Eine Feier des Portugiesisch-Seins

Foto: Hugo Silva

Beheimatet in zwei Welten – so beschreibt Júlio Resende sein künstlerisches Selbstverständnis. Bereits 2013 brachte der Pianist aus Lissabon ein Tribut an die größte Fadista aller Zeiten, Amália Rodrigues heraus. Seit Jahren hat er sich mit Fado genauso wie mit Jazz intensiv auseinandergesetzt. Der Pianist aus Lissabon hat das spannende Experiment unternommen, den üblicherweise gesungenen Fado aus seinem traditionellen Korsett zu befreien. Er spielt ihn rein instrumental und verbindet ihn mit der Improvisation des Jazz. Die Entstehung seines neuen Albums war für ihn daher ein ganz organischer und natürlicher Prozess.

Meinen Interview-Beitrag über Júlio Resende und sein neues Werk Fado Jazz strahlt SRF 2 Kultur am Dienstag, den 5. April ab 20h in der Sendung Jazz & World aktuell mit Roman Hosek aus. Wiederholt wird die Sendung am 8. April ab 21h, in der Schweiz ist sie auch nach der Ausstrahlung online zu hören.

Cully Jazz 2022 – Jazz und World aktuell – SRF

Júlio Resende: „Vira Mais Cinco“
Quelle: youtube

Peace On Earth! Jazz-Solidarität mit der Ukraine

Die Jazzszene in Deutschland bezieht Stellung gegen Krieg und Militarismus.

Am 24. Februar 2022 hat die russische Armee auf Befehl Wladimir Putins die Ukraine
überfallen und mit einem blutigen Krieg überzogen. In Deutschland lebende Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker bringen ihren Protest gegen diesen und andere teilweise in Vergessenheit geratene Kriege der Gegenwart zum Ausdruck. Kein ukrainisches Kind soll mehr seine Eltern verlieren, keine russische Mutter ihren Sohn beweinen müssen, niemand auf diesem Planeten soll mehr in die Flucht getrieben werden, weil ein Krieg sein Leben bedroht.

Unter der Schirmherrschaft des Senators für Kultur und Europa in Berlin, Klaus Lederer, und mit Unterstützung des rbb und Bujazzo/Deutscher Musikrat rufen die Deutsche Jazzunion, Jazz thing, Tangible Music und jazzed am Donnerstag, dem 7. April 2022 im Großen Saal der Universität der Künste in der Hardenbergstraße 33 zu einem großen gemeinsamen Konzert auf, das vom Jazz Institut Berlin veranstaltet wird. Das Konzert beginnt 18:00, Einlass ist ab 17:30, geplantes Ende ist gegen 24:00. Der Eintritt ist frei, um eine Mindestspende von 15 € wird gebeten. Da der Besuch des
Konzerts nicht an Tickets gebunden ist, kann er frei zu jedem Zeitpunkt zwischen 17:30 und 0:00 erfolgen. Gastronomie ist vorhanden.

Unter John Coltranes Motto „Peace On Earth!“ wollen wir uns als Jazz-Szene geschlossen über alle stilistischen Unterschiede hinweg Gehör verschaffen. Alle Einnahmen aus der Veranstaltung werden zu 100 % an Ärzte ohne Grenzen e.V. weitergeleitet, die in der Ukraine aktiv sind.

Empfänger: Ärzte ohne Grenzen
Verwendungszweck: peace on earth
IBAN: DE72 3702 0500 0009 7097 00
BIC: BFSWDE33XXX
Bank für Sozialwirtschaft

rbbkultur wird das Konzert live und in den folgenden Tagen hier streamen:
www.rbbkultur.de
Weitere Infos: https://www.rbb-online.de/rbbkultur/themen/musik/beitraege/2022/jazz-benefiz-konzert.html

Die UdK wird das Konzert auf dem Youtube-Kanal der Fakultät Musik über den Link
https://www.youtube.com/channel/UCCQuVIsGVbq6IBx57Wc1F0A streamen.

jazzed wird den Stream auch in den folgenden Tagen im Netz anbieten, und Tangible Music wird im Anschluss ein digitales Album mit den Highlights des Abends produzieren.
Die Moderation des Abends übernehmen Ulf Drechsel und Wolf Kampmann.
Die Mitwirkenden von Peace On Earth! sind ein Who is Who der Jazz-Szene (von Aki Takase bis Thomas Quasthoff) in Deutschland, das in dieser Form noch nie gemeinsam auf einer Bühne gestanden hat. Viele Allstar-Besetzungen werden in dieser Form erstmals zusammen spielen, es gibt Reunions früherer Formationen und spezielle Aufführungen für diesen Anlass. Auch mehrere Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine haben ihre Teilnahme zugesagt.

