Es gibt wenige Sängerinnen, die entlang ihrer Lieder und ihrer Interviews eine ganze Welt entwerfen – zwischen Lyrik, Literatur, Geschichte, Politik und Biographie. Die Sizilianerin Etta Scollo gehört zu diesen Sängerinnen, und wer das Glück hat, mit ihr zu sprechen, vergisst die Zeit. Auf ihrem neuen Album Il Passo Interiore bschwört sie einmal mehr die für sie zutiefst menschliche Kraft der Poesie. Sie ist die einzige Hoffnung, die wir haben, sagt sie.
Signora Scollo, wer zum ersten Mal mit Ihrer Musik in Kontakt kommt, der wird – bevor er sich um die Texte kümmert – zuerst von Ihrer unvergleichlichen Stimme berührt. Wie würden Sie sie selbst beschreiben?
Scollo: Für mich war meine Stimme immer etwas, was mehr mit der Erde zu tun hat als mit der Freiheit oder der Luft. Vielleicht, weil ich als Kind schon große Schwierigkeiten hatte mit ihr. Ich bin in einer Wolke von Nikotin aufgewachsen, mein Vater war Kettenraucher, schon als ich ganz klein war, bekam meine Stimme dadurch einen Belag. Wenn ich etwas sagen wollte, was mir am Herzen lag, war da so etwas wie ein Gewicht auf den Stimmbändern. Ich singe nicht, weil ich dachte, ich habe großes Talent, im Gegenteil. Ich habe nur instinktiv gesungen. Singen ist für mich Arbeit, ich muss immer wieder sehr viel üben. Als ich die Biographie von Frida Kahlo gelesen habe, habe ich sie verstanden, wie sie aus diesem Krüppel-Sein Kunst geschaffen hat. Meine Art, Lieder zu singen, kommt aus diesem fast schmerzhaften Zustand. Ich muss jeden Tag üben wie ein Sportler, der seine Muskeln weich kriegen will.
Aber Sie haben, wie mir scheint, eine sehr passende musikalische Umgebung für Ihre Stimme gefunden, mit Cello, Akkordeon, Mandola, Piano, ein bisschen Klarinette, Perkussion und einem Gesangstrio. Mich erinnert das fast an den Klang von Renaissance und Barock.
Scollo: Die Renaissance- und Barockmusik hat mich mein Leben lang begleitet, und sie fließt in Italien auch oft ein in die populäre Musik. Ich fühle eine gewisse Freiheit in diesen Klängen und Harmonien, mag auch sehr die Idee des „recitare cantando“ aus den Opern: eine singende Erzählung, in der alles miteinander verbunden ist. Es ist wie ein schönes, freies Spiel, und das hat auch wiederum eine Verbindung zur modernen Jazzimprovisation.
Dieses singende Erzählen, die Nähe von Musik und Wort, Lyrik und Literatur ist ja ganz zentral auf Ihren Alben. Auf Ihrer neuen CD verknüpfen Sie mystische Dichtung, eine politische Rede, Interviews von Bergarbeitern. Was ist der rote Faden auf Il Passo Interiore?
Scollo: Es ist die Reise als innerer Monolog, das Imaginieren, das individuelle Fühlen der Realität. Und das ist ja eigentlich die wichtigste Reise eines Menschen. Dann gibt es viele andere Reisen dazu, die Reise des Erzählens, des Kommunizierens von innen nach außen, und die ganz realen Reisen, die sich sehr unterschiedlich ausprägen. Es ist die Reise der Flüchtlinge heute, die nach Lampedusa kommen. Es ist die Reise der Menschen in den Tod, den Holocaust. Deshalb musste ich das auch in viele Sprachfacetten fassen, in verschiedene Epochen. Man nimmt die Realität ja oft mit abrupten Wechseln wahr, von einem tiefen emotionalen Zustand hin zu etwas ganz Alltäglichem. Ich habe das Gefühl, ich muss diese Realität immer wieder in einem einzigen Bild sammeln. Und ich fühle mich mit meiner Stimme als Werkzeug für all diese Geschichten.
