ist mein 200. Eintrag seit ich diese Seite im Oktober 2014 an den Start gebracht habe.
Und was könnte schöner sein, als ihn mit einer kleinen Vorschau auf das Rudolstadt Festival zu feiern? An den Namen muss man sich erst gewöhnen, die Festivalleitung hat das Prädikat „Tanz- und Folkfest“ abgeschafft. Trotzdem trifft sich dort nach wie vor die Welt, um die musikalischen Facetten zu feiern, die von Rundfunk und Printmedien übers Jahr hinweg immer mehr ignoriert werden – dieses Mal auch bei zivilen Temperaturen und nicht in einer 40 Grad-Hitzeschlacht wie 2015.
Drei von den vielen Gründen, am Donnerstag Zelt und Rucksack zu packen und nach Thüringen aufzubrechen, habe ich rausgesucht. Es sind die leisen Zwischentöne des Festivals, in denen immer die größten Erlebnisse stecken.
1. Germán López (Kanarische Inseln)
Der Musiker aus Gran Canaria ist der führende Virtuose auf der kleinen fünfsaitigen Timple, einem Instrument, das sich aus der Diskantvariante der Barockgitarre entwickelt hat, die die Spanier aufs Archipel brachten. López hat das Repertoire des Instruments rundum erneuert, spielt einheimische Tänze, Flamenco, Jazz und auch ein wenig Bob Marley darauf. Germán und seine Timple sind am Fr, 8.7. um 16h und am Sa, 9.7. um 19h auf dem Neumarkt zu erkunden.
„Imaginando Folías“
Quelle: youtube
2. Alejandra Ribera (Kanada)
Die Kanadierin argentinisch-schottischer Abstammung hat die Mixes zu ihrem nächsten Album beendet, das im Winter erscheinen wird. Kurz vorm Aufbruch zu ihrer Deutschlandtournee öffnet Alejandra eine Tür zum neuen Werk. „Orlando“ ist ein Song, der mich zu Tränen rührt – das liegt an der Musik, aber auch an der Entstehungsgeschichte. Hier spricht sie darüber. Zu hören am Sa, 9.7. um 21h in der Stadtkirche und am So, 10.7. um 13h30 auf der Burgterasse.
„Orlando“
Quelle: Soundcloud
3. Lorcán MacMathúna (Irland)
Sean Nós ist der alte unbegleitete gälische Gesang Irlands, der mittlerweile von etlichen Sängern in die Moderne überführt wurde, allen voran von Iarla Ó Lionáird, den man vom Afro Celt Sound System kennt. Sein junger Kollege Lorcán MacMathúna hat für den Sean Nós auch ein kleines Fenster zum Jazz aufgemacht und stellt diese Kombination am Fr, 8.7. um 21h in der Stadtkirche und am Sa, 9.7. um 23h auf dem Neumarkt vor.
„An Cathach“
Quelle: youtube
Side tracks #18: Auf Schienen durch Jahrhunderte
Gordon Lightfoot
„Canadian Railroad Trilogy“
(aus: The Way That I Feel, United Artists 1967)
Nach etlichen Stationen in Brasilien wechselt diese Rubrik die Spur und gleist – wie es auf Neudeutsch so schön heißt – ein paar Tracks auf dem nordamerikanischen Kontinent auf. Gordon Lightfoot erzählt in seinem epischen Folksong nicht nur die Geschichte der kanadischen Eisenbahn, sondern die des Landes gleich mit. Mit den Lyrics ist (s. Cover oben) in Kanada sogar ein Kinderbuch erschienen. Der Song stammt von seinem zweiten Album, noch bevor er dann 1970 mit „If You Could Read My Mind“ den großen internationalen Durchbruch hatte.
Gordon Lighfoot: „Canadian Railroad Trilogy“ (live)
Quelle: youtube
Im Reich der vergessenen Düfte
Zimtig und harzig, wie ein sehr süßer, sehr edler Pfefferkuchen. Die Probe auf dem Duftstreifen lässt die Nase erst einmal zurückweichen. Das ist schon fast zuviel des Guten. Doch mit der Zeit gewöhne ich mich an die weihnachtlich anmutende Mixtur. Ein heiteres, fast erhabenes Gefühl macht sich breit. Ich versuche mir auszumalen, was das wohl für Menschen waren, die sich diese Komposition auf die Haut gestrichen haben. Das sprengt fast die Vorstellungskraft – denn dieser Duft ist fast 2000 Jahre alt.
