A Soulful Constellation

Foto: Creative Commons, Bautsch

Mein Soundtrack zum Fest fällt in diesem Jahr anlässlich der Großen Konjunktion astronomisch und seelenvoll zugleich aus – eine Zeitreise in die Jahre 1977 und 1976!
Euch allen ein frohes Fest und ein gesundes 2021 mit der baldigen Rückkehr der Livemusik!

Earth, Wind & Fire: „Jupiter“
Quelle: youtube

Stevie Wonder: „Saturn“
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Rave Over Beethoven


Jazzrausch Bigband
Beethoven’s Breakdown
(ACT/edel)

Ihre Kombination von Techno und Jazz mit den Themen aus der Klassik schlägt hohe Wellen: Nicht nur in den Clubs der bayrischen Hauptstadt räumt die Jazzrausch Bigband aus München ab. Das erfolgreiche Kollektiv verlässt sich mit Schlagzeuger Marco Dufner und Trompeter Julius Braun auch auf Offenburger Profis.

Viele kennen Chuck Berrys Klassiker „Roll Over Beethoven“, mit dem der Rock’n’Roll-Pionier 1956 seine Kindheit verarbeitete: Immer, wenn er ans Klavier wollte, saß dort seine Schwester und spielte Beethoven-Werke. Von da an war der Bonner Komponist des Öfteren Pop-Sujet: Seine Klaviersonate Nr.8, die „Pathétique“, tauchte in Billy Joels „This Night“ auf, die Eurythmics widmeten ihm einen ganzen Song, HipHopper Nas erkor „Für Elise“ zum Hauptthema seines Raps „I Can“. Mit seinem Programm „Mein Beethoven“ schließlich tauchte der Offenburger Bassist Dieter Ilg aus dem Hörwinkel des Jazz tiefsinnig in die Klangsprache des Klassikers ein. Im Jubiläumsjahr gibt es jetzt wieder eine Adaption Beethovens mit Offenburger Beteiligung: Zum 250. Geburtstag des Meisters setzt die Jazzrausch Bigband aus München einen kräftigen Akzent namens Beethoven‘s Breakdown – wobei der Breakdown nicht nur flapsig als „Nervenzusammenbruch“ übersetzt werden sollte, sondern auch etwas freier als kreative „Zerlegung“, wie im Gespräch mit Marco Dufner immer deutlicher wird.

Der Weg des gebürtigen Zell-Weierbachers zu Jazzrausch ist abwechslungsreich und spannend, und er beginnt an der Offenburger Musikschule. „Prägend für meine ganze Jugend war der Schlagzeuglehrer Daniel Schay“, bekräftigt Dufner. „Daniel ist ja ein so vielseitiger Musiker, hat Klassik und Jazz studiert, sich musikalisch mit Brasilien auseinandergesetzt. Und so konnte ich im Unterricht ganz verschiedene Stadien durchleben.“ Als Teenager kommt der Drummer auch schon zur Jazzcombo Froots unter Leitung von Gernot Ziegler, die in Offenburg immer noch einen guten Klang hat. Während der Arbeit bei diesem kreativen Kollektiv von engen Freunden fällt die Entscheidung, die Musik zum Beruf zu machen: „Musizieren und improvisieren mit anderen – das hat mich damals getriggert.“ Dufner gräbt sich durch die Jazzhistorie, arbeitet sich in das Spiel von Miles Davis‘ Drummern Philly Joe Jones und Tony Williams ein, auch Elvin Jones, der Rhythmusgeber von John Coltrane, fesselt ihn. Parallel hat er immer ein offenes Ohr für alle möglichen anderen musikalischen Genres.

Sein Jazzstudium absolviert er in Würzburg, geht anschließend nach München, um seine Berufschancen zu vergrößern. Eine gute Wahl, wie sich herausstellt. Dufner erinnert sich: „Genau zu dieser Zeit ist Jazzrausch gegründet worden. Der Posaunist Roman Sladek veranstaltete damals in einem kleinen Club am Marienplatz eine Konzertreihe und hatte die Idee, eine Haus-Bigband zu gründen. Die startete erst mit Swing, die Experimente mit Techno kamen ja erst später. Und ich wurde als Drummer angefragt.“ Grandioser Zufall: Ebenfalls mit an Bord von Sladeks gerade entstehender Jazzrausch Bigband ist ein Kollege aus Dufners Nachbardorf Fessenbach, der Trompeter Julius Braun, den es ebenfalls an die Isar gezogen hat. Dufner und Braun kennen sich noch aus den Jahren der Offenburger Musikschule. Auch Braun war in der Nachfolge-Formation der Froots aktiv, die ebenfalls von Gernot Ziegler geleitet wurde. „Das war für mich ein witziger Zufall, den Julius in München wieder zu treffen!“