Sie beginnen und schließen das Album mit Poesie von Miguel Angel Cuevas, einem zeitgenössischen spanischen Dichter. Welche Bedeutung haben diese beiden Gedichte für Sie?
Etta Scollo: „T’alzasti“
Quelle: youtube
Scollo: Cuevas hat sowohl in meiner Heimatstadt Catania unterrichtet als auch italienische Literatur in Sevilla, er kann perfekt Italienisch. Deshalb singe ich „T‘alzaste“ auch auf Italienisch. Das Gedicht ist inspiriert von Worten des Mystikers Johannes vom Kreuz. Der Mensch fängt wieder an zu atmen, indem er sich Schicht um Schicht befreit von einer Kruste, einer Last. Diese Aufwärtsbewegung, in der meine Hörer sich sammeln können, steht am Anfang, und am Schluss kehrt mit Cuevas‘ Gedicht „La Voz“ wieder alles zum Staub, zu den Steinen, ins Körperliche zurück. Das hat nichts Dramatisches oder Trauriges für mich, eher etwas Instinktives. Für die Sizilianer ist der Tod etwas sehr Greifbares. In manchen Orten kaufen sich die Menschen schon ihren Sarg und stellen ihn unters Bett: „Da werde ich drin liegen, ich liebe Mahagoni oder Fichte“, sagen sie dann. So hat meine Tante mir an Allerheiligen auch ihr zukünftiges Grab gezeigt. Diese zärtliche, liebevolle Beziehung zum Tod! Man weiß, der Zyklus wird vollendet, man geht wieder zurück. Es hat sogar etwas Ironisches, Schmunzelndes.
Zwischen diesen beiden Gedichten ereignet sich dann quasi das Leben auf Ihrem Album. Ganz zentral ist eine bewegende Trilogie von Liedern über sizilianische Bergarbeiter im Exil.
Scollo: Durch meine Herkunft habe ich eine Verbindung zum Bergbau, denn es gibt ihn auch in der Region Caltanissetta, in der ich aufgewachsen bin. Doch hier geht es um Bergleute, die nach dem zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen haben, um woanders für ihre Familien sorgen zu können. Emigration ist nicht nur eine geographische Bewegung, sondern immer auch eine innere Distanz zu dir selbst, du verlässt dich und deine Geschichte. Dieses Thema hat mich sehr beschäftigt. Die Texte sind aus dem Buch „La Catastròfa“, in dem Paulo di Stefano Interviews gesammelt hat mit diesen sehr einfachen Menschen, die bei einem Grubenunglück jemanden verloren haben. Sie haben ihre Erfahrungen individualisiert und verinnerlicht, diese Erfahrung, unter bestialischen Umständen zu leben und zu schlafen, in Baracken, wo früher die deutschen Kriegsgefangenen gelebt hatten. Und zugleich erzählen sie von der Liebe und vom Schönen im Leben. Diese kleinen Gesten der Liebe haben ihr Leben erfüllt und die Grubenkatastrophe überstrahlt. Da ist dieser Arbeiter, der am Sonntag nicht saufen geht oder in die Kirche, sondern er geht in die Grube, allein, um seine Angst durch Gesang zu überwältigen. Es sind Ausnahmezustände, in denen die Menschen eine fast mystische Erfahrung haben.
Wie verknüpft sich diese Geschichte der einfachen Leute mit der des sehr intellektuellen ungarischen Komponisten Györgi Ligeti, dem sie auf dem Album auch Ihre Stimme geben?
Scollo: Ligeti hatte seine Streichquartette in einem ähnlichen Ausnahmezustand der Angst geschrieben. Er hatte sich in ein Zimmer gesperrt, immer in der Furcht, dass seine Arbeiten zensiert werden. Diese Notzustände sehe ich alle als eine Erfahrung der Spiritualität, der Mensch ist darin wirklich etwas Besonderes. In Ungarn sind die Menschen damals in die innere Migration gegangen, haben sich heimlich versammelt, das gesammelt, was ihnen kostbar war. Das war ihr Schrei nach Freiheit.
