(he)artstrings #11: Verzweiflung mit Pizzicato

Glen Hansard
„My Little Ruin“
(aus: Didn’t He Ramble, 2015)

Während sich das Jahr 2016 dem Ende zuneigt, ist Zeit, Bilanz zu ziehen über die schönsten Konzerte. Seines, das Finalkonzert beim diesjährigen Rudolstadt Festival, gehört sicherlich dazu. Der Ire Glen Hansard bestritt es auf der großen Bühne im Heine-Park. „My Little Ruin“ ist für mich der intensivste Song, den er je geschrieben hat – er erzählt die Geschichte eines Freundes, der mit einem Haufen von Talenten gesegnet ist, diese aber nicht umsetzen kann, weil er eine Art Selbstzerstörungsmechanismus eingebaut hat. Hansard singt über seine Verzweiflung, darüber, wie er daneben steht, und diesem Freund helfen möchte, der immer und immer wieder in das gleiche Schlamassel hinein gerät. Die Unplugged-Version mit den Pizzicato-Streichern gefällt mir von allen am besten, eingespielt auf einem Hausdach in Paris.

Glen Hansard: „My little ruin“ unplugged
Quelle: youtube

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Die Kreativität der Prärie

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  Foto: Mike Kuby

Scenic Route to Alaska stehen derzeit in den Radiocharts der kanadischen Heimat auf Platz 1 und ist auf Deutschlandtour. Fragen an Trevor Mann, Bandleader des Trios aus Edmonton, Alberta.


Trevor, wir kennen aus Kanada vor allem die Musik aus dem Osten mit Bands wie Arcade Fire. Was ist typisch für die Rockszene eurer Heimatstadt Edmonton?

Mann: Die Leute sind hier sehr entschlossen und zäh, das fördert die Kreativität. Stilistisch gesehen gibt es viel Countryverwandtes, damit sind wir aufgewachsen, auch wenn wir deisen Sound nicht unbedingt mochten. Selbst in unserem Indierock hört man die Prärie durch.

Das heißt die Natur hat einen großen Einfluss auf euer Songwriting?

Mann: Wenn du ein Produkt dieser Umgebung bist, dann passiert das organisch. Wir leben vier Stunden entfernt von den Bergen, aber genauso fährt man vier Stunden und landet im Herzen von Nirgendwo. Diese Weite spiegelt sich in unserer Musik wider, sie macht dich einsam, aber sie ist auch befreiend und öffnet deinen Geist. Wir versuchen, unseren Sound groß und weit zu machen, so dass die Leute denken, sie hören viel mehr als ein Trio.

Allein euer Bandname hört sich an wie eine Liebeserklärung an diese Weite…

Mann: Die Scenic Route to Alaska gibt es ja tatsächlich. Als wir auf der High School waren, sind wir da immer hingefahren und dachten: Was für ein cooler Name für eine Indieband! Er beschwört eine Menge Bilder herauf. Als wir dann unseren ersten Gig hatten, haben wir ihn ausprobiert, es kam positives Feedback, also haben wir ihn behalten.

Der CD-Titel Long Walk Home deutet darauf hin, dass die Songs weit weg von zuhause entstanden sind.

Mann: Ja, in Halifax im äußersten Osten, wo ich ein Praktikum gemacht habe. Da ich niemanden in der Stadt kannte, schrieb ich in meiner Herberge nachts all diese Songs. Ich musste außerdem eine Trennung verarbeiten, es steckt viel Heimatlosigkeit in den Texten. Es war, als ob mein Unterbewusstsein die ganze Zeit Geschichten nach oben spülte. Auf einen positiven Song könnte ich 100 traurige schreiben, aber ich sehe das nicht als etwas Depressives sondern Therapeutisches. Die Melodien zu den dunklen Texten sind ja teilweise trotzdem aufmunternd und positiv – diesen Gegensatz mag ich.

Kanadas Präsident Justin Trudeau hat den Kulturétat um 100 Prozent aufgestockt. Kommt davon auch etwas bei Bands wie Scenic Route to Alaska an?