Das Jazzrausch-Kollektiv, heute bestehend aus sechzehn Musikern, beginnt seine experimentelle Reise 2015 mit der Platte „Prague Calling“, die sich noch eher im Genre Fusionjazz mit einigen Disco-Einschlägen aufhält. „Bruckner’s Breakdown“ ist dann der erste Flirt mit der Klassik: Der österreichische Spätromantiker wird mit Dubstep-Ästhetik verbandelt, vor allem wegen der majestätischen Bläserthemen ein grandioses Spielfeld für eine Bigband. Man wechselt zu diesem Zeitpunkt bereits zum renommierten Label ACT. Und nach einem Seitenpfad ins Philosophische – auf „Dancing Wittgenstein“ koppeln sie Clubsounds mit Rezitationen aus Ludwig Wittgensteins Werken – nun also Beethovens Pakt mit dem Techno. Unternommen aus der Perspektive des Jazzrausch-Komponisten Leonhard Kuhn, der etwa Fragmente aus der „Mondscheinsonate“ oder dem 14. Streichquartett verarbeitet, und sich in einer eigenen viersätzigen Sonate den Vokabeln Beethovens nähert. Eine von der Klassik initiierte Sprache, umgesetzt von Musikern, die vorrangig im Jazz geschult sind.

Nicht zuletzt wegen dieser pionierhaften Spagate zwischen den Genres haben sich Jazzrausch binnen weniger Jahre vom Geheimtipp zum angesagten Bühnen-Act Münchens und darüber hinaus gemausert, der nicht nur in einem, sondern gleich in zwei Clubs die Position des Resident Artist bekleidet, gegensätzliche Hörergruppen vereint. „Wenn wir im ‚Harry Klein‘ spielen, dann sind tendenziell jüngere Leute da, das ist deren natürliches Umfeld“, sagt Dufner. „Trotzdem sieht man da dann auch Leute, die sonst nicht in einen Technoclub gehen würden. Und in der ‚Unterfahrt“ ist es genau umgekehrt. Es ist schön, dass wir eine so große Bandbreite erreichen: Auf größeren Festivals und in den Sälen von Philharmonien kommen Leute, die 20 sind, aber auch 60-Jährige, und von denen hatten viele vorher gar keine Berührungspunkte mit Techno.“

Ähnliches gilt übrigens auch für Dufner selbst, der sich vor seinem Eintritt bei Jazzrausch kaum mit Techno beschäftigt hatte. „Für mich war das ein Experiment. Aber Daniel Schay hat mir vermittelt, dass es bei guter Musik immer um den Groove geht. Der Groove ist dafür verantwortlich, dass beim Hörer etwas ausgelöst wird, dass man mitgehen, mitwippen, tanzen kann. Und deshalb habe ich auch den Zugang zum Techno gefunden, dessen Wesenskern ja der Rhythmus ist. Ich merkte immer mehr, dass er eine Kunstform ist, die sich in viele Richtungen und Sub-Genres aufspaltet, und dass das Sounddesign enorm wichtig ist.“ Dufners eigenes „Sounddesign“ für „Beethoven’s Breakdown“ ist bemerkenswert. Nach eigener Aussage versuchte er ganz intuitiv, den Arrangements und Kompositionen von Leonhard Kuhn ein Fundament zu geben, das der Techno-Stilistik treu ist und trotzdem die Beethoven-Melodien erkennbar werden lässt, mit denen sich die Hörer dann identifizieren können.

