Eine neue Stadtentdeckung, die mich umgehauen hat: Trieste, Italiens in den äußersten Nordosten eingezwängte Enklave, hat den Charme von Wien, mitsamt entsprechenden Caféhäusern, und die Adria direkt vor der Haustür. Eine offensichtlich etwas gemächlichere Lebensweise, eine eigentümliche Sprachmelodie, grandiose Aussichtspunkte von der Burg über die Bucht, eine Mole, von der aus man die Front des größten europäischen Platzes mit Öffnung zum Meer erblickt. Und zudem ein reiches literarisches Erbe, mit dem dort lehrenden James Joyce und dem von ihm inspirierten Italo Svevo nur als die Spitze des Eisberges.
Und wie sieht es mit Platten aus? Angeblich gibt es nur noch einen Laden, doch der öffnet bereits um eine für Vinylomanen unchristliche Tageszeit, um 9h! Das Vinylone (man liest das wohl als die italienische Vergrößerungsform) ist vor allem reich bestückt an italienischer Popmusik, mit der ich trotz der Gebrauchsanweisung meines Kollegen Eric Pfeil („Azzurro“) auch in jüngerer Zeit einfach nie warm geworden bin. Das liegt sicherlich nicht nur an der Musik, sondern auch daran, dass ich als Ignorant der Sprache die oft bissigen bis politischen Texte einfach nicht kapiere.
Nachdem der überaus freundliche und geduldige Verkäufer mir einiges vorgespielt hat, entscheide ich mich dann doch für ein Werk des ganz Großen, aber für eines aus seiner besten Phase: I Mali Del Secolo erschien 1972, nach den großen Hits „Azzurro“ und „Una Festa Sui Prati“, als Celentano anfing, mit seiner nach Englisch klingenden Fantasiesprache, der „lingua Celentano“ zu hantieren. Dafür gibt es auf dem Album mit „Quel Signore Del Piano Di Sopra“ auch ein schönes Beispiel. Als wilden Rock’n’Roll-Einstieg tischt er Little Richards „Ready Teddy“ auf, zum pumpenden Walzerrhythmus erzählt er die Geschichte des Pirelli-Wolkenkratzers von Mailand und schenkt es den Bauspekulanten ordentlich ein.
Die epische „Balata Di Pinocchio“ präsentiert schreiende Bläser, eine wimmernde Orgel und ein eingeschobenes Sprechtheater samt Lachkrampf. Dramatisch geht es weiter: Celentano hält als Gott persönlich eine strafende Ansprache an die Menschheit, kommt dann auf die Themen Umweltverschmutzung und Drogen zu sprechen, letzteres in der kleinen Rockoper „La Siringhetta“ mit Mellotron, Garagengitarren und sirenenartigen Frauenchören. Eine Themenvielfalt, die alle erstaunen wird, die diesen integren Geist nur von den Komödien wie „Gib dem Affen Zucker“ kennen!
Was 2014 mit Konzertberichten zum Electric Light Orchestra und Kate Bush in London begann, hat sich in nahezu 900 Beiträgen über die Roots Music, Jazz, Songwriting, Pop und auch gelegentliche Ausflüge in die Klassik in Interviews, Konzertberichten, Rezensionen – und leider auch vielen Nachrufen auf zwischenzeitlich gestorbene Künstler – zu einem hoffentlich immer lesenswerten, spannenden und vielseitigen Online-Journal jenseits der Zwänge der Musikindustrie gemausert.
Mir hat es immer großen Spaß gemacht – und ich gehe trotz der schwierigen Zeiten in so vielen kulturellen und weltpolitischen Lebensbereichen mit Schwung ins zweite Jahrzehnt.
Feiern möchte ich die 10 Jahre Green Belt of Sound mit einer ganzen Reihe von Reviews, die allesamt intime und teils auch spirituelle Musik herausheben, die in diesem Herbst aktuell ist. Denn gerade aus der Ruhe erwächst oft große Kunst.