Mann: Teile davon fließen natürlich in die Hochkultur. Gleichzeitig aber kommt Geld bis auf die Provinzebene durch, wir haben hier in Alberta etliche kulturelle Organisationen, die davon profitieren und das ist für junge Musiker wie uns absolut notwendig, wenn wir auf Tour gehen oder Studioaufnahmen machen. Gerade hier in Edmonton, das immer eine Arbeiterstadt war, schwimmst du als Musiker gegen den Strom, und wenn du als Indie-Band einen Teil vom Kuchen aus diesen Fonds bekommst, erlaubt das dir, dein Leben in eine ganz andere Richtung zu lenken.

© Stefan Franzen

Als Einstimmung zu den sicherlich rockigeren Konzerten hier ein akustisches Ständchen der drei aus dem Jahr 2013:

Scenic Route to Alaska: „Mountains“
Quelle: youtube

Tourdaten:
24.11. Nachtleben Frankfurt
25.11. The Great Räng Teng Teng, Freiburg
29.11. Unter Deck, München
30.11. De Gudde Wellen, Luxembourg
1.12. Wohnzimmer, Hildesheim
2.12. POSH Teckel, Berlin

Brooklyns Königin der Seelen

„Zu fett – zu schwarz – zu alt“, hat sie selbst über sich gesagt, um ihren Misserfolg zu erklären. Mit Mitte vierzig kam der dann doch für die ehemalige Wachfrau, dank der Retro-Soulwelle, die uns eine der fantastischsten Stimmen des neuen Millenniums beschert hat.

Ich durfte sie nur einmal sehen, in Zürich mit den Dap-Kings, und seitdem habe ich nur ganz wenige vergleichbare, derart intensive, seelenvolle Tanzpartys erlebt.

Sharon Jones, die so tapfer nach ihrer Krebsdiagnose noch einmal eine Platte aufnahm und auf die Bühne ging, ist vorgestern mit 60 Jahren verstummt – zumindest in dieser Sphäre. Danke für über zehn Jahre Soulfood für meine Ohren.

Sharon Jones & The Dap-Kings: „If You Call“
Quelle: youtube

 

Türkischer Untergrund-Honig

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Gaye Su Aykol
Hologram Imparatorlugu
(Glitterbeat/Indigo)

Ende 2004 stand ich in Istanbul auf dem Galata-Turm und ließ mir den frischen Wind des neuen künstlerischen Aufbruchs und der jugendlichen Freiheit um die Nase wehen. Dass zwölf Jahre später diese Freiheit in Scherben liegt, hätte sich damals niemand ausgerechnet. Und wie steht es um die Musik? Zumindest diese CD lässt einen im Glauben, dass der Underground am Goldenen Horn quicklebendig ist. Am Werk ist eine der Veteranninen der Szene, die in unseren Breiten bislang von prominenten Namen wie Sezen Aksu überschattet wurde. Schon die ersten Takte des Openers “Hologram” überwältigen mit einem Streichorchester aus einem wildgewordenen Bienenschwarm, dazu knattert eine heftige Surfgitarre. Und der dramatische Auftakt setzt die Vorzeichen für alles Weitere: Wehmütige Trompeten in “Akil Olmayınca” oder Tremolo-Ästhetik à la Dick Dale in “Fantastiktir Bahtı Yarimin” versetzen den Bosporus unmittelbar vor die Tore Tucsons. Paukenintro, flirrende Geigen, ein trauriger Analog-Synthesizer und flatternde Oud zimmern das grandiose “”Kendimden Kamaktan”, schaurige Männerchöre und ein hyperventilierender Bass machen “Eski Tüfek” zum Soundtrack für einen orientalischen Film Noir. Und selbstredend ist es immer wieder Akyol mit ihrer Stimme, die wie ein schweres Duftwasser in ihren Bann zieht, mit erdschwerer Laszivität und federleichter Ornamentik zugleich. Ein Album wie eine urbane Fata Morgana.