„Die Grundfrage ist ohnehin: Wie kann ich dem Techno mit einem Akustikschlagzeug gerecht werden? Techno verzeiht ja nichts, die Rhythmen müssen sehr korrekt gespielt werden, sonst klingt es albern. Ich habe viel herumgetüftelt, um auf meinen Drums einen ‚digitaleren‘ Sound hinzubekommen.“ Einige der Kniffe verrät er auch: Über der eisenhart durchlaufenden Bass-Drum, die Kuhn programmiert hat, legt er kleine, sogenannte Splash-Becken mit minimalem Durchmesser auf die Toms, damit es metallischer, „industrieller“ klingt. Generell schichtet er gerne Becken übereinander, um trashiger zu tönen. Die extrem tief gestimmten Stand-Toms klebt er mit Gaffer-Tape ab, damit sie einen extrem trockenen Sound produzieren. „So komme ich viel näher an eine elektronische Produktion ran, aber trotzdem ist alles akustisch erzeugt – der Techno wird auf diese Weise mit Improvisation gepaart, und er bekommt quasi einen organischen Thrill“, resümiert Dufner. „Das hat wohl vorher noch keine Band gemacht, und das macht es auch für die Zuhörer so spannend.

Wer ein Video von Jazzrausch anschaut, oder besser: ein Konzert besucht, der bemerkt, dass Marco Dufner nicht etwa vom hinteren Rand der Bühne aus agiert, wie bei der klassischen Bandaufstellung üblich. Der Zell-Weierbacher ist gut sichtbar, fast ganz vorne platziert. Und das hat einleuchtende Gründe: „Natürlich spielt der Aspekt rein, dass der Rhythmus ein sehr wichtiges Element ist, und dass er deshalb auch auf prominenter Ebene stattfinden soll“, erklärt Dufner. „Wir spielen zwar Bigband-Arrangements, aber es gibt auch improvisatorische Teile, in denen viel über visuelle Kommunikation geht. Wann geht es weiter? Wann ist ein Solo zu Ende? Es hat sich rausgestellt, dass diese Aufstellung optimal ist, denn ich sehe so alle Bläser. Übrigens war es in den Bigbands der 1920er schon so, dass der Drummer auch die Macht hatte, gewisse Keys zu geben, Schlüsselstellen zu gestalten, einzugreifen. In diesem Sinne bin auch ich gewissermaßen ein roter Faden. Und da ist es gut, wenn ich für alle sichtbar bin.“

Corona hat den Reithallen-Auftritt von Jazzrausch in diesem Mai erstmal verhindert. Doch im März 2021 soll es einen neuen Versuch geben. Und dann wird das Publikum sich ein Bild machen können von dieser einzigartigen Bigband: eine Münchner Erfolgsgeschichte, die ohne Offenburger Expertise so nicht vorstellbar wäre.

© Stefan Franzen, erschienen im Salmen Magazin #5

Jazzrausch Bigband in Capriccio (BR)
Quelle: youtube

Stripped down Beethoven


Arash Safaian, Sebastian Knauer  & Zürcher Kammerorchester
This Is (Not) Beethoven
(Modern Recordings/BMG/Warner)

Ludwig van Beethoven beginge heute seinen 250. Tauftag. Anlass, ihn heute Morgen und heute Abend mit zwei akustischen Seitenpfaden zu würdigen.

Eine kräftige Bremse hat das Corona-Virus dem Beethoven-Jubiläumsjahr verpasst. Was auf vielen Bühnen zum 250. Geburtstag des Komponisten geplant war, musste notgedrungen zusammengestrichen oder ganz aufgegeben werden. Anders sieht es bei den CD-Produktionen anlässlich der Feierlichkeiten aus. Unter ihnen hebt sich dieser Tage eine Neuerscheinung heraus, die eine ungewöhnliche Perspektive auf den Meister der Wiener Klassik wagt. Der Komponist Arash Safaian und Pianist Sebastian Knauer haben für This Is (Not) Beethoven die alte Verfahrensweise der Variation mit neuem Anstrich versehen.

Zwar finden sich unter den Beethoven-Würdigungen 2020 auch Begegnungen der abendländischen Klassik mit dem Osten. Wer eine solche bei Arash Safaian vermutet, geht allerdings in die Irre. Der 39-Jährige ist zwar in Teheran geboren, kam allerdings schon als Kind nach Bayreuth, seine Sozialisation fand innerhalb der europäischen Tonsprache statt. Anschießend studierte er in Nürnberg Malerei und in München Komposition. Seitdem wirkt er als Schöpfer orchestraler Werke, Opern und Filmmusik. Safaians erster Kontakt mit Beethoven fand allerdings schon in den ersten Jahren seines Lebens statt: Er erinnert sich an einen Besuch in einem Teheraner Plattenladen namens „Beethoven“, dessen Werke wurden damals noch auf Kassetten angeboten. Dieses Kindheitserlebnis, verknüpft mit dem Kennenlernen des 3. Klavierkonzerts, waren prägend für den Knaben – und die Initialzündung dafür, dass er selbst zum Klavier fand.