Haben Sie dabei auch an das aktuelle Klima in Ungarn gedacht?
Scollo: Nicht bewusst. Aber es ist klar: Was gerade in Ungarn passiert, ist ein großer Schritt zurück, wie auf der ganzen Welt. Es macht mir Sorge, wie extrem die Sprache gerade manipuliert wird. Deshalb wollte ich auch den politischen Appell singen, eine Rede der Bürgermeisterin von Lampedusa aus dem Jahre 2012 in einer sehr direkten, schmucklosen Sprache. Seitdem, in diesen wenigen Jahren, sind wir gegenüber der Flüchtlingsproblematik fast zynisch geworden. Und so hat diese Rede von 2012 heute schon fast den Gestus einer Poesie und dadurch den von Humanität. Diese Humanität ist für mich universell, hat keine Zeit, keinen Raum. Ich habe Angst, dass uns dieses Gefühl abhandenkommt, dass der intellektuelle Mensch in seiner Impulsivität rasant unter die Gürtellinie fällt, auf das Level des Tieres. Heutzutage benutzen wir die Sprache oft, um Dinge umzudrehen. Ein Berlusconi sagt “Ich bin der Arme“, um eine Opferrolle vorzutäuschen. Ich habe das Bedürfnis, die Sprache und das Wort wieder zu ihren Ursprüngen zurückzuführen, zu einer poetischen Funktion. In dem Moment, wo das Wort zurückkehrt aus der Schrift in eine genuine Emotionalität, wie sie auch die Musik hat, nicht in eine impulsive, gewalttätige, dann kann sie zurückkehren zu etwas Anderem. Das ist für mich die einzige Hoffnung, dass die Menschen so wieder zu sich selbst finden und human werden.
Das bewegendste Lied auf dem Album ist vielleicht „Shemà Adonay“: Es ist eine Anklage an Gott, dass er in den Konzentrationslagern nicht anwesend war, und Sie lassen hier einen Auschwitz-Überlebenden, Shlomo Venezia, sprechen. Haben Sie ihn persönlich gekannt?
Scollo: Das ist eine Originaldichtung des Sizilianers Sebastiano Burgaretta, der Shlomo Venezia ein paar Jahre vor dessen Tod getroffen hat. Es gibt zwei Gründe, warum ich dieses Gedicht vertonen wollte: Zum einen trug es schon dieses musikalische Lamento in sich in den Wiederholungen der Verse. Der andere Grund ist die schlimme politische Entwicklung in Italien. Die Cinque Stelle zum Beispiel, die vor zehn Jahren noch kritisch und fast linksorientiert schien, ist jetzt das genaue Gegenteil. Es strömt alles in diesen rassistischen Umtrieben zusammen. In Italien gehen die Nazis zu den Flüchtlingslagern und zünden sie an, bringen Leute um. Es hat eine ganz schlimme Dimension angenommen. Es ist wahr, die Tendenz gibt es überall. Aber in Deutschland gibt es das schlechte Gewissen aus der historischen Verantwortung. Niemand weiß wie die Deutschen, was es heißt, an dieser Geschichte zu tragen. Ich erzähle Shlomo Venezias Geschichte, weil sie uns alle angeht, auch die Italiener, die immer denken, sie waren nie Nazis, aber der Faschismus ist ja genau das. Und da kehren wir zurück zum Thema Sprache: Was bedeutet es, wenn sich kommunistische Strukturen mit faschistischer Struktur und mit rassistischer Gewalt sammeln? Wie kann man diese Sachen dann noch unterscheiden? Indem wir zu diesem humanistischen Ursprung des Wortes zurückgehen. Das versuche ich. Man muss es zumindest versuchen.
dieses Interview erschien am 28.4.2018 in der Badischen Zeitung
© Stefan Franzen
aktuelle CD: „Il Passo Interiore“ (Jazzhaus Records/in-akustik, VÖ: 4.5.)