Zimtig und harzig, wie ein sehr süßer, sehr edler Pfefferkuchen. Die Probe auf dem Duftstreifen lässt die Nase erst einmal zurückweichen. Das ist schon fast zuviel des Guten. Doch mit der Zeit gewöhne ich mich an die weihnachtlich anmutende Mixtur. Ein heiteres, fast erhabenes Gefühl macht sich breit. Ich versuche mir auszumalen, was das wohl für Menschen waren, die sich diese Komposition auf die Haut gestrichen haben. Das sprengt fast die Vorstellungskraft – denn dieser Duft ist fast 2000 Jahre alt.
„Parfums sind Symphonien und Parfumeure Komponisten“, befand Jean Cocteau, „in der Kunst ist die Parfumerie die duftende Nachbarin der wohlklingenden Musik.“ Warum, so wird man dann fragen dürfen, gibt es so wenig „Konzertsäle“ für die Nase? Sicher, man kann durch die einschlägigen Abteilungen der Kaufhäuser wandeln, sich Werbepröbchen von spezialisierten Versandhäusern schicken lassen. Dabei fehlt allerdings die historische Dimension, unerlässlicher Bestandteil in der Dramaturgie eines gelungenen Konzertabends. Sprich: Wenn wir nur an den aktuell zum Verkauf stehenden Düften schnuppern, dann ist das, als hörten wir nur zeitgenössische Werke. Und wer will das schon? Doch tatsächlich gibt es nur einen Ort auf der Welt, an dem der Nase aromatische Zeitreisen gewährt werden. Wo gewissermaßen der Mantel der Geschichte duftet.
Um diesen Ort zu besuchen, fährt man von der Parfumhauptstadt Paris aus ein Stück nach Westen. In Versailles, wo einst Könige residierten und Verträge unterzeichnet wurden, liegt mein Ziel an diesem trüben, herbstlichen Juninachmittag. Von Louis XV ist überliefert, dass er sich und seinen Hofstaat reichlich beduftete. Sein Schloss allerdings umgehe ich heute weiträumig. Im Zentrum der dem Château vorgelagerten Stadt riecht es gerade gar nicht fein: Ein unverkennbarer Fäkalienhauch mischt sich mit dem, was vom samstäglichen Markt so übrig geblieben ist. Ich steuere ein Restaurant an und bestelle das filet de julienne auf purée de pommes de terre. Schnell entpuppt sich das Tagesmenü als nahezu geschmacksfrei. Auch gut. Schließlich sollen sich für das, was mir vorbesteht, möglichst keine ablenkenden Altlasten im Riechkolben halten. Von der neutralen Cuisine gesättigt schlendere ich weiter durch die Straßen. Versteckt in einer Allee mit Spitzgiebelhäusern, hinter Rosenhecken kommt ein funktionaler Bau zum Vorschein, an dem die Plakette „Osmothèque“ prangt. Mit mir strömen etwa 40 Riechwillige zum Gebäude: eine Gruppe älterer, distinguierter Franzosen samt Dame im Pelzmantel, junge amerikanische Touristen, ein paar Gäste aus Fernost mit Kleinkind. Zwischen Vitrinen mintgrüner und fliederfarbener Flakons begrüßt Patricia de Nicolaï die Besucher. Sie stammt aus der berühmten Parfumeursfamilie Guerlain, und ich ertappe mich dabei, auf ihre Nase zu schauen. Keinerlei Auffälligkeiten. Aber sie verströmt einen dezenten Rosenduft. „Wir sind ein Conservatoire der Emotionen“, sagt die Präsidentin der Einrichtung mit leidenschaftlichem Überschwang. „Jedes Parfum der Vergangenheit ist ja mit einer Persönlichkeit, einer Epoche, einer Geschichte verbunden – und das ist der Zauber dabei.“
1990 hatte der Parfum-Kreateur Jean Kerléo die Idee, ein Archiv ins Leben zu rufen: Düfte, die nicht mehr auf dem Markt sind, sollten nicht einfach dem Vergessen überantwortet werden. Mit 200 Flakons starteten die Mitarbeiter, die sich Osmothekare nennen, heute befinden sich in ihrer Sammlung 3600 Fläschchen. In ihnen werden alte Parfums konserviert, die anhand überlieferter Rezepte „nachgebaut“ wurden. Ein Keller schützt sie vor den drei Feinden der Vergänglichkeit: dem Tageslicht (anhand opaker Flaschen), der Wärme (Raumtemperatur: 12 Grad) und dem Sauerstoff (das schwere Gas Argon über der Flüssigkeit hält ihn ab). Schade, in diese heiligen Grüfte dürfen wir nicht. Stattdessen geleitet Madame uns in einen nüchternen Klassenraum. Vier Studenten der École des Parfumeurs haben dort schon ihren Zauberkasten mit einer ganzen Batterie kleiner Ampullen vorbereitet. Unsere Zeitreise beginnt.