Es ist nicht die erste kompositorische Auseinandersetzung des Teams Safaian/Knauer mit einem Giganten der abendländischen Musikgeschichte: In der Produktion „ÜberBach“ von 2016 übertrugen sie Musik von Johann Sebastian Bach für Tasteninstrumente, Choräle und Orchesterwerke in Arrangements mit dem Zürcher Kammerorchester, Klavier und Vibraphon. Bachs Kompositionspraxis spann Safaian weiter, in dem er das barocke Baukastenprinzip mit seinen Sequenzen und Wiederholungen schlüssig und sinnträchtig „verlängerte“, eigene Fortbewegungen und harmonische Entwicklungen erfand.

Für die Tonsprache der darauffolgenden Klassikepoche, in der die Verarbeitung von thematischem Material komplexer geschieht, sich harmonisch, dynamisch und rhythmisch vielschichtiger abwandelt, kann eine solche Fortspinnung nicht mehr so einfach unternommen werden. Oder doch? Tatsächlich stellt Safaian mit dem Marsch aus Beethovens 7. Sinfonie eine der Kompositionen Beethovens ins Zentrum, die am meisten von mathematischer Motorik geprägt sind. Dieses Marschthema des zweiten Satzes beleuchtet Safaian fantasievoll aus jedem erdenklichen Hörwinkel in zwölf Variationen. Er verdichtet die Tonsprache harmonisch bis hin zu Dissonanzen, die auf Schockeffekte der heutigen Filmmusik verweisen, und er gibt ihr eine bombastische Fülle, die einen auch mal an Rachmaninoff denken lassen („Heroic“). Er lässt Instrumentengruppen wirkungsvoll in Zwiesprache mit dem Piano treten, die Streicher mit gleißenden Obertönen, die Bläser mit bellenden Fanfaren. Oder er löst den Marsch in einen pathetischen Walzer auf („Aria in Black“), lässt das Orchester sich an einem einzigen Ton festbeißen, während das Piano dazu das Thema auf ein Skelett reduziert („Grid“). In der Variation „Ricercar“ schafft er es sogar, Beethoven in den Barock zurückzugeleiten.

Damit die zwölf Marsch-Abwandlungen beim Hörer nicht zu Ermüdungserscheinungen führen, bereichert Safaian diese „Fantasy For Piano And Orchestra“ (so der CD-Untertitel) durch Adaptionen aus Beethovens Klavierwerk und einige andere Werkzitate. Eine opulente Einleitung der CD hat er anhand einer leuchtend-cineastischen Einfärbung der „Mondscheinsonate“ geschaffen, spiegelt dabei clever die Motivik und setzt sie in eine höhere Lage. Die Orchesterbegleitung verleiht dem berühmten Eingangssatz einen ganz anderen Atem, bläht ihn aber fast ein wenig zu pompös auf. Nicht fehl am Platz ist dieser dramatische Duktus beim freien Aufgreifen der Schlussfuge aus der „Hammerklaviersonate“, die hier zu einem Schaukasten für Knauers emotionale Expressivität wird. Genau wie die „Kammermusik 3“: Hier verzahnen sich das Spiel der norwegischen Geigerin Eldbjørg Hemsing und von Knauer zu einem wiederum eher nach Bach klingenden Kontrapunkt.

Als „Adagietto“-Nachbetrachtung mit dem Soloklavier klingt diese zu meisten Teilen nicht nur gelungene, sondern auch spannende „Weiterdichtung“ Beethovens melancholisch aus – wie ein verschollener Satz einer Klaviersonate selbst. Beethoven und nicht Beethoven zugleich: Die Klammer in der Titelgebung ist treffend. In jedem Falle ist Safaians „Fantasie“ eine wertvolle musikalische Neuschöpfung. Safaian und Knauer hoffen, wie bei „ÜberBach“ auch klassikferne und jüngere Hörer zu erreichen. Sie sind dabei aber nicht der Versuchung erlegen, die Beethovenbilder der Popularkultur zu reproduzieren, etwa das vom „ersten Rocker der Musikgeschichte“. Vielmehr gelingt es ihnen auch stets in den freieren Passagen, die Abstand vom Originalmaterial nehmen, den vielschichtigen musikalischen Charakter Beethovens ohne Klischees widerzuspiegeln.