Gaye Su Akyol: Kemdinden Kaçmaktan (live)
Quelle: youtube

Schatzkiste #28: Golden Era Highlife

stargazers-broadway-dance-band

Stargazers & Broadway Dance Bands
Those Days
(Decca 1976, orig. 1950/60s)

OK, es ist nur eine Kompilation, aber da die Aufnahmen mit frühem Highlife so unglaublich schwierig zu bekommen sind, ist auch die Gold wert. Während westafrikanische Klänge der späten 60er und 70er durch die Vinyldigger gerade bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet werden, ist die Ära ca. zehn Jahre davor noch ein weitestgehend weißer Fleck. Die Stargazers und die Broadway Dance Band waren im Ghana der frühen Unabhängigkeit führend im Bigband-Highlife, Combos, die sich nach amerikanischem Vorbild zusammenfanden, um die akustische Palmwine-Musik mit Bläsern auszuschmücken.  Bei den Stargazers aus Kumasi war unter anderem auch mal der großartige Sänger und Gitarrist Ebo Taylor Mitglied, der vor einigen Jahren durch die Afrofunk-Retrowelle im hohen Alter zu neuen Ehren kam und als der ghanaische Fela Kuti gilt. Man muss keinen Palmwein trinken, um diese auf Twi gesungenen feinen Stücke zu genießen, sie kommen auch gut als Alternative zum Sonntagmorgen-Jazz.
Gefunden habe ich das schwarze Gold Ghanas auf der Plattenbörse in Freiburg am Stand dieses Herrn: www.lp-house.com

Stargazers Dance Band: „Won Ntuntun Hewura Edusei“
Quelle: youtube

Schockbewältigung aus Halifax

wintersleepEine Woche ist es her, und der Schock sitzt immer noch in den Knochen. Auf politische Ereignisse musikalische Heilmittel zu finden, ist dieses Mal fast nicht möglich. Diese vier Herren aus Halifax, Nova Scotia haben schon im Januar dieses Jahres eine prophetische  Gabe bewiesen, als sie die verzweifelte Rockhymne „Amerika“ als Opener ihres sechsten Albums The Great Detachment („die große Ablösung“!) veröffentlichten. Wintersleep ließen sich von Walt Whitmans berühmtem idealistischen Gedicht gleichen Namens mit der Zeile „perennial with the earth, with freedom, law and love“ inspirieren – und setzen die Furcht dagegen, die Amerikas Ausstrahlung heute auf den großen, kleinen Nachbarn im Norden hat. Begleitet durch die subtile Apokalypse eines Kurzfilms.

Wintersleep: „Amerika“
Quelle: youtube

Constant as a Northern Star

Mit ihm ging es mir so, wie es mir mit Bob Dylan geht: Die Stimme versperrt mir vielfach den Zugang zu seiner Liedkunst. Großartig fand ich es immer, wenn ihn andere gecovert haben (Sandy Denny, Jeff Buckley, Rufus Wainwright…) oder wenn über ihn gedichtet wurde (allen voran in Joni Mitchells „A Case Of You“). Oft hat er selbst Frauenstimmen in den Vordergrund gestellt, um seine Poesie umzusetzen, wie Sharon Robinson oder Anjani. Zum Tod von Leonard Cohen,  dem Meister des Liebesdunkels und des Liebesflüchtigen, ein unbeschwerter Folksong aus seiner späten Feder. Wohl nie mehr wird es eine Nachtigall mit einer tieferen Stimme geben.

Anjani & Leonard Cohen: „Nightingale“
Quelle: youtube

Lagos: And the winner is…

wax-dey-yemi-aladeWer diesen Blog verfolgt, weiß, dass ich ab und zu auch einen Blick auf die aktuelle afrikanische Musikszene werfe. Und die hat mit den Afro-Acts, die hierzulande wahrgenommen werden, herzlich wenig zu tun.

Am Wochenende gingen im nigerianischen Lagos die All African Music Awards (AFRIMA) über die Bühne, und sie unterstreichen das kräftig. Der Vocoder-verliebte R&B regiert immer noch zwischen Johannesburg und Dakar, aber er wird manchmal mit äußerst witzigen Videos gewürzt. Von den in 22 Kategorien vergebenen Awards habe ich mal den Best Male Artist in Central Africa herausgepickt, den Kameruner Wax Dey, der mit der Nigerianerin Yemi Alade hier zu einer Makossa-Variante des 21. Jahrhunderts auf den staubigen Tanzboden geht. Wir erinnern uns: Makossa, der kamerunische Stil, der von Manu Dibango in den frühen Siebzigern mit Soul und Funk aufgepeppt sogar weltweiten Erfolg verbuchen konnte. Auch ein Michael Jackson bediente sich beim Hit „Soul Makossa“ des Sax-Altmeisters und musste dafür nachträglich zahlen. Vielleicht drückt Manu bei seinem Landsmann ein Auge zu, denn auch der hat die berühmte Sequenz verwendet.