In diesem Sinne – lauscht der Stille…
Euer Stefan
Die kleine Bouzouki und der große Konzertflügel: Ob das funktioniert? Joel Lyssarides und Georgios Prokopiou überzeugen uns auf Arcs And Rivers (ACT/edel) aufs Feinste davon. Die versonnenen Dialoge zwischen dem schwedischen Pianisten und dem griechischen Langhalslautenisten lassen alle Zorbas-Klischees hinter sich. Die Bouzouki wird zum freigeistigen Tänzer, zum schwebenden Akteur über den Ostinati des Klaviers („Echoes“), findet sich auch in ein barockes Ausgangsmotiv hinein. In Stücken wie „Kamilieriko Road“ übernimmt sie dann auch mal kraftgeladen die Führung durch eine klar dem Rembetiko zuzuordnende Atmo. Eine echte und äußerst fruchtbare Begegnung.
Der Kamancheh-Virtuose Misagh Joolaee hat sich mit seiner Gattin, der klassischen Pianistin und J.S.Bach-Spezialistin Schaghajegh Nosrati, und dem Perkussionisten Sebastian Flaig zum Joolaee Trio zusammengefunden. Morgenwind (GWK Records) zeigt, wie sich die verschiedenen Sujets der Akteure in vorrangig Eigenkompositionen zu einer neuen Klangsprache verzahnen. Auch hier erstaunlich, wie ein fragiles, obertonreiches Instrument wie die Stachelgeige und das Volumen eines klassischen Flügels in ein gleichberechtigtes Miteinander finden. Schmerzlich-getragene Töne wie in „Be Hich Diyar“ (den iranischen Protestierenden gewidmet) wechseln mit tänzerischer Rasanz („Mehrabani“, „Erzincan Düz Halayi“). Eine Fuge, herausragender Moment der CD, wird mit orientalischer Skala gebaut und überrascht mit dem Klang der Steinmarimba. Flaigs Schlagwerk agiert mehr farb -als beatgebend, Joolaees Geige hingegen übernimmt in Pizzicati und Klopftechniken auch perkussive Aufgaben. Dieses Trio wirft Ost-West-Klischees spielerisch über Bord. Anspieltipp: das von einem zarathustrischen Ritual befeuerte „Sharar“.
In eine klanglich sehr weit entfernte Welt entführt uns das koreanische Frauenduo Dal:um. Korea ist Wölbbrettzither-Land, und auf Coexistence (Tak:til/Glitterbeat) lässt sich eine zwar von der traditionellen, teils höfischen Gugak-Musik inspirierte, aber durch und durch moderne, catchy Zwiesprache von Gayageum und Geomungo erleben, zwei Vertretern dieser weitverzweigten Familie. Das Hartholz des Blauglockenbaums bietet das Baumaterial für diese Zithern, die kraftgeladen, harsch, perkussiv und dennoch lyrisch klingen, Durch das Bending der Saiten entsteht gar so etwas wie eine “bluesig-soulige” Anmutung. Die transparente Unterhaltung der beiden Instrumente lebt von der klaren kontrapunktischen Rollenverteilung zwischen Bass und Melodiebereich. Und plötzlich tönt Fernost gar nicht mehr so fern.
Wenige von uns verfügen über synästhetische Fähigkeiten, können Musik also in Beziehung setzen zu Farben oder gar Gerüchen. Der Klarinettist David Orlowsky zählt zu den Glücklichen und versucht auf Petrichor (Warner Classics) mit seinem Trio an Gitarre und Percussion, für ihn prägende Düfte in Töne zu übersetzen. Das Odeur von Marrakesch manifestiert sich in einer geheimnisvoll geschwungenen Nostalgie über Marimbaphon, Lissabons Gassengeruch verdichtet sich in einer schreitenden Walzermelancholie. Doch nicht nur Orte verfangen in Orlowskys Miniaturen: „Patchouli“ oszilliert zwischen Flamenco- und Klezmer-Atmo, „Lavender“ weht wie eine wehmütige Abendmeditation in die Ohren. Am schönsten ist aber, wie sich der Zitronenduft klanglich verfestigt – gar nicht säuerlich, sondern als zärtlich tänzelnder Schwebezustand.
Dass sie sich – zusammen mit Perkussionist Paco de Mode bereits zum dritten Mal zum Trio-Gipfel auf CD treffen, zeugt von ihrer tiefen Verbundenheit und ihrem blinden Verständnis. Und so machen der menorquinische Pianist Marco Mezquida und der barcelonische Gitarrist Chicuelo auch Del Alma (Galileo) wieder zu einer spannungsvollen Zwiesprache, die zwar Flamenco-Intros und Rumba-Rhythmen einwebt, aber immer wieder die Souveränität hat, die Farben des Blues‘ und pianistische Einschwenkungen in die Música Latina zu unternehmen. Beide Akteure schöpfen aus ihrem hohen Können, das in einem Stück wie „Alalimón“ zu perfekter Verschmelzung führt und sie im Finalstück „El Faro De Los Deseos“ schon fast auf die Höhe eines romantischen Kunstliedes hebt.