Aretha 80

Aretha Franklin würde heute ihren 80. Geburtstag feiern.
Die Queen of Soul möchte ich heute mit jeweils einem raren Schmuckstück aus den acht (!) Jahrzehnten ihrer Karriere ehren.

1. „Never Grow Old“, live at New Bethel Baptist Church (1956)
Quelle: youtube

2. „Talk To Me, Talk, To Me“, Soul 69 Outtake (1969)
Quelle: youtube
3. „Springtime In New York“  (1974, unveröffentlicht bis 2019)
Quelle: youtube

4. „My Shining Hour“, Royal  Variety Performance (1980)
Quelle: youtube
5. „A Rose Is Still A Rose“, live on Letterman (1998)
Quelle: youtube
6. „Until You Come Back To Me“, featuring Stevie Wonder (live 2005)
Quelle: youtube

7. „How Do You Keep The Music Playing“ mit Tony Bennett (2011)
Quelle: youtube

8. „Never Gonny Break My Faith“ (released 2020, recorded 2006)
Quelle: youtube

 

Die Reise ins Ich


In diesen Zeiten des Schreckens und der Ohnmacht fällt es schwer, überhaupt noch über solche Orchideenthemen wie Popkultur zu sprechen. Aber dennoch: Wenn wir damit aufhören, rauben wir der Seele ihre Widerstandskraft.

Heute im Jahr 1968 erschien die Beatles-Single „Lady Madonna“ (man beachte die freiheitssolidarische Farbgebung des Covers, die ich nicht aufbereitet habe). Wer die Platte umdrehte, tauchte allerdings in eine ganz andere musikalische Welt ein. George Harrison gab – nach „Love You To“ auf Revolver und „Within You Without You“ auf Sgt. Pepper… – sein drittes Intermezzo mit einem Song, der von klassischer indischer Musik geprägt war. Es ist zudem der einzige Song der Fab Four, der hauptsächlich in Indien entstand. Harrison war im Januar 1968 nach Bombay gereist, um an seinem Soundtrack Wonderwall zu arbeiten, und um auf die Bandkollegen zu warten, damit sie im Februar gemeinsam zu ihrem Guru Maharishi in Rishikesh weiterreisen sollten.

Eine ganze indische Gruppe hatte sich zu den Aufnahmen am 12. Januar in den EMI-Studios zusammengefunden. Der Bambusflöten-Virtuose Hariprasad Chaurasia dürfte der international bekannteste Musiker unter ihnen sein, dazu gesellen sich die indische Oboe Shanai, die Langhalslaute Sarod, ein Harmonium und die Perkussionsinstrumente Tabla und Pakhawaj – ein Ensemblespiel, wie es auch in der südindischen, karnatischen Klassik durchaus üblich ist. Die anderen Beatles fügten später nur noch einen kleinen Schlusschor ein.
Harrisons „Inner Light“ geht damit weit über das übliche Indien-Kolorit im Raga-Rock der Spätsechziger hinaus.

Der Text allerdings stammt nicht aus hinduistischer Religion, sondern aus dem Tao Te King des taoistischen Philosophen Laotse. Der spanische Sanskrit-Professor Joan Mascaró hatte sie Harrison zur Vertonung nahegelegt. Als ich die Zeilen las, musste ich sofort an Fernando Pessoas Ausspruch aus dem „Buch der Unruhe“ denken: „Existieren ist Reisen genug.“

Ohne aus der Tür zu gehen, kennt man die Welt
Ohne aus dem Fenster zu schauen, sieht man den Sinn des Himmels.
Je weiter einer hinausgeht, desto geringer wird sein Wissen.

Harrison singt die nur leicht vom Tao Te King abgewandelten Zeilen mit einer seelenvollen Bedachtheit. Dieser viel zu wenig beachtete „Harrisong“ stimmt mich sehr friedlich, und er zählt für mich zu den erstaunlichsten Beatles-Momenten überhaupt. Mit einer wunderbaren Version ehrten Anoushka Shankar und der enge Freund Jeff Lynne den verstorbenen Harrison 2002.

The Beatles: „The Inner Light“
Quelle: youtube

Zwischen Rumba und Cumbia

Juanita Euka
Mabanzo
(Strut/Indigo)

Juanita Euka ist die Nichte des Rumbagitarren-Giganten Franco aus dem Kongo. Verwandtschaftliche Verhältnisse geklärt – aber was sagt das über ihre Musik auf Mabanzo aus? Herzlich wenig. Denn die heute in London lebende Dame ist nicht nur halb Kongolesin, sondern auch halb Argentinierin, und sie schert sich in ihren Songs ohnehin nicht um Gene und Geographie. Deshalb schafft sie auf diesem Album einen spannenden Brückenschlag vom Salsa über Soul bis zur Rumba Congolaise. Im Opener „Alma Seca“ sind Anklänge an die Polyrhythmik des Afrobeats mit zirpender kubanischer Tres-Gitarre und wimmernden Synthesizern verknüpft. „Mboka Moko“ verbandelt Salsa-Bläser mit cooler Neo Soul-Melodik. Cumbia-Rhythmik und eine swingende Blechblas-Bigband gibt es in „For All It’s Worth“, „Na Lingi Mobali Te“ dagegen pumpt einen Rumba-Groove raus, inklusive der in höchsten Lagen jubilierenden Klick-Gitarren, über die sich Onkel Franco gefreut hätte.