Die gesamte Gewinnerliste der AFRIMA gibt es hier.

Wax Dey feat. Yemi Alade: „Saka Makossa“
Quelle: youtube

Side tracks #21: Im Schlafwagen der verlorenen Liebe

joni-mitchell

flagge-kanada-flagge-button-50x75Joni Mitchell:
„Just Like This Train“
(aus: Court & Spark, 1974)

Mit der Canadian Railroad Trilogy hat Gordon Lightfoot vor einigen Wochen die kanadische Eisenbahnsektion eröffnet – und eine Trilogie schaffen wir hier in Kürze auch – mindestens.

Im bittersüßen Sarkasmus enttäuschter Liebe führt uns Joni Mitchell auf die Gleise, vergleicht ihren Zustand mit dem eines immer verspäteten Zuges, der in den Bahnhof hineinwackelt. Und während sie über die Gründe nachdenkt, warum sie ihre Liebe verloren hat, nimmt sie in einem überfüllten Wartesaal Platz und besteigt schließlich einen Schlafwagen, der sie und ihren Liebesschmerz hinweg trägt. Besonders sympathisch macht die Geschichte natürlich die Erwähnung einer „bottle of German wine“.

Es gibt von diesem Song seit diesem Jahr auch eine Version von Jochen Distelmeyer, mit der ich persönlich gar nicht anfangen kann. Jonis Original vom Album Court & Spark ist hier . Mochte ich bislang Blue und vor allem das allererste Werk Song To A Seagull am liebsten, entwickelt sich Court & Spark langsam aber sicher zu meiner Lieblingsscheibe. Es hat schon ein paar jazzige Züge, aber nicht zu viele,  ist unglaublich raffiniert instrumentiert bis hin zu fein aufgefächertem Symphonieorchester, und ist durch diese reichen Arrangements nicht mehr so direkt schmerzlich, so offensichtlich autobiographisch wie Blue.

2002 hat sie „Just Like This Train“ erneut mit Orchester eingespielt (auf dem Album Travelogue), und in den 1990ern hat sie den Song solo im Fernsehstudio aufgegriffen. Bei dieser Gelegenheit: Happy Birthday, Joni!

Joni Mitchell: „Just Like This Train“ (live 1996)
Quelle: youtube

Segensspruch für Paris

Vor einem halben Jahrhundert gründete der französische Sänger, Songschreiber und Comédien Pierre Barouh das Label Saravah, benannt nach einem Segensspruch aus den brasilianischen Macumba-Ritualen. Saravah hat nicht nur französischen Größen wie Jacques Higelin oder Brigitte Fontaine Tür und Tor geöffnet, der Verlag mischte auch im Jazz mit Veröffentlichungen von Barney Wilen, Richard Galliano oder Steve Lacy mit. Schließlich war Saravah bereits in den 1970ern auch ein Vorreiter der Weltmusik und kümmerte sich um Naná Vasconcelos oder Pierre Akendengue. Saravah wird bis nach Japan als Kultabel geschätzt. Der runde Geburtstag wird am 20. November im Pariser Trianon gefeiert. Während dieses Abends präsentieren Pierre Barouh selbst, seine Tochter Maia, aber auch Jazz- und Singer/Songwriter-Größen von Séverin bis Jeanne Cherhal noch einmal die bekanntesten Chansons und Songs aus dem Katalog dieses einzigartigen Labels. Eine CD-Kompilation wird Anfang November unter dem Titel „50 ans Saravah“ auf den Markt kommen, zu hören hier unter anderem Olivia Ruiz, Maia Barouh und Yolande Moreau.

Bon anniversaire, Saravah!

Pierre Barouh: Ce N’est Que De L’Eau“
Quelle: youtube