© Stefan Franzen, erschienen im Iran Journal

Arash Safaian, Sebastian Knauer & Zürcher Kammerorchester: „Una Fantasia“
Quelle: youtube

Saint Quarantine #20: Papa Chicos Plattenteller


Unter den vielen Streaming-Initiativen und -Projekten, die sich während der Pandemie etabliert haben und die natürlich auch während des jetzt startenden zweiten Lockdowns weiterlaufen, ist  #inFreiburgzuhause ein sehr rühriges und vielfältiges. Alle möglichen Disziplinen und Genres aus der Kulturszene Freiburgs sind hier vertreten. Besonders gut gefällt mir die launige Swamp Radioshow, die Carmelo Policicchio alias Papa Chico in seiner – derzeit leeren – Musikkneipe aufgegleist hat.

Er selbst plaudert mit lokaler und nationaler Prominenz über Musik, Fußball und das Leben an sich, und zwischendurch gibt es tönende Streifzüge durch die Musikhistorie. Man muss kein Lokalpatriot sein, um hier ein paar amüsante Stunden zu verbringen. Die 4. Ausgabe startet am Donnerstag, den 17.12. um 20h und hat Nicole Herman aka Sister Midnight und Ralf Welteroth aka Levy Shoemaker zu Gast am Kneipentisch und am Plattenteller. Dass man beim Lausch- und Guckgenuss auch ein bisschen spenden sollte, versteht sich von selbst.

Klangfenster zu den Nachbarkünsten

Sílvia Pérez Cruz
Farsa
(Universal Spain)

Diese Platte hat eine lange Vorgeschichte. Eigentlich wollte Sílvia Pérez Cruz sie bereits im Frühjahr veröffentlichen – als Endresultat ihrer Beschäftigung mit den Nachbarkünsten Theater, Poesie, Tanz und Film, die sich bereits über zwei Jahre hingezogen hatte. Doch dann kam…wir wissen es alle. Und so blieben diese 16 Stücke nochmals ein halbes Jahr im Nirwana hängen, beziehungsweise im Netz, wo viel davon schon zu sehen und zu hören war.

Man könnte davon ausgehen, dass das Teamwork mit den anderen Disziplinen zu einem Konzeptalbum geführt hätte. Doch Farsa gleicht eher einem Kaleidoskop ohne zusammenhängenden dramaturgischen Bogen, selbst innerhalb der vier Kapitel (auf der Doppel-LP, deren Cover oben abgebildet ist, je eine Seite) ist die Variationsbreite so hoch, dass man keine Geschlossenheit in Besetzung, Instrumentation oder Stimmung erkennen kann. Pérez Cruz hat betont,  dass diese Brückenschläge für sie ein Experiment gewesen sind und genau diesen Charakter hat Farsa bis ins Endstadium auch nicht abgelegt.

Was nicht heißen soll, dass mitunter nicht großartige Songs darauf zu finden sind: „Pena Salada“ etwa, der Eröffnungstrack, der mit dem Perkussionisten Aleix Tobias in eine Urschicht spanischer Folklore entführt, oder das jazzige „Estimat“, das genauso eine Komposition aus der Blütezeit des kubanischen Bolero sein könnte. „Todas La Madres Del Mundo“ ist ein wunderbar wiegendes Loblied auf die Kraft der Mutterschaft (ein zweiter, latenter Faden durch das Werk) mit großem Akustikensemble, aufgeladen mit der dramaturgischen Kraft der Streicher und einer Melodie, die Pérez Cruz Stimme so zur Wirkung kommen lässt, wie sie am meisten glänzt – im ruhigen Fluss mit nur ganz spärlichen expressiven Ausbrüchen. In „Mañana“ wiederum ist ihr ein Liebeslied gelungen, dass mitten aus der mexikanischen Terzenseligkeit stammt.

Farsa – CD-Cover

Mit „Grito Pelao“ erreicht Farsa seinen audio-visuellen Zenith: eine grandiose Kollaboration mit dem Gitarristen Mário Mas und der unorthodoxen Flamenco-Tänzerin Rocío Molina (siehe Video unten) – aus dem gemeinsamen Programm von Pérez Cruz mit ihr ist auch der Titel entlehnt. Auch der anschließende Tango ist ein Meisterwurf, featuret nicht nur den Bandoneón-Könner Marcelo Mercadante, sondern auch ein Outro mit Waldhörnern, die hier eine völlig genre-untypische Farbe ins Spiel bringen. Dann allerdings fasert das Geschehen ausgerechnet auf der Danza-Seite ohne rhythmisch klare Linie ins Deklamatorische und Sphärische ab – vielleicht ist dies mein Hauptkritikpunkt am Album: dass Momente der Band-Stringenz einfach zu selten sind.