„Per fumum“, durch den zum Himmel und seinen Bewohnern aufsteigenden Rauch haben unsere Vorfahren entdeckt, dass die Zweige und Blätter, die sie verbrannten, Gerüche ausströmten. „Der Ursprung des Parfums ist in der spirituellen Sphäre angesiedelt“, sagt de Nicolaï und lässt ein Glas mit den harzigen Tränen des Weihrauchbaumes herumgehen, der schon in der Bibel erwähnt wird. Wir erfahren, dass sich die alten Ägypter Kegel mit Myrrhesalbe auf den Kopf setzten, die ihre Düfte bei der Hitze gleichmäßig in die Haare abgaben. In den Aufzeichnungen des Gelehrten Plinius des Älteren findet sich ein Rezept für das Parfum der Partherkönige, die von Persien und Mesopotamien aus den Römern schwer zu schaffen machten. Die Gehilfen zücken kleine Pappstreifen, die sie mit genau dieser Tinktur tränken und uns als Entrée kredenzen. „Welche von den 27 Bestandteilen erkennen Sie denn?“, fragt Frau Osmothekarin. Jeder meiner Mitschnüffler hat da seine eigene Methode: Bei manchen sieht es aus, als würde ein putziges Tier mit seinen Nüstern wittern, bei anderen, als zögen sie eine Linie Koks. „Eukalyptus! „Zimt!“„Ingwer!“, kommt es von den Schulbänken. „Sandelholz?“ Nein, der indische Sandelbaum war in der mediterranen Antike noch nicht bekannt. „Gewürznelken!“ Ja, die sind unverkennbar drin in diesem Aroma, das in der duftverschwenderischen Antike als appetitanregend galt. Leider hat Plinius nicht die Prozentanteile überliefert, das Parfum aus Parthien ist daher eine Interpretation der Duftarchivare, die es nach ihrem Gusto imitiert haben.
Während man in der Antike Ganzkörperbeduftung, sogar die Parfümierung von Häusern vollzog, war das abendländische Mittelalter kein ausgewiesener Hort raffinierter Aromen. Wohlgerüche im privaten Bereiche tadelte das Christentum, erst die Kreuzritter brachten die Duftkultur aus dem Islam zurück. „Die hat sich bis heute gehalten“, verrät Patricia de Nicolaï. „Wenn arabische Kunden in einen Laden kommen, nehmen sie zehn und nicht einen Flakon mit. Diese Einstellung mag ich“, schmunzelt die Dame, die ihre eigene Parfummarke vertreibt. Und sich damit von den Guerlains emanzipiert hat, die es gar nicht gerne sahen, dass eine Frau arbeitete. Glatte 1300 Jahre schreiten wir mit dem nächsten Duft voran. Sehr dezent und frisch. Lavendel? Nein, es ist das Destillat des blühenden Rosmarins, den eine betagte ungarische Königin in Mode brachte – nicht nur weil es gut roch, es wirkte auch wundheilend und befreiend für die Atemwege.
Im Eilschritt geht es weiter durch die Jahrhunderte, von der Königin zum Kaiser, und damit zu einer der Sensationen der Osmothèque. Was uns de Nicolaïs Studenten als nächstes reichen, ist nicht irgendeines aus der reichen Familie der Eaux de Colognes, dessen Urrezept Johann Maria Farina in Florenz Anfang des 18. Jahrhunderts aus Sauerfruchtessenzen kreierte und schließlich von Köln aus zum Siegeszug führte. Diese Variante erinnert nur entfernt an Omas beliebtes Erfrischungswässerchen, denn sie stammt ja auch vom größten Liebhaber des Kölnisch Wasser überhaupt: Napoleon trug stets mehrere Fläschchen davon in seinem Beinkleid, vor wichtigen Entscheidungen träufelte er sich einen Tropfen auf ein Stück Zucker. In der Verbannung auf Sainte Hélène ging ihm aber der Vorrat aus, und er beauftragte seinen Diener Ali, aus den Zutaten der Insel ein eigenes Eau zu mischen. Das Rezept, erzählt de Nicolaï stolz, hat der ehemalige Bürgermeister von Versailles, ein Napoleon-Narr erstanden und dem Archiv geschenkt. Es ist besonders reich an tropischen Agrumen, beim Schnuppern fühlt man sich gleich in einen üppigen Zitronenhain versetzt.Aber daran lutschen wie der alte Herrscher? Eher nicht.