Weit mehr als eine Kuriosität ist das palästinensisch-jordanisch-äthiopisch-finnische Trio Wishamalii. Ihr Debüt Al-Bahr (Nordic Notes) zentriert sich um das Klavier des Komponisten Kari Ikonen, das auf arabische Stimmung getunet ist. Die verhangene, ornamentale Stimme von Nemad Battah, wahrhaft ausgeklügelte Texturen mit persischem Hackbrett, Oud, zarter Geige, luftiger Trommelarbeit und flexiblen Synths schaffen eine Farbpalette, die in der arabischen Musik ziemlich einzigartig ist. Vielleicht gibt die Heimat Helsinki ja dieses atmosphärische Extra-Quäntchen hinzu.
Im stolzen Alter von 93 Jahren ist sie gegangen. Ein verspäteter Nachruf in sieben Lieblingsliedern an eine Große, die mich über Jahrzehnte mit ihrer Musik begleitet hat – und so viel mehr war als die Schlagersängerin, als die sie viele verbucht hatten. Adios, Caterina Valente.
1. mit Luis Bonfá: „Menina Flor“ (1963)
Quelle: youtube
2. mit Silvio Francesco: „Quizas Quizás Quizás“ (1962)
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3. mit dem Orchester Stanley Black: „Scandinavian Folksong (Värmlands Visa)“ (1962)
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Selbst Brasil-Freaks hatten ihn lange kaum auf der Rechnung, denn er hat nur zwei – dafür aber umso grandiosere – Alben aufgenommen. Der Sänger, Gitarrist und Komponist José Mauro aus Rio de Janeiro ist nun im Alter von 75 Jahren gestorben. 1970 nahm er in den Odeon Studios seiner Heimatstadt den Klassiker „Obnoxious“ auf. Gefolgt wurde diese Rarität von „A Viagem Das Horas“ im Jahre 1976. Beide Platten erschienen auf dem kleinen Label Quantin Records und waren Kleinode der brasilianischen Songwriting-Kunst, deutlich psychedelisch bis spirituell geprägt, beeinflusst von Samba und Candomblé-Motiven, mit elaborierten, überwältigenden Orchesterfarben von Lindolfo Gaya geadelt. Mauros Gästeliste konnte sich sehen lassen: Der Sänger und Perkussionist Wilson Das Neves, Pianist Dom Salvador, Azymuth-Drummer Ivan Conti und Klarinettist Paulo Moura zählten zu den illustren Mitwirkenden.
Da Mauro nach 1976 in der Versenkung verschwand, bildeten sich Mythen um ihn, man munkelte, das in Brasilien herrschende Militär hätte ihn entführt oder er sei bei einem Unfall ums Leben gekommen. Doch Mauro hatte einfach beschlossen, sich mangels Erfolg aus dem Plattengeschäft zurückzuziehen, schrieb aber weiter Musik fürs Theater und erteilte Gitarrenunterricht bis er an Parkinson erkrankte. 2016 und 2021 wurden die Meisterwerke vom englischen Label Far Out wiederveröffentlicht und Mauro erhielt zumindest bei einer erlesenen internationalen Fangemeinde die Bekanntheit, die ihm gebührt.
Ghalia Benali – Constantinople – Kiya Tabassian In The Footsteps Of Rumi Festival Arabesques, Opéra de la Comédie, Montpellier 10.09.2024
Das Festival Arabesques in Montpellier hat mittlerweile schon eine fast 20-jährige Tradition. An verschiedensten Spielorten der für mich schönsten französischen Stadt präsentiert das Team vorrangig Musikerinnen und Musiker, die im sogenannten Okzident noch keine klingenden Namen haben, der Entdeckungsfaktor ist groß! Für uns war es das erste Mal, dass wir in die Arabesken eingetaucht sind, und das Eröffnungskonzert entpuppte sich als überragendes Erlebnis.