Versöhnlicher wieder die finale Sektion, dem Kino gewidmet: Wie in „Plumita“ der Flug einer Feder erst mit Oberton-Streichern und dann im Pizzicato-Taumel ausgestaltet wird, geleitet von traumhaft flexiblen Vocals, das ist Sílvia Pérez Cruz in Höchstform. Und mit ihrer Lesart von „The Sound Of Silence“ aus dem Soundtrack zu Álvaro Brechners „La Noche De 12 Años“ hat die Katalanin einen totgenudelten Klassiker  zwar fast neu erfunden – doch die jüngere, gitarristischere Live-Version, die nicht auf Farsa enthalten ist,  hat viel mehr Zunder. Ein bisschen angeklebt wirkt die explosive Rausschmeisser-Milonga, doch man wünscht sich fast ein ganzes argentinisches Album von Pérez Cruz als nächsten Schritt ihrer Karriere, so fantastisch ist das gesungen.

Ich mochte dieses Doppelalbum anfangs nicht sehr, was bei meiner Vorliebe für die Sängerin schon bemerkenswert ist. Immer noch finde ich es sperrig und stellenweise so heterogen, dass es fast auseinanderfällt. Die Klasse vieler einzelner Kapitel ist aber unbestreitbar und selbst ein paar Verklammerungen gewinne ich bei jedem Hören. Und dieser allmähliche Gewinn anstatt unmittelbarer Überwältigung zeichnet ja oft große Meisterwerke aus.

© Stefan Franzen

Sílvia Pérez Cruz: „Grito Pelao“
Quelle: youtube

 

Banale Beilage? – Eine notwendige Stellungnahme

Dies ist ein Musikblog, doch von Zeit zu Zeit muss ich hier auch zu politischen Ereignissen Stellung nehmen. Es gibt für mich als freien Autor der Badischen Zeitung hierfür leider einen dringenden Anlass.

Am 6.12. fanden die Leser der kostenlosen Zeitung „Der Sonntag“, die der Badische Verlag Freiburg herausgibt, eine 12-seitige Beilage namens „Stadt im Blick“ zwischen den Werbebroschüren. Diese Beilage wurde von den AfD-Stadträten im Freiburger Gemeinderat verantwortet.

Es ist richtig, dass unsere Demokratie die AfD aushalten muss und auch, dass ein Verlag – über die Redaktion hinweg – entscheiden kann, welche Inhalte er in seiner Anzeigenabteilung abwickelt, sofern sie nicht den demokratischen Grundprinzipien widersprechen.

Die Grenze ist für mich allerdings überschritten, wenn hinter diesen Inhalten Menschen stehen, die eine rechtsradikale, völkische, hetzerische Gesinnung erkennen lassen. Das ist zumindest bei einem der beiden Stadträte, sein Name muss nicht erwähnt werden, seit langer Zeit klar erkennbar. Er steht vor Gericht für Tätlichkeiten gegen einen Demonstranten und ist Anfang des Jahres mit AnhängerInnen vor das SWR-Gebäude in Baden-Baden gezogen, um dort JournalistInnen zu bedrohen, mit Anlehnungen an ein Vokabular, das Mitte der 1930er der Reichspropagandaminister in antisemitischen Zusammenhängen verwendet hat. Seine Positionen waren dem Verlag selbstverständlich bekannt.

Dem Verlag hat außerdem das Layout und der Inhalt der Beilage vorgelegen (sie wurde juristisch geprüft!), aus denen hervorgeht, dass diese 12 Seiten Parolen an der Grenze zur Hetze gegenüber Geflüchteten enthalten und dass die AfD-Urheberschaft dieses Blattes kaum zu erkennen ist. So gab es auch LeserInnen, die die Beilage für einen Redaktionsinhalt hielten.

