Hippiesker Songschmied

Heute müssen wir Abschied nehmen vom Singer/Songwriter Moraes Moreira, der im Alter von 72 Jahren diesen Montag in Rios Stadtteil Gávea an einem Herzinfarkt gestorben ist. Moraes stammte aus dem Hinterland von Bahia, wuchs mit der lokalen Volksmusik auf und spielte Akkordeon, bevor er auf die Gitarre umstieg. Als er mit 19 zum Musikstudium nach Salvador kam, traf er Luiz Galvão und Paulinho Boca de Cantor, mit denen er 1968 die stilbildende Band Novos Baianos gründete. Ein Jahr später stießen die Sängerin Baby Consuelo und der Gitarrist Pepeu Gomes zur Gruppe, die zu einer der führenden Formationen der Tropicalismo-Bewegung wurde und brasilianische Elemente aus Samba, Bossa und Frevo mit internationalen Rockvokabeln mischte. Der Poet und Sänger Tom Zé gehörte als Ideengeber ebenfalls zum Dunstkreis.

Nach dem Umzug nach Rio veröffentlichten die Novos Baianos 1972 ihr bekanntestes Album Acabou Chorare, eine Art brasilianisches Gegenstück zu „Sgt. Pepper“: Bis heute gilt es als eines der gewagtesten Pop-Werke Brasiliens und als ein psychedelischer Meilenstein der dortigen Hippie-Bewegung, die sich auch musikalisch gegen die Militärdiktatur zur Wehr setzte. Moreira war bei den Novos Baianos bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1975 einer der wichtigsten Songlieferanten. 1976 startete er seine Solokarriere und wurde parallel Leadsänger beim Trio Elétrico Dodô e Osmar, das sich der karnevalistischen Musik Bahias widmete.

Moreira veröffentlichte annähernd 30 Alben, die eine Stilbreite von Samba, Baião und den folkloristischen Ausprägungen der Musik des brasilianischen Nordwestens über HipHop bis zu klassischer Musik umfassten. 1997 initiierte er eine Reunion der Novos Baianos mit dem Album Infinito Circular. Im vergangenen Jahrzehnt tat sich Moraes Moreira vor allem als Buchautor hervor, schrieb eine Bandbiographie und das Buch O Poeta Não Tem Idade mit Widmungen an Kollegen wie Gilberto Gil oder Luiz Gonzaga. Mein persönliches Lieblingslied aus seiner unerschöpflichen Songschmiedekunst ist bis heute das Stück „Chuva No Brejo“, eine kleine Liebeserklärung an den Regen, der im oft so trockenen Hinterland mit einem süßen Geräusch auf das Dach trommelt.

Moraes Moreira: Chuva No Brejo“
Quelle: youtube

Fall Out-Tagebuch


Heute vor 40 Jahren erschien der erste Vorbote aus Kate Bushs drittem Album Never For Ever. Die Single „Breathing“ markiert einen entscheidenden Wendepunkt in ihrer Karriere. Bush nahm sich eines Themas an, das Anfang der 1980er wie ein Damoklesschwert über den Staaten der westlichen und östlichen Welt hing: die Gefahr eines nuklearen Erstschlags mit allen bekannten Konsequenzen. Um diese um so eindrücklicher zu schildern, nahm sie dazu die Perspektive eines Ungeborenen ein, das den Fallout im Mutterbauch miterlebt. So politisch war Kate Bush nie zuvor gewesen, und mit dieser Themenwahl kündigte sich eine Abfolge mehrerer gesellschaftskritischer Songs an, die vor allem das Album Never For Ever und den Nachfolger The Dreaming markierten.

Auch musikalisch ging sie dabei neue Wege: Das straighte klassische Songgerüst gab sie zugunsten einer Dramaturgie auf, die sich von Strophe und Refrain hin zu einer dystopischen Klangcollage bewegt und dann in einer fast geschrieenen Klimax endet, bevor der Tod jegliches Leben verschluckt. Der Atem als Puls des Lebens, der im Fall einer globalen Katastrophe aber auch zur Vernichtung des menschlichen Körpers führt – sechs Jahre vor Tschernobyl und 40 Jahre vor Corona ist der Engländerin mit dem bedrückenden „Breathing“ unfreiwillige Prophetie gelungen.