Bei Constantinople handelt es sich nicht etwa um ein Ensemble aus Istanbul, sondern die Gruppe um den Exil-Iraner Kiya Tabassian ist in Montréal beheimatet. Der Name ergibt Sinn: Wie Montréal heute war Konstantinopel seinerzeit Drehscheibe der Begegnung von Völkern und Kulturen. Traditionen von Andalusien bis Anatolien, von den jüdischen Shtetls bis zur iberischen Romanze, von Korsika bis Persien bündelt Constantinople zu einer neuen Vision. Um den Lautenisten und Sänger Tabassian scharen sich zu diesem Zweck stets neue Gäste, etwa die Sängerin und Autorin Ghalia Benali aus Tunesien. Mit ihr haben sie das Projekt In The Footsteps of Rumi erarbeitet, das kleine Textauszüge in persischen und arabischen Versen aus dem immensen Werk des berühmten islamischen Mystikers des 13. Jahrhunderts zu neuen Arrangements setzt.
Das Konzert in der plüschigen Atmosphäre der vollbesetzten Opéra de la Comédie lebt vom Kontrast der beiden Stimmen. Reizvoll, wie Benalis tiefes, resolutes und machtvoll-erdiges Timbre wechselweise mit der feingliedrigen, verzückten Vokalkunst von Kiya Tabassian die spirituellen Metaphern interpretiert. Gestenreich deklamierend, vielleicht etwas zu plakativ unterstützt durch eine rote Federboa, trägt Tunesierin die Poesie vor. Tabassians Linien auf der Langhalslaute vereinigen und umschlingen sich mit den charakterstarken, selbstbewussten Improvisationen der Kastenzither Kanun (Didem Basar). Spannend, dass keine persische Kamancheh für die Textur gewählt wurde, sondern mit dem türkischen Schwesterinstrumente Kemence (Solistin: Neva Özgen) noch einmal ein ganz anderes Obertonspektrum zum Tragen kommt. Für die perkussive Stütze wählt Constantinople mit Patrick Graham und Hamin Honari ein Zweiergespann, das mit Rahmentrommel, Tombak und kleinem Schlagwerk-Set eine variable und flexible Rhythmusgebung ermöglicht.
Ich kann in den letzten Jahren auf wenige Konzertereignisse dieses Kulturraumes zurückschauen, die mich so in den Bann gezogen hätten. Besonders ergriffen hat mich das Stück „Morghe Bâghe Malakout“:
Ich bin ein Vogel aus dem Paradies, nicht vom Reich der Erde bin ich, für ein paar Tage gefangen in meinem Käfig aus Fleisch und Knochen. Die duftende Morgenbrise bringt Kunde von der Vereinigung, mit Freude und mit Gesang werde ich diesen Käfig, diesen irdischen Thron verlassen.
Musik aus Irland: Man müsste schon lügen, wenn man abstreitet, da nicht sofort an Irish Folk zu denken. Jazz auf der grünen Insel? Eher ein zweitrangiges Thema. Bis jetzt, denn mit dem Córas Trio aus Belfast stellen sich drei junge Musiker vor, die tatsächlich beides unter einen Hut bringen: Jazz und Folk, und das in einer verblüffenden neuen Free Folk-Sprache.
Eine Fiddle, die mit den Grenzen der Folkmusik flirtet, ein Schlagwerk, das eher Farben als Beats beisteuert, eine Akustikgitarre, die beileibe nicht nur folkige Begleitakkorde schrummt und ganz dezent eingesetzte Synthesizer: Das ist für mich einer der Entdeckersounds des Jahres. Für SRF 2 Kultur habe ich mit dem Trio-Drummer Conor McAuley gesprochen, der Beitrag wird im Rahmen der Sendung Jazz & World aktuell am Dienstag dem 17.09. ab 20h gesendet.
Gestern erschien die Single „Remembering“ der deutsch-afghanischen Stimmenkünstlerin Simin Tander, die auf diesen Seiten schon des Öfteren gewürdigt wurde. Tander hat seit einiger Zeit ein neues, multinationales Quartett um sich geschart, in dem Schlagwerker Samuel Rohrer (Schweiz), Bassist Björn Meyer (Schweden) und die indische Violinistin Harpreet Bansal ein spannendes Gefüge erzeugen. Besonders die Zwiesprache der glissandierenden Geigenlinien mit Tanders freier Vokalphilosophie inklusive suggestiver Silben in einer Fantasiesprache ziehen mich in den Bann. Ich bin gespannt auf das Album, das im März 2025 erscheinen wird.