Bereits während des Ancien Régimes entstanden die ersten Parfummarken wie Lubin oder Houbigant, dem Hoflieferanten von Marie Antionette, und die Düfte blieben noch ein Privileg der Eliten. Im südfranzösischen Grasse, wo bis heute viele Ausgangsmaterialien für die Duftessenzen angebaut und extrahiert werden, etablierte sich eine Industrie, und die Eaux de Cologne erfreuten sich noch lange enormer Beliebtheit. Das „Eau de Lubin“ etwa, verfeinert mit Benzoe und Tolu-Balsam, verströmt sich wie ein starker Badezusatz, in dem ich viel zu viele Veilchen wahrnehme. Guy de Maupassant mochte es, aber mir wird es zum ersten Mal an diesem Nachmittag ziemlich übel. Die Erlösung für meine Nase naht erst im ausgehenden 19. Jahrhundert in Gestalt des berühmten „Fougère Royale“: Moosig und würzig, wie ein feines Rasierwasser weht es mir entgegen, was Paul Parquet 1884 für Houbigant als einen Archetyp der Fougère-Familie kreierte. Auf dieser Basis aus Eichenmoos, Kumarin und Lavendel sind bis heute viele Männerparfums aufgebaut. „Damit hat die Stinkerei angefangen“, pflegt eine Freundin von mir zu sagen, erklärte Gegnerin der getrenntgeschlechtlichen Beduftung.
Um 1900 drosselt unsere Zeitmaschine durch die Duftwelten merklich das Tempo. Es geht Schlag auf Schlag mit neuen Eindrücken für die Riechzellen. Die Chemie kann nun analysieren, welche Moleküle welche Gerüche verursachen und baut sie nach. Das Vanillin etwa ersetzt die natürliche Vanille in Guerlains „Jicky“, und es geht in einer Komposition mit Bergamotte und Zibet, einem Sekret aus den Drüsen der gleichnamigen Wildkatze auf. Die Weltausstellung bringt „Le Parfum Idéal“ hervor und eröffnet den Reigen der floralen Noten: Es hat etwas von einer crémigen Speise, in der sich Jasmin, Rose und synthetische Noten wie das Geraniol verstecken. Man spürt förmlich, wie Insekten angelockt werden. Mir ist es zu süß. Die Frau im Pelzmantel vor mir bekommt einen Hustenanfall.
All diese Kreationen sind aber nichts gegen die des Stars des frühen 20. Jahrhunderts, den Korsen François Coty: Er tritt 1904 mit seinem ersten Parfum „La Rose Jacqueminot“ auf den Plan. „Beim Händler in den Grand Magasins du Louvre konnte er damit nicht landen und zerbrach vor Wut einen der Flakons“, erzählt de Nicolaï. „Und als sich der Duft im ganzen Gebäude verbreitete, stürzten sich die Damen wie wild auf den Stand, um herauszufinden, was das ist.“ Die Antwort liegt in der Essenz der Damaszener Rose, die in einer Vorstufe gerade durch die Bänke wandert: als sogenanntes Concrète, das bei der Enfleurage entsteht, wenn also die Düfte der Blütenblätter durch Fette absorbiert werden. Es ist lediglich eine popelfarbene, ranzig müffelnde Pomade. Nach der Erhitzung und Filtrierung jedoch und der Verdünnung im Alkohol als Träger trifft es die Nase wie eine Wagenladung voller Lieblichkeit. Mit Parfums wie diesem und dem orientalisch schweren „Ambre Antique“ wurde Coty schnell zum Millionär, noch bevor er 1917 das „Chypre“ kreiert, Urahne der wohl raffiniertesten olfaktorischen Parfumfamilie. Paradox: Obwohl es von Frauen bevorzugt wird, weist es neben Bergamotte, Patchouli und Jasmin eine starke ledrig-rauchige Note mit Labdanumharz auf.