Ein spaßiger Zwitter aus Cumbia- und Zouk-Romantik bietet sich in „Motema“ an, komplexe Trommel-Patterns dominieren „Baño De Oro“, und eine nochmalige Latin-Neo-Soul-Fusion gelingt in „Blood“. Doch der stilistische „Instrumentenkasten“ ist noch nicht ausgeschöpft: Samba-Unterfütterung mit Stevie Wonder-Flair hält „War Is Over“ parat. Und plötzlich überrascht ein Song wie „Sueños De Liberdad“ mit großem Anden-Herz und Streichquartett. Hier ist Heterogenität eine Tugend. Dass all diese Fülle – wie im Booklet zu lesen – tatsächlich in Lockdown-Heimstudios fabriziert worden ist, mag man es kaum glauben. Wenige Scheiben in diesem Frühjahr beherbergen so viel Abwechslungsreichtum!

© Stefan Franzen

Juanita Euka: „Alma Seca“
Quelle: youtube

Weltbürgerin aus Basel


Seit etlichen Jahren bereichern experimentierfreudige Frauen mit globaler Perspektive die Jazzszene der Schweiz, von Erika Stucky über Lisette Spinnler bis Elina Duni. In der Sendung JazzFacts im Deutschlandfunk stelle ich die auf diesem Blog schon bekannte Yumi Ito aus Basel vor, die in ihren frühen Dreißigern bereits ein immenses Spektrum an Talenten ausspielt. Sie bereichert den Jazz um Nuancen aus der Klassik, aus dem Pop und aus dem Songwriting.

„Weltbürgerin aus Basel“ – ein Interview-Porträt der Sängerin, Pianistin, Komponistin, Arrangeurin und Orchesterleiterin Yumi Ito, am Donnerstag, den 10.3. ab 21h05, und danach auch im Podcast:

JazzFacts (deutschlandfunk.de)

Yumi Ito Trio: „Running“ (unplugged)
Quelle: youtube

Makebas eigensinnige Erbin

Heute würde Miriam Makeba 90 Jahre alt. Als Afrikanerin in New York hat Somi Kakoma seit fünfzehn Jahren atemberaubende und komplexe Visionen von Black Music entwickelt. Mit „Zenzile – the reimagination of Miriam Makeba“, ihrem Tribut an die große Südafrikanerin, setzt Somi ihren Dialog zwischen den Kontinenten fort. Und sie arbeitet zugleich ihre eigene Geschichte auf – mit Gästen von Gregory Porter bis Angélique Kidjo.

SRF 2 Kultur sendet meinen Beitrag in der Sendung Jazz World aktuell am Dienstag, den 8.3. ab 20h, zu hören im Live-Stream, in der Wiederholung am 11.3. ab 21h oder in der Schweiz auch im Podcast nach der Sendung.

Somi & Gregory Porter: „Love Tastes Like Strawberries“
Quelle: youtube

Tastenleuchten statt Melancholie

Júlio Resende
Fado Jazz
(ACT/edel)

Fado, der Nationalgesang der Portugiesen als jazzige Instrumentalform? Gesungener Weltschmerz ohne Stimme? Klingt absurd. Ist es aber überhaupt nicht, hört man dem Pianisten Júlio Resende zu. Fado Jazz braucht nur wenige Takte des elegant im Fünfertakts dahertänzelnden Openers „Vira Mais Cinco“, und man ist Resendes Lesart des Genres verfallen. Die klassische Pianotrio-Besetzung (Resende mit André Rosinha und Alexandre Frazão) ist aufgestockt durch die guitarra portuguesa, auf der Bruno Chaveiro aber erstaunlicherweise nicht mit dem Zaunpfahl winkt: Sie tüncht kein eindimensionales Fado-Kolorit, sondern improvisiert in bluesigen Dialogen mit dem Klavier („Lira“) oder liefert den federnden Groove im ausgelassenen „Fado Das Sete Cotovias“.