Simin Tander New Quartet: „Remembering“
Quelle: youtube
SWR Musikstunde Von Wunden und Wundern – Musik und Heilung 26. – 30.08.2024, jeweils 9 Uhr 05
Die heilende Kraft der Musik wurde in der abendländischen Musikgeschichte von Hildegard von Bingen bis Ludwig van Beethoven, von Johann Sebastian Bach bis John Adams beschworen. Musikalische Heilrituale und Lieder über Medizin gibt es aber auf allen Erdteilen, genau wie klingenden Trost bei seelischem Schmerz und körperlichen Wunden.
Die Musikstunde erzählt von Heilern und Heiligen, von Göttern, Geistern und Quacksalbern, vom Lichtstrahl im Jammertal, von großer Hoffnung und kleinen Wundern. Klassische Klänge kontrastiere ich mit Liedern aus Mexiko, Brasilien, Belize, Marokko und Irland, mit Pop, Soul und Jazz von Björk über Marvin Gaye bis Shabaka Hutchings.
Shabaka: „The Wounded Need To Be Replenished“
Quelle: youtube
„Samba, Bob Marley und Stevie Wonder haben in meinem Innern immer in Frieden gelebt“, hat sie dem Autor dieser Zeilen einmal gesagt. Aufgewachsen im Umkreis von Rio de Janeiros Sambaschule Portela war Marisa Monte seit ihren frühen Alben der 1990er immer eine Brückenbauerin zwischen den Rhythmen Brasiliens und dem international verständlichen Pop. Sie ist eine der wenigen Brasil-Stars, die in Rio, New York und Berlin fast gleichermaßen bekannt sind. Jetzt ließ die 57-Jährige auf dem ZMF ihre Laufbahn schon mal Revue passieren.
Stimmige Gesamtkunstwerke mit leicht theatralischem Touch sind Montes Bühnenmarkenzeichen: Sie überrascht im eleganten schwarzen Flamencokleid samt Cordobés-Hut, wirkt unglaublich gelöst und kommunikativ. Ihre Hände fließen, ihre Augen scheinen im Rund des vollen Zeltes wirklich Jede und Jeden zu suchen. Und diese Stimme! In ihrer fruchtigen Bittersüße und ihrer schmerzlichen Wehmut immer präzise. Mit dem zeitlosen Porträt einer (freiheits-)liebenden Frau, „Maria de Verdade“ hat sie das Publikum sofort – die zahlreichen jungen, textsicheren Brasilianerinnen sowieso, die mit verzückten „Linda“- und Maravilhosa“-Rufen die Pausen garnieren. Marisa Monte ist ihre Taylor Swift.
Die eher ruhigen Songperlen aus Montes Fundus bestimmen große Teile der Show: das geheimnisvolle „Infinito Particular“ mit schwebenden Harmonien, der zirpende Walzer „Vilarejo“, oder das rhythmisch fast freie „Diariamente“ mit sprachspielerischen Plopp-Versen. Zu Brasiliens heimlicher Hymne, dem fast hundert Jahre alten „Carinhoso“, faltet sie die Hände zur Rose und zaubert chromatisches Melos. Zum Hinterhof-Samba „De Mais Ninguém“ mit dem Ukulelen-Instrument Cavaquinho und Brasiliens Mandolinen-Variante Bandolim wird an der Seitenlinie versunken getanzt. Hier ist jeder Ton ein Kuss, jede Phrase eine Umarmung.
Die Band bleibt dienend und unauffällig: Schöne Bassläufe schickt der unglaublich relaxte Altmeister Dadi Carvalho, Gitarrist Davi Moraes streut mal ein glitzerndes E-Gitarren-Solo ein, textiert sonst viel mit Liegetönen, und Drummer Pupillo ist eine Blaupause für Ruhepuls. Über der Perkussion thront ein Siebzehnjähriger: Pretinho da Serrinha tupft mit Conga, Holzblock, Tamburin und Brummtopf, ist auch ein Meister des Cavaquinho. Seine Feinheiten hört man selten, denn wieder einmal bleibt das Dauerärgernis ZMF-Sound: Angenehm in der Lautstärke zwar, aber so seltsam abgemischt, dass die Musiker wie hinter Gaze agieren, und Montes Stimme oft in der Band untergeht, statt sich über sie erhebt. Das tut dem Tanzfinale keinen Abbruch: Songs aus dem „Tribalistas“-Projekt wie der Ohrwurm „Já Sei Namorar“ mit Jubelrefrain und die wendige Funkyness von „A Menina Dança“ reißen alle von den Stühlen. Rio zu Gast am Mundenhof inklusive tropischem Regen – ein Abend purer Glückseligkeit.