Der Badische Verlag rechtfertigte sich zunächst für die Verteilung und ließ dazu online keine Kommentare zu. Erst am Dienstag wurde auf Druck des Protestes in der Leserschaft eine weitere Stellungnahme lanciert, in der man zu dem Schluss kommt, dass die Entscheidung falsch war. Dieses Lavieren hört sich für mich nicht überzeugend an. Man betont außerdem, dass der wirtschaftliche Nutzen der Veröffentlichung unerheblich war, es sei um ausgewogene Darstellung der Parteienlandschaft gegangen.

Mit Berufung auf die Pressefreiheit wurde einem, der selbst die Pressefreiheit bedroht, ein ausführliches Forum zur Selbstdarstellung gegeben. Auch die Berufung auf ausgewogene Darstellung des demokratischen Spektrums greift nicht, denn der fragliche Stadtrat hat sich mit seinen Positionen wiederholt außerhalb seiner eigenen Partei gestellt.

Ärgerlich ist, dass die Reaktionskette und ihr Resultat komplett vorhersehbar waren: Empörung der Leserschaft, notwendige Stellungnahme und Zurückrudern des Verlags und – entscheidend – damit verbunden eine breite, völlig unnötige Aufmerksamkeit für den Stadtrat. Die Entscheidung für die Veröffentlichung ist meines Erachtens getragen von einem Mangel an politischer Bildung und der Unfähigkeit, die Wiederholung geschichtlicher Prozesse zu erkennen.

Obwohl mich der Vorgang sehr befremdet und erschreckt, wäre es für mich eine unpassende Reaktion, meine freie Zusammenarbeit mit der Badischen Zeitung zu beenden. Damit würde ich die falschen Leute treffen, sprich: die viele Jahre bestehende gute Kollegialität mit meinen RedakteurInnen übergehen und die gegnerische Seite stärken. Es gilt, die kritischen Kräfte innerhalb der Redaktion zu stützen, denn viele in der Belegschaft müssen jetzt eine Diskrepanz zu ihrer eigenen Überzeugung ebenso aushalten.

Eine weitere Aufarbeitung des Geschehenen ist wünschenswert. Ein gangbarer Weg wäre für mich, dass die Verleger die Einnahmen aus der Beilage öffentlich machen und diese belegbar einer gemeinnützigen Organisation oder einer Flüchtlingsunterkunft spenden. So könnte mit AfD-Geldern noch etwas Sinnvolles getan werden. Eine Alternative wäre auch, die Gelder für Veranstaltungen zur politischen Bildung einzusetzen – in Anwesenheit der Verantwortlichen.

Es gibt derzeit einen treffenden Aufkleber mit dem Aufdruck: „Wenn du dich jemals gefragt hast, was du beim Aufkeimen des Faschismus getan hättest, frage dich, was du jetzt gerade tust.“ Hier hat der Badische Verlag fahrlässig und unverantwortlich gehandelt. Als freier Autor der Badischen Zeitung schäme ich mich für den Vorgang und möchte mich von der Entscheidung mit allem Nachdruck distanzieren.

Stefan Franzen

Update 12.12.2020
Der Badische Verlag hat in der heutigen Samstagsausgabe der Badischen Zeitung auf den anhaltenden Protest reagiert und will die Erlöse aus der AfD-Beilage spenden:
In eigener Sache: BZ spendet Erlös der AfD-Beilage an Verein und Aktion Weihnachtswunsch – Wir über uns – Badische Zeitung (badische-zeitung.de)

Soulfolkige Achterbahn

Bastien Keb
The Killing Of Eugene Peeps
(Gearbox Records)

Achtung, diese Scheibe versetzt gleich in etliche Parallelwelten, und man muss schon musikalische Achterbahnfahrten mögen, um hier nicht aus der Hörkurve zu fliegen. Mit The Killing Of Eugene Peeps hat der Londoner Gitarrist, Multiinstrumentalist, Sänger, Komponist und Arrangeur einen imaginären Filmsoundtrack geschaffen, der zwischen allen Stilen und Stühlen sitzt. Kebs geschichteter, falsettiger Heulgesang erinnert an Bon Iver, sein Narrator Kenneth Viota setzt ein abgründiges Bassorgan dagegen, das er wohl in einem muffigen Keller hat dröhnen lassen („Can’t Sleep“).