Kate Bush: „Breathing“
Quelle: youtube

Holler love across the nation VI – Spirit in the Dark

Vor 15 Jahren startete ich auf Radio Dreyeckland Freiburg eine Serie von epischen Soul-Sendungen, die immerhin 7 Teile hatte (bis zu meinem RDL-Ausscheiden durch Sprung aus dem Fenster 2011). Immer am Oster- oder Pfingstmontag gingen mindestens zwei, manchmal drei Stunden gut abgehangener Soul und Funk bis tief nach Mitternacht live über den Äther. Diese Sendung hieß – benannt nach dem Titelsong von Aretha Franklins 1970er-Album – Spirit In The Dark.

In diesen Wochen und Monaten haben wir alle ein bisschen „Spirit In The Dark“ nötig. Deshalb widme ich diesen Eintrag in der Aretha-Gedächtnisecke des Blogs ebenjenem Song, der mit dem geheimnisvoll glimmenden Fender Rhodes-Akkord beginnt. Ein Bekenntnis zum spirituellen Licht, das aus dem Dunkeln kommt, die Flamme, die mit der  Seele – und vielleicht mit den Ohren – viel eher zu vernehmen ist als mit den Augen. Im Song ist der Moment der „Erleuchtung“ direkt wahrnehmbar, dann nämlich, wenn Aretha und Band plötzlich innehalten und sich die Musik in ein turbulentes Kreiseln steigert, wie eine musikalische Windhose, die alles, Band, Backgroundchor und natürlich die Sängerin selbst mitreißt.

Es gibt unterschiedlichste Versionen dieser grandiosen Soulhymne.
Hier die Studioversion:

Doch dann gibt es dieses 20-minütige, epische Feuer aus dem Fillmore West-Konzert vom 7.3.1971, in dem Ray Charles sie im zweiten Teil etwas desorientiert unterstützt.

Mit Ray Charles hat sie das Stück dann nochmals mit einem noch kräftigeren Schuss Gospel als „Ain’t But The One“ aufgenommen. Eine beseelte Sternstunde, zum Glück für eine TV-Show eingefangen!

Und schließlich haben sich auch andere daran versucht, kürzlich erst zum Beispiel C.S. Armstrong.

Saint Quarantine #12: Österliche Seidenstraße

Foto: Stefan Franzen

Zu den besonders bitteren Beigeschmäckern der Corona-Zeit gehört auf kultureller Seite die Absage des Seidenstraßen-Festivals, das über die Osterfeiertage in der Hamburger Elbphilharmonie stattfinden sollte (obiges Foto: ein Blick vom Dach des Gebäudes). Vorgesehen war, in zehn Konzerten über die historische Route von China nach Venedig zu reisen: etwa mit einem Oratorium namens „Buddha Passion“ des chinesischen Komponisten Tan Dun oder einem Marco Polo-Projekt des Ensembles En Chordais und Constantinople mit der Sängerin Maria Farantouri. Und natürlich mit vielen Musikern Zentralasiens, vom afghanischen Meisterensemble Safar über den kasachischen Barden Mamer und kirgisische Klängen mit Roza Amanova und dem Duo Kynbekov bis zur usbekischen Shashmaqam-Tradition mit Gulzoda Khudoynazarova.

Ein Highlight wäre auch das persische Konzert gewesen, bei dem sich der Sänger Alireza Ghorbani und Tar-Spieler Majid Derakshani hätten begegnen sollen. Letzterer wird nun am heutigen Ostersamstag ab 19h ein Streaming-Konzert in der leeren Elphi spielen, als kleiner Ersatz für all die Seidenstraßenkünstler, die – vorerst – stumm bleiben müssen. Trotzdem ist es ein Gewinn, all die Infos und Klänge online zu besuchen, die die Elphi auf ihrer Seite zur Verfügung stellt.