Als sie Anfang der Neunziger begann, Fado zu singen, interessierte sich außerhalb Portugals Grenzen kaum jemand für das Genre. Mit ihrer Vision, den portugiesischen Nationalstil zu erneuern, hat Mísia seine internationale Erfolgsgeschichte mitbegründet. Nun ist sie im Alter von 69 Jahren in Lissabon gestorben.
„Ich faltete meine Stimme mit dem Schmerz zusammen und machte ein Boot daraus.“ Mit diesem Satz aus ihrer A Cappella-Komposition „A Beira Da Minha Rua“ hat sie das maritime portugiesische Lebensgefühl der Saudade in ein wunderbares Bild gefasst. Dieses vielzitierte Sehnsuchtsgefühl hat sie in ihren Canções oft kultiviert, und als Amália Rodrigues, Portugals große Fado-Ikone 1999 starb, war es Mísia, die man oft als ihre Nachfolgerin auf den Schild hob. Tatsächlich übernahm es Mísia auch, unvollendete Stücke von Amália zu komplettieren.
Doch so einfach ist die Geschichte von der „Nachfolgerin“ nicht: Denn die 1955 in Porto als Susana Maria Alfonso de Aguiar geborene Sängerin, die ihren Künstlernamen zu Ehren der Pariser Muse Misia Sert trug, war keinesfalls nur Verwalterin des Amália-Erbes, sondern vielmehr Erneuerin des Fachs. Das begann mit ihrem Äußeren: Sie inszenierte sich zwar oft in Fado-typischer schwarzer Kleidung, trug aber in ihren frühen Jahren ein geradezu maskenhaftes Gesicht mit Pagenschnitt zur Schau, das eher ans Theater erinnerte. In die Arrangements ließ sie über die klassische Besetzung hinaus Geige und Akkordeon einfließen, und neben der Poesie eines Fernando Pessoa gab sie auch immer wieder zeitgenössischeren Schreibenden wie José Saramago oder Lídia Jorge die Chance, durch ihre Vertonungen Gehör zu finden. Melancholie war genau wie Humor präsent in ihrem Repertoire, sagenhaft etwa ihre Miniatur „Formiga“ über eine Ameise, die unter dem beschwerlichen Tourneeleben leidet und dann singend zur Zikade wird. Mit diesem neue Fado eroberte sie die Bühnen der Welt, von Hamburg bis Hongkong, von Paris bis Australien.
Mísias Mutter stammte aus Barcelona, und das Faible für weitere Facetten iberischer Kultur war ihr dadurch schon eingeschrieben. Widmungen an die katalanische Liedkunst, an Tango und Bolero kamen zum Zuge, etwas auf ihrem Album Drama Box (2005). Diese stilistische Spannbreite drückte sich auch in etlichen Duetten aus, deren Partner von Ute Lemper bis Iggy Pop reichten. Als sich 2016 der heimtückische Krebs in ihr Leben schlich, verarbeitete sie diese Krankheitsgeschichte zu einem ihrer großartigsten Werke, Pura Vida: „Das Leben war wie in einer Waschmaschine“, sagte sie damals im Jazz thing-Interview. „Nur wusste ich nicht, welches Programm eingestellt war, wann Wasser kam, wann der Schleudergang – und wann das Ganze aufhören wird.“ Nochmals führte sie Neuerungen ein, indem sie Bassklarinette und E-Gitarre in musikalischen Widerstreit schickt, und sang über den Körper als Käfig, lieh sich, aufbegehrend gegen die Endlichkeit, die Worte des Dichters Tiago Torres da Silva: „Jedes unserer Schicksale ist wie eine Beleidigung.“
Auf ihrem letzten Album, Animal Sentimental, das sie 2022 zusammen mit ihrer Autobiographie herausbrachte, ließ Mísia nochmals ihr Leben Revue passieren, auch die düsteren Kapitel von Vergewaltigung in der Ehe bis zu ihrer angegriffenen Gesundheit. Seit 20 Jahren immer wieder von verschiedensten Seiten mit Ehrungen und Preisen bedacht, geht mit ihr eine der umfassendsten Protagonistinnen des neuen Fado.