Tieftraurige Balladen mit Piano, Streichern, Gitarre, Vibraphon und Standbass („Lucky“ / „Rabbit Hole“) wechseln ab mit orchestralen Drohgebärden zwischen Blaxploitation und Erinnerungen an Hitchcock-Komponist Bernard Herrmann. Plötzlich strahlt eine Insel der Soul-Seligen hervor, mit Flötenklang und zarten Frauenvocals, die dem Philly-Sound der Frühsiebziger huldigt („All That Love In Your Heart“). Soul-Referenzen spielen auch mal ins Afro-Funkige hinein, mit zittriger Orgel und sumpfigem Bläserapparat „(Street Clams“), nur um in einen Rap mit dem Gast Cappo zu münden. Die BBC und Jamie Cullum verehren diesen Meister der Verschrobenheit – nicht die schlechtesten Referenzen.

© Stefan Franzen

Bastien Keb: „Rabbit Hole“
Quelle: youtube

Burkina Faso trifft Breisgau

Dirama
Kele Mani
(SiSu Records)

Westafrikanische Musik hat in Südbaden schon lange ihren festen Platz. Wie sich das im Jahre 2020 anhört, dem lässt sich jetzt auf Kele Mani nachhorchen. Personell und musikalisch schlägt das Trio Dirama mit neun Gastmusikern eine Brücke zwischen Burkina Faso und dem Breisgau, zwischen Griot-Tradition und Jazz, der teils auch etwas angerockt sein kann. Zentrale Gestalt des Ensembles ist Laminé Traoré, sein mehrspuriges Geflecht auf dem Balafon, seine gesprochenen und gesungenen Erzähllinien sind die Blutbahnen in den elf Stücken.

Improvisation vermählt sich mit der Afro-Textur mal eher klassisch-jazzig wie in den Sax-Einlagen („Kambele Ba“), mal entfaltet sie sich über einem trabenden, gemächlichen Groove mit Geige (Katharina Mlitz-Hussain in „Dougou Mansa“), regelrecht funkig wird es dagegen mit Sigi Suhrs überblasener Flöte in „Baya“. Es gibt Momente, in denen sich die „afropäische“ Begegnung aufs Nachhorchen, die Besinnlichkeit einlässt, wenn sich etwa wie in „Jakuba“ Bilder vom Dorfleben in der Savanne einstellen mögen. Das Highlight ist ohne Zweifel „Djarabi“: Hier ist die Abmischung der verschiedenen perkussiven Spuren mit den melodischen Anteilen am schönsten gelungen, gekrönt durch ein explosives Finale.

(zu beziehen über: www.trommelworkshop.org)

Klanggemälde im Dämmerlicht

Die griechische Pianistin und Komponistin Tania Giannouli entwirft Klanggemälde, die im Kopf der HörerInnen starke Bilder auslösen. Klassisch ausgebildet bewegt sie sich zwischen Avantgarde, jazzigen Improvisationen, Folk-Anklängen und Minimalismen. Jetzt hat sie mit einem ungewöhnlich instrumentierten Trio (Piano – Trompete – Oud) ein neues Album eingespielt und sich mit mir darüber unterhalten.

SRF 2 Kultur sendet meinen Beitrag in der Sendung Jazz & World aktuell am Dienstag, den 1.12. ab 20h, Wdh. am Freitag, den 4.12. ab 21h.

Hier dann live zu hören im Stream (in CH auch nach der Ausstrahlung):
https://www.srf.ch/audio/jazz-und-world-aktuell/mit-peter-buerli?id=11867364

Tania Giannouli Trio live at Jazzfest Berlin
Quelle: youtube

Saint Quarantine #19: Brasil-Groove von der Saar

Im Advent möchte ich die Serie Saint Quarantine wiederbeleben und sowohl bekanntere als auch weniger vertraute Namen bei ihren Aktivitäten vorstellen, die sich gegen die pandemischen Zeiten stemmen. Denn nach wie vor ächzt die Kulturszene unter den Beschränkungen und Auflagen und sieht einer ungewissen Zukunft entgegen.

Heute bringt der saarländische Jazzgitarrist und Buchautor Ro Gebhardt zusammen mit seinem Nachwuchs Alec am Bass brasilianisches Feeling in die 1. Advent-Stuben. Ro hatte die tolle Idee, an jedem Adventswochenende ein Stück online zu stellen. Begonnen hat er allerdings mit den Vater-Sohn-Sessions schon vor zwei Wochen – in einer grandiosen Version von Robert Schumanns „Hasche-Mann“. Unterstützen kann man Ro Gebhardts feine Gitarrenarbeit hier.

Alec & Ro Gebhardt: „Tudo Bem“
Quelle: youtube