Majid Derakshani – Elbphilharmonie-Session, 11.4.2020
Quelle: youtube

Kanadischer Freiheitsflug

Vor ziemlich genau drei Jahren bin ich aus Kanada zurückgekehrt, von einer Reise, die mich durch alle musikalischen Facetten des Ostens im Ahornstaat geführt hat. Seitdem bekomme ich immer wieder Tipps zu neuen tönenden Trends zugeschickt, insbesondere aus dem Songwriting-Bereich. Heute möchte ich euch Sébastien Lacombe vorstellen. Lacombe hat seine Homebase in Montréal und wuchs dort zweisprachig auf, zu seinen Vorbildern gehört auch ein Leonard Cohen. Die bilingualen Songwriter Montréals zählen zu den spannendesten Persönlichkeiten, die die Stadt hervorbringt. Die Vielschichtigkeit, manchmal auch Zerrissenheit ihrer Arbeit zwischen den beiden sprachlichen Welten führt zu einmaligen Text- und Klangresultaten. Sebastien Lacombe war seit 2005 auf vier Alben in französischer Zunge unterwegs. Jetzt ist er aufs Englische eingeschwenkt.

Sein neues Werk, das im Herbst erscheinen wird, nennt sich Fly, und das zentrale Thema dieses Werks ist die Freiheit, „die Freiheit, das zu sein, was wir wollen, über unsere Träume hinauszuwachsen, die Freiheit, zu lieben, trotz aller Tücken und gebrochener Herzen“, schreibt Sébastien. Die Produktion für das Label B-12 hat mein lieber Freund Erik West Millette als Coproduzent unterstützt, der Globetrotter in Sachen Eisenbahn, die Arrangements stammen ebenfalls von einem Musiker seines Umfelds, von Olaf Gundel. Die Songs auf Fly, so Sébastien weiter, sollen helfen in den Nachwehen eines schweren Sturms zur Erneuerung zu finden – nichts könnte besser in diese Wochen und Monaten passen. Ich stelle euch die Vorab-Single aus dem Album vor, „Gold In Your Soul“.

https://www.sebastienlacombefly.com/
https://www.sebastienlacombe.com/

Sébastien Lacombe: „Gold In Your Soul“
Quelle: youtube

Saint Quarantine #11: Multimedialer Handschuh


Der Einweghandschuh ist in diesen Tagen für viele ein unerlässliches Utensil. Dass mit einem Handschuh – in diesem Falle in in vieler Hinsicht ein „Mehrweg“-Handschuh –  aber auch multimediale Kunst kreiert werden kann, macht der Freiburger Pianist, Komponist und Arrangeur Ralf Schmid seit einiger Zeit in seinem Projekt „Pyanook“ vor.

Schmid manipuliert mit dem Datenhandschuh „mi.mu-Gloves“, den eine italienische Firma entwickelt hat, live die gerade entstehenden analogen Klänge digital durch Gesten. Als zusätzliche Dimension kommt in Schmids Performances noch eine ebenfalls mit der Musik interagierende Projektion hinzu – alles summiert sich zu einer „augmented reality“.

Wem das zu abstrahiert klingt, die und der kann während dieser Krisenzeit hier jeden Wochentag ab 20h20 auf Ralf Schmids youtube-Kabal einem zehnminütigen Stream lauschen. In seinen Liveschaltungen aus dem Homestudio legt Schmid die Handschuhe für ausgelassene Jams aber auch mal zur Seite. Im Nachklang sind die Streams dann zeitunabhängig auf Schmids verschiedenen Kanälen zu hören. Untenstehend der heutige, morgen Abend geht es weiter. Mit euren musikalischen Inputs entwickelt Ralf seine works in progress, derzeit zum Beispiel ein Stück über einem ghanaischen Groove. Danke für den Hinweis, Ralf!

Ralf Schmid – Pyanook-Livestream 06.04.2020
Quelle: youtube

Ravi Shankar 100


Eine weitere Folge aus !green belt ON AIR! befasst sich mit einer Jahrhundertlegende:

Er beeinflusste Jazzer wie John Coltrane oder John McLaughlin, Bands wie die Beatles und die Byrds, und er war wider Willen ein Guru der Hippies. Ravi Shankar ist bis heute der wohl weltweit bekannteste und einflussreichste indische Musiker. Am 7.4. wäre er 100 Jahre alt geworden. In meinem Beitrag fürs Schweizer Radio SRF 2 Kultur blicke ich in der Sendung „Jazz & World aktuell“ auf das Werk des 2012 verstorbenen Sitarmeisters zurück und stelle die Jubiläums-CD-Box „Ravi Shankar Edition“ vor, die den Musiker vor allem im Licht seiner Teamworks mit Musikern der europäischen Klassik zeigt: mit Yehudi Menuhin oder den Dirigenten André Previn und Zubin Mehta.