Mir ist mittlerweile etwas blümerant, während Madame de Nicolaï von der Verquickung der Couture mit der Duftindustrie berichtet. Exklusive Marken wie Paul Poirets Serie „Les Parfums de Rosine“ bringt diese Partnerschaft hervor. Duftkunst in Vollendung, mit crèmefarbenen Eisbecherflakons, einer Art Pfauenrad als Stöpsel oder mit einem Harlekin-Muster versehen. Eine der Kreationen heißt „Le Fruit Défendu“: Ja, so könnte tatsächlich Patrick Süskinds junges Mädchen aus dem Roman „Das Parfüm“ gerochen haben, deren idealem Körpergeruch der Protagonist Jean-Baptiste Grenouille ja bekanntlich bis zum bitteren Ende nachjagte. Es ist, als versänke man in einem Lustgarten voller Pfirsiche, deren Duft allerdings künstlich ist und sich dem Aldehyd C14 verdankt. Ist ein Aroma nicht mehr als die Summe seiner Moleküle?, frage ich mich. Kann durch die Synthese die Seele eines Duftes eingefangen werden? Eine Frau namens Coco Chanel war so eifersüchtig auf Poirets Produkte, dass sie ihrem Duftschöpfer Ernest Beaux 1921 freie Hand ließ für die teuersten Zutaten, um etwas nicht zu Imitierendes zu schaffen. Benannt wurde das aus synthetisierten Blumendüften gemischte „N° 5“ nach dem fünften Probeflakon, das Beaux seiner Chefin vorstellte, und in den seine Assistent kurioserweise viel zu viel Aldehyde geschüttet hatte. Meine Nase hat unterdessen wohl völlig kapituliert: Der berühmteste Duft der Neuzeit kommt mir vor wie ein flüchtiger Eindruck in einer Gasthaustoilette.
Doch es wartet noch ein Highlight, und das ist völlig unspektakulär. Nach all den schweren, vanilleschwangeren und blumig-fruchtigen Kompositionen wirkt Balmains „Vent Vert“ von 1945 wie eine Verjüngungskur auf mein olfaktorisches System: Grasige Noten bestimmen den Zusammenklang, in dem die iranische Galbanum-Wurzel mitschwingt. Die leichte, frische Fleuri Vert-Familie ist geboren. Frohgemut – und wie sich zeigen wird zu meinem Verhängnis – nehme ich auch eine intensiven Atemzug vom zwei Jahre später von Vincent Roubert geschaffenen „Iris Gris“. Doch die destillierten Rhizome der Iriswurzel hinterlassen einen beißend scharfen Eindruck. „Habe ich gerade in meinem Garten angepflanzt“, nickt mir der freundliche ältere Sitznachbar zu. Der unteridische Part der Iris bleibt leider als Schlusseindruck in meinen Geruchskanälen hängen. Ist es nicht auch bei schlechter Musik, bei einem nervtötenden Ohrwurm so, dass er besonders lange in Erinnerung bleibt? Da kann auch der Schlussklang, Diors „Diorissimo“ mit seinen feinen Maiglöckchen-Nuancen von 1956 nichts mehr dagegen ausrichten. „Die Proben dürfen Sie mitnehmen“, sagt de Nicolaï. „Allerdings müssen Sie wissen, dass nur die Basisnote noch eine Weile erhalten bleibt, die Bestandteile der Kopfnote verfliegen sehr schnell und auch die Herznote ist nach ein paar Stunden weg. Sie sehen, mit einem Parfum ist es wie mit der Musik. Es bewegt sich in der Zeit fort.“ Jean Cocteau hatte also Recht mit der Nachbarin.
Nach zweieinhalb Stunden ist das Duftkonzert zu Ende. „Ich habe Kopfweh“, stöhnt eine Amerikanerin. Und ihre Freundin bekennt: „Meine Nase brennt.“ „Gehen wir was essen? „Ach, eigentlich habe ich gar keinen Hunger.“ Auch ich gehe leicht benebelt in die frische Luft von Versailles hinaus. Ich fühle mich ein bisschen, als hätte ich mich an einem allzu süßen Konfekt überfressen. Als hätten sich in den Symphonien für die Nase zuviele unaufgelöste Akkorde übereinander geschichtet. Wie wohltuend: Draußen riecht es nur nach Frühlingslaub und frischem Gras, gemischt mit altem Gemäuer. Wäre eigentlich auch ein schönes Parfum.
© Stefan Franzen
dieser Artikel ist im Magazin der Badischen Zeitung, Ausgabe 25.6.2016 erschienen
alle Fotos wurden freundlicherweise von der Osmothèque zur Verfügung gestellt