Ganz selten, wie etwa in „Este Piano Não Te Esquece“, lehnt sich Resende in die erdschwere Wehmut des Fado hinein. Und im ruhigen Pulsschlag von „All The Things…“ dominiert hymnisches Tastenleuchten zu den Besenstrichen des Schlagzeugs über die Melancholie. Resende neigt vielmehr oft der Dur-Seite des Repertoires zu. Durch quirligen Anschlag und verschmitzte Wendungen wie im „Fado Blues“ verleiht er der Saudade fast eine muntere Leichtigkeit, die auch mal nahezu brasilianisch anmuten kann. Dass im Finale dann in Gestalt der angesagten jungen Fadista Lina doch noch eine Vokalistin auftaucht, wäre da gar nicht mehr nötig gewesen.

© Stefan Franzen

Júlio Resende: „Vira Mais Cinco“
Quelle: youtube

Der Klang von Katzenhaut

Mitsune
Hazama
(Eigenverlag, mitsune.de)

Musik aus Japan hat es irgendwie nie so richtig in die Global Pop-Szene geschafft. Umso erfreulicher, dass nun ein Quintett – mit Frauentrio im Kern – aus Berlin fernöstliche Traditionen mit einer völlig unerwarteten zeitgenössischen Perspektive kombiniert. Ihre Herkunft ist multinational (Japan, Australien, Griechenland, Deutschland), sie haben seit ihrer Gründung 2018 bereits Europa und Japan in Furore versetzt und stehen nun mit ihrer zweiten Scheibe Hazama in den Startblöcken. Im Fokus steht die dreisaitige mit Schlangen-, Katzen- oder Hundehaut bespannte Shamisen, eine Kastenspießlaute, die eine Weiterentwicklung der chinesischen Sanxian ist und vor mehr als 400 Jahren nach Japan kam. Historisch war die Shamisen vor allem in verschiedenen Formen des Erzähl- und Puppentheaters gefragt und gilt auch als das Instrument der Geishas.

Von diesem Kontext wird es von Shomi Kawaguchi, Tina Kopp und Youka Snell gelöst: Geradezu muskelbepackt, zeitweise ein wenig „punkig“ sind die Arrangements, in denen die kernigen Zupf-Riffs vorwärtstreiben. Darüber legen die drei einen manchmal kraftgeladen exklamierenden, mal augenzwinkernd mit süßlichen Jazzharmonien spielenden Chor. Gebackt werden die Frauen von einer kleinen Rhythmusgruppe aus Bass und Schlagzeug, der sich auch mal zum geräuschhaften, perkussiven „Erlebnispark“ auswachsen kann. Mal groovt es richtig („Kaigara Bushi“), mal wird martialisch galoppiert („Maru“), zart wird es im Intro der Adaption des Kirschblütenliedes „Sakura“. Gelegentlich treten Gastmusiker an Cello, Flöte, Qanun oder Bassgitarre hinzu. Und plötzlich schlüpft die japanische Laute auch mal mit einem Banjo unters Bluegrass-Mäntelchen oder tanzt einen Tango. Die Entdeckung des Winters überhaupt!

© Stefan Franzen

Mitsune: „Maru“
Quelle: youtube

Die Stimme der 1000 Filme


Wer in seinem Leben auch nur flüchtig die Bollywood-Kultur gestreift hat, wird sicherlich ihre Stimme gehört haben: Zusammen mit ihrer Schwester Asha Bhosle war Lata Mangeshkar viele Jahrzehnte die dominierende Vokalistin in Indiens Filmindustrie, wirkte in den Soundtracks von über 1000 Filmen mit und lieh jeder bekannten Schauspielerin ihre Gesangsstimme. Am 6. Februar ist sie im Alter von 92 Jahren im Mumbai gestorben.

Ausgestattet mit einem klassischen Training begann Mangehskar bereits in den ersten Jahren von Indiens Unabhängigkeit, ihr erster Hit stammte 1949 aus dem Film „Mahal“. Zu den Highlights aus ihrem immensen Katalog zählen Soundtracks für Filme, die teils auch über Indiens Grenzen hinweg ein Begriff sind: „Barsaat“ (1949), „Mother India“ (1957), „Pakeezah“ (1972) oder „Veer-Zaara“ (2004). Besonders beliebt wurden ihre romantischen Duette mit dem Sänger Muhammad Rafi.

Durch ihre hohe, strahlende Stimmlage war Lata Mangeshkar auch bis ins Alter fähig, junge Akteurinnen glaubhaft zu synchronisieren. Bis heute versuchen Bollywood-Sängerinnen, Lata Mangeshkars Stil zu imitieren. Der heute führende Filmkomponist AR Rahman, der oft mit ihr zusammenarbeitete, sagte in einem Nachruf: „Lata ist nicht nur eine Sängerin und eine Ikone. Ich denke, ein Teil ihrer Seele ist Indien.
Diese Leere zu füllen, wird sehr schwierig sein für uns.“

Lata Mangeshkar & Mohammad Rafi: „Pyaar De Bhulekhe“
Quelle: youtube