Die Sendung ist im Live-Stream am Dienstag, den 7.4. ab 20h hier zu hören und wird am Freitag, den 10.4. um 21h wiederholt. In der Schweiz ist er auch noch nachträglich abrufbar.

Ravi Shankar at Monterey, 1967
Quelle: youtube

Kein Mindestabstand


Einer seiner großen Hits hieß „Lean On Me“. Eine Aufforderung, der man derzeit – so absurd es klingt – in den wenigsten Fällen nachkommen darf. Doch bei ihm gab es immer eine große Portion Oxytocin. War er ein Soul-Sänger? Gute Frage. Ja, Withers hatte den Soul aus einer Songwriter-Perspektive, er machte mit seinem nonchalanten Tenor das härteste Funkriff geschmeidig, und er konnte auch seine grandiosen herzschmelzenden Balladen singen, die ins Folk- oder Popfach fielen und mit fulminant-schwülen Streichern funkelten.  Seine Karriere dauerte lediglich bin in die Mitte der 1980er, dann entschloss sich Withers ziemlich konsequent, kein Musikerleben mehr zu führen.

Bereits am Montag ist Bill Withers in L.A. im Alter von 81 Jahren gestorben, wie heute bekannt wurde. Ich nehme Abschied von einer großen, unverwechselbaren Stimme, die soviel mehr war als das ad absurdum in Fernsehfilmen eingeblendete „Ain’t No Sunshine“ –  mit einem Track aus meinem 1972 erschienenen Lieblingsalbum Still Bill, das mir Nancy 2013 zum Geburtstag geschenkt hat.

Bill Withers: „Let Me In Your Life“ (live)
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Saint Quarantine #10: Primal Light

Foto: Stefan Franzen

Mit 16 ist mir dieses Werk erstmals begegnet, und es hat mich bis heute nicht losgelassen. Die 2. Symphonie von Gustav Mahler zählt zu seinen stärksten und erschütterndsten Kompositionen, insbesondere das „Urlicht“ und der gewaltige Finalsatz mit dem „Aufersteh’n“-Choral. Jedes Mal, wenn ich dieses Werk höre, egal ob im Konzertsaal oder als Aufnahme, bin ich tief ergriffen.

Wir hätten das Werk zu dieser Stunde, wo ich das schreibe, mit dem Orchestre Philharmonique de Strasbourg hören wollen, doch die Zeiten lassen es nicht zu. Das Konzert hätte den Titel „une cathédrale sonore“ getragen, und tatsächlich ist dieses fast 90-minütige Werk, das von einer Totenfeier über genauso selige wie von Ekel geschütterten Rückblendungen aufs Leben bis hin zum Jüngsten Gericht und der Reise in himmlische Sphären berichtet, eine erhabene Kathedrale aus Tönen.

Vor einigen Tagen war der venezolanische Dirigent Gustavo Dudamel mit den Münchner Philharmonikern auf arte mit seiner Lesart der Auferstehungs-Symphonie im Palau de la Música Catalana Barcelona zu sehen. Ein wunderbarer Ersatz und Trost für das ausgefallene Konzert, gerne teile ich hier den Link. Außerdem untenstehend meine Lieblingsinterpretation des „Urlichts“ mit der Altistin Eva Randova und der Tschechischen Philharmonie unter der Leitung von Vaclav Neumann.

Gustav Mahler: „Urlicht“
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Saint Quarantine #9: Sílvia en Casa

Foto: Stefan Franzen

Liebe Leute,

die katalanische Sängerin Sílvia Pérez Cruz wird heute Abend um 21h30 deutscher Zeit ein Wohnzimmerkonzert geben. Sílvias Solo-Konzert im elässischen Bischheim war eines der letzten Konzerte, das ich vor dem Virus besuchen konnte. Seit etlichen Jahren begleitet greenbeltofsound ihre Arbeit, und wir sind gespannt auf ihr Soloalbum Farsa, das demnächst erscheinen wird. Erstmals wird sie dann auch in Deutschland touren. Mit ihrer Version von Leonard Cohens „Hallelujah“ sende ich einen Gruß auf die Iberische Halbinsel und denke an die vielen Opfer, die Covid-19 dort bereits gefordert hat.

Sílvia Pérez Cruz: „Hallelujah“
Quelle: youtube