„Parfums sind Symphonien und Parfumeure Komponisten“, befand Jean Cocteau, „in der Kunst ist die Parfumerie die duftende Nachbarin der wohlklingenden Musik.“ Warum, so wird man dann fragen dürfen, gibt es so wenig „Konzertsäle“ für die Nase? Sicher, man kann durch die einschlägigen Abteilungen der Kaufhäuser wandeln, sich Werbepröbchen von spezialisierten Versandhäusern schicken lassen. Dabei fehlt allerdings die historische Dimension, unerlässlicher Bestandteil in der Dramaturgie eines gelungenen Konzertabends. Sprich: Wenn wir nur an den aktuell zum Verkauf stehenden Düften schnuppern, dann ist das, als hörten wir nur zeitgenössische Werke. Und wer will das schon? Doch tatsächlich gibt es nur einen Ort auf der Welt, an dem der Nase aromatische Zeitreisen gewährt werden. Wo gewissermaßen der Mantel der Geschichte duftet.
Um diesen Ort zu besuchen, fährt man von der Parfumhauptstadt Paris aus ein Stück nach Westen. In Versailles, wo einst Könige residierten und Verträge unterzeichnet wurden, liegt mein Ziel an diesem trüben, herbstlichen Juninachmittag. Von Louis XV ist überliefert, dass er sich und seinen Hofstaat reichlich beduftete. Sein Schloss allerdings umgehe ich heute weiträumig. Im Zentrum der dem Château vorgelagerten Stadt riecht es gerade gar nicht fein: Ein unverkennbarer Fäkalienhauch mischt sich mit dem, was vom samstäglichen Markt so übrig geblieben ist. Ich steuere ein Restaurant an und bestelle das filet de julienne auf purée de pommes de terre. Schnell entpuppt sich das Tagesmenü als nahezu geschmacksfrei. Auch gut. Schließlich sollen sich für das, was mir vorbesteht, möglichst keine ablenkenden Altlasten im Riechkolben halten. Von der neutralen Cuisine gesättigt schlendere ich weiter durch die Straßen. Versteckt in einer Allee mit Spitzgiebelhäusern, hinter Rosenhecken kommt ein funktionaler Bau zum Vorschein, an dem die Plakette „Osmothèque“ prangt. Mit mir strömen etwa 40 Riechwillige zum Gebäude: eine Gruppe älterer, distinguierter Franzosen samt Dame im Pelzmantel, junge amerikanische Touristen, ein paar Gäste aus Fernost mit Kleinkind. Zwischen Vitrinen mintgrüner und fliederfarbener Flakons begrüßt Patricia de Nicolaï die Besucher. Sie stammt aus der berühmten Parfumeursfamilie Guerlain, und ich ertappe mich dabei, auf ihre Nase zu schauen. Keinerlei Auffälligkeiten. Aber sie verströmt einen dezenten Rosenduft. „Wir sind ein Conservatoire der Emotionen“, sagt die Präsidentin der Einrichtung mit leidenschaftlichem Überschwang. „Jedes Parfum der Vergangenheit ist ja mit einer Persönlichkeit, einer Epoche, einer Geschichte verbunden – und das ist der Zauber dabei.“ Weiterlesen
Schatzkiste #25: Algerische Nostalgie
Line Monty
Line Monty
(Dounia/Editions El Kahlaoui Tounsi, 1978)
entdeckt bei: Crocodisc, 42, rue des Écoles, Paris
Auch Paris bleibt – ganz abgesehen von EM-Turbulenzen und Streiks – derzeit nicht vom nassen Juni-Herbst verschont. Das optimale Wetter also für einen Vinylstreifzug, auf dem ich auch jedes Mal Crocodisc nahe der Sorbonne ansteuere, denn dort findet der Mélomane immer etwas. Bei diesem Trip einen Klassiker der jüdisch-algerischen Diva par excellence: Line Monty (1926-2003) war eine glamouröse Schnittstelle zwischen arabischen Melismen und französischem Chanson, quasi ein schillernder Vokalhybrid zwischen Édith Piaf und Oum Kalthoum. Von Kollegen der orientalischen Welt wurde ihr „Crossover“ nicht immer wohlwollend aufgenommen. Hier sind einige ihrer Standards versammelt, unter anderem der Hit „Ana Loulia“, der aus der algerischen Folklore kommt oder die Hymne „Alger Alger“ an ihre Heimatstadt aus der Feder des Landsmanns Lili Boniche. Ein duftender Rausch für die Ohren, ich rieche schon nach ein paar Takten den Gewürz- und Kaffeesouk in der Mellah von Marrakesch.
Line Monty: „Ana Loulia“
Quelle: youtube
Runengesang revisited
Zwischen den Polen Arvo Pärt und Massenchor-Festivals gibt es in Estland eine Menge Spielraum. Folkmusik, die dort bei der Jugend den Stellenwert von Pop hat, wird gerade rundumerneuert, etwa von der 30-jährigen Geigerin und Sängerin Maarja Nuut, die Texte von Runenliedern mit experimentellen Ansätzen und Loop-Philosophie koppelt. Maarja kommt ab dem 1.7. auf Tournee in Deutschland, der Schweiz und Frankreich, ihr Album Une Meeles erscheint am 24.6. auf Indigo.
Tourdaten:
1.7. Silent Green, Berlin (D)
3.7. Rathaus Binzen (D)
4.7. Café Verkehrt, Murg-Oberhof (D)
5.7. Fondation Fernet-Branca, Saint-Louis (F)
8.7. Kulturhotel Guggenheim, Liestal (CH)
10.7. Werkraum Schöpflin, Lörrach-Bromach (D)
Maarja Nuut: „Hobusemäng“
Quelle: youtube
Die DNA einer Nation
Die Vereinigten Staaten sind mit ihrer ureigensten Sound-DNA, dem Jazz, oft nachlässig umgegangen. Signifikant, dass ein Ausländer dem Erbgut ein Denkmal setzt: Der deutsche Fotograf Arne Reimer veröffentlicht im Verlag der Zeitschrift Jazz thing nun bereits den zweiten Band der „American Jazz Heroes“. Indem er die klassische Interviewsituation aushebelt, findet er zu den 50 porträtierten Musikern einen tiefenscharfen Zugang, festgehalten in einer Fülle respektvoller, ungeschönter, manchmal fast magisch über den Moment hinausweisender Fotos.
Etwa in einem Porträt des 95-jährigen Sänger Jon Hendricks – in diesen dunklen Augen, die da über den Hudson River schweifen, scheint die Erinnerung an fast ein ganzes Jahrhundert voller Musik zu funkele. Viele der Altstars und ungesungenen Helden besucht Reimer zuhause, streift mit ihnen um den Block, lässt sich Anekdoten statt Chronologie erzählen. Entstanden ist so ein höchst intimer Bildband, der keine musikgeschichtlichen Betrachtungen liefert, sondern menschennahe, herzenswarme, auch schrullige Begegnungen. Und der auf diese Weise am Ende doch rhapsodisch amerikanische Jazzhistorie zusammenfügt.
Flötist Hubert Laws entrollt seine Karriere zwischen häuslicher Jamsession und Baseball-Gucken, in seinem schlossartigen Anwesen offenbart Gunter Schuller, er habe das Sessionfinale zu Miles Davis‘ „Birth Of The Cool“ in seiner Doppelfunktion als Waldhornist und Dirigent gerettet. Und von Sonny Rollins erfährt der Leser, warum er sich einst einen Irokesenschnitt verpasste, und dass er leidenschaftlicher Abonnent des Mad-Magazins ist. Von den unerwarteten Augenblicken lebt Reimers Buch: Weil Ornette Coleman Glühbirnen kaufen geht, bleibt der Fotograf allein in der Wohnung zurück. Als er ihn Jahre später ein letztes Mal trifft, erkennt ihn die Saxlegende ob ihrer Demenz nicht mehr. So durchzieht den Band auch immer die Melancholie der Vergänglichkeit:
Einige der porträtierten Musiker sind noch vor Buchveröffentlichung gestorben, ein paar andere verbringen ihren Lebensabend krank oder von der Öffentlichkeit vergessen in schäbigen Apartments. „Wenn ich mir meinen Kontostand angucke, fühle ich mich nicht wie eine Legende“, bekennt etwa Dizzy Gillespies Drummer Charlie Persip. Als sich Reimer vom Pianisten und Sänger Les McCann verabschiedet, der an den Rollstuhl gefesselt ist, bittet er ihn, die Tür offen zu lassen: „Was kann man hier schon stehlen? Das Wertvollste in dieser Wohnung bin ich.“ McCann formuliert vorausschauend für sich und seine Kollegen das, was einst auch der malische Schriftsteller Amadou Hampâté Bâ gesagt hat: „Stirbt ein Griot, so brennt eine ganze Bibliothek.“
© Stefan Franzen
Arner Reimer: American Jazz Heroes – Volume 2, Verlag Jazz thing
Side tracks #17: Stillgelegt
Milton Nascimento: „Ponta De Areia“
(aus: Ultimo Trem, 1980)
Der Komponist und Sänger Milton Nascimento ist am 6. Mai vom Berklee College of Music mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet worden, nach allem, was ich herausfinden konnte als erster Brasilianer.
Anlass für mich, seine berührende Ballade aus dem Ballett Ultimo Trem nochmals vorzustellen: Milton hat hier die unwiederbringliche Zeit porträtiert, in der seine Heimat Minas Gerais noch erfüllt war vom Heulen der Loksirenen und dem geschäftigen Leben an den Bahnhöfen. „Die Militärregierung hat die Strecke stillgelegt und so begann der Niedergang der ganzen Region. Ich liebe Zugfahrten, aber heute gibt es in Brasilien kaum noch Züge. Immer wenn ich in den USA und Europa bin, begebe ich mich auf eine Eisenbahnfahrt, je länger, je besser“, sagt Milton. „Ponta De Areia“ hat er der kleinen verlassenen Endstation der Linie Bahia-Minas am Atlantik gewidmet, wo heute keine Maria Fumaça, keine Dampflok mehr für die Mädchen, Blumen Fenster und Hinterhöfe mehr singt.
Milton Nascimento: „Ponta De Areia“
Quelle: youtube
und eine Bühnenversion: