DJ Invizable (Foto: Promotion Norient)
Die multimediale Ausstellung „Seismographic Sounds“ des Berner Netzwerks Norient zeigt, wie sich Einbahnstraßen in der globalen Musik verflüchtigen – eine Reise in Clips um den Planeten, zu sehen noch bis zum 20.9. in Forum Schlossplatz im schweizerischen Aarau und ab 1.10. bis Ende des Jahres im ZKM Karlsruhe.
Die Mechanismen der „Weltmusik“ des 20. Jahrhunderts, sie sind Geschichte. Die brasilianische Band, der algerische Rai-Star oder die Sängerin aus Mali, die von Europäern entdeckt, deren Aufnahmen von Europäern produziert, und die schließlich auch von einer europäischen Agentur für Live-Shows gebucht werden: ein Modell, das ausgedient hat. Im Zeitalter digitaler Vernetzung sind die Nord-Süd-Polaritäten und die Erste-Dritte-Welt-Hierarchien des Musikgeschäfts überholt. Hiphopper aus Tansania, Straßenmusiker aus Kairo und Heavy Metal-Bands aus Indonesien produzieren und managen sich selbst, stellen ihre Sounds und Clips kostenlos ins Netz. Und natürlich operieren sie heute von zuhause, nicht von Europa aus. So kann diese neue Musikergeneration ihren Alltag unmittelbar und ungefiltert in Klängen und Clips abbilden.
Herkömmliche Formate des Musikjournalismus, sprich: die Zeitschriften der vermeintlichen Popleitkultur kapitulieren vor der Schnelllebigkeit und Fülle dieser Szene. Was online passiert, wird auch online reflektiert. Führend in der Begleitung der neuen globalen Musikphänomene ist das Berner Kollektiv Norient, das sich mit seinem Blog „unabhängiges Netzwerk für globale und lokale Sounds“ nennt. Hin und wieder brechen sie aber aus dem Internet aus, präsentieren ihre Arbeit auf einem Musikfilmfestival, in Klangcollagen. Oder wie jetzt in Aarau und demnächst in Karlsruhe anhand einer multimedialen Ausstellung namens „Seismographic Sounds“, die von einem Buch begleitet wird.
„Wir haben in der ganzen Welt Journalisten, Wissenschaflter und Musiker angeschrieben, damit sie uns ihre Lieblingsmusikvideos aus ihrem Land schicken“, erläutert Norient-Initiator Thomas Burkhalter den Ausgangspunkt. „Dieser Sammlung von 2000 Clips haben wir in mehrtägigen Sichtungen Schlagworte zugeordnet: Money, Loneliness, War, Exotica, Desire und Belonging waren die häufigsten, sei es im Bild, auf der Soundebene oder in den Texten der Songs.“ Die jeweils vier treffendsten Clips zu einem Schlagwort bilden nun Kapitel, anhand derer sich ein lebhaftes Mosaik aktuellen Musikschaffens formiert. In der Ausstellung passiert das ganz sinnlich und unkommentiert, das Buch dagegen liefert Deutungen aus verschiedenen Positionen mit, und um die Clips herum schwirren satellitengleich Interviews, Essays, Fotostrecken von 200 Mitwirkenden.
Ein Ausschnitt aus der Fülle: Im Themenbereich „Money“ etwa parodiert das Journal Rappé, eine Nachrichtensendung in gerappter Form die Gier des senegalesischen Präsidentensohns. Die indonesische Metalband Burgerkill nimmt in „House Of Greed“ die Geldwäsche der indonesischen Regierung aufs Korn. Im „War“-Kapitel findet sich ein ganz konservativ tönender Song wie „La Bala“ von Los Tigres Del Norte, der aber per Text kritisch von der Gangsterverherrlichung im mexikanischen Drogenkrieg abrückt. Oder Produzent Matthew Herbert berichtet über seine Experimente, ahnungslose Clubbesucher zu Houserhythmen aus Schlachtenlärm tanzen zu lassen.
Im Diskurs ist für Burkhalter ein Ansatz zentral, den er „multi-local“ nennt: „Wir müssen wegkommen von den Europäern, die erklären, wie es anderswo ist. Ein nigerianisches Musikstück sollte auch von einem Nigerianer kommentiert werden, wir haben nicht die Deutungshoheit.“ Beim Thema „Loneliness“ dreht er den Spieß gar um und lässt ein Video des belgischen Künstlers Stromae vom Ghanaer Wanlov the Kubulor anaylsieren, der in seinem Versuch amüsant scheitert, Stromaes Inszenierung von Einsamkeit auf Afrika zu übertragen. Diese Umkehrung der ehemaligen Einbahnstraße ist Programm für das Norient-Team. Deshalb werden nicht nur Beiträge aus Bolivien, Syrien oder Pakistan (siehe den Clip unten vom Rapper Ali Gul Pir über die Sperrung von youtube) thematisiert, sondern auch die genuin europäischen Musikphänomene Dubstep und Grime. Denn in einer Welt, in der alles nur noch einen Mausklick entfernt ist, werden Unterscheidungen zwischen dem anglo-amerikanischen Raum und anderen Produktionszentren der Welt obsolet.
Bishi (Foto: Promotion Norient)
Was sich vielschichtig im Kapitel „Exotica“ zeigt: Einstmals produzierten Europäer Musik mit mediterranem, indischem oder Latino-Touch aus einem Sehnsuchtstopos heraus. Bei der British Asian-Künstlerin Bishi verwandelt sich aber plötzlich das historische England zum faszinierenden „Ort des Anderen“. Und die Südafrikaner DJ Invizable und Okmalumkoolkat koppeln animistische, traditionelle Motive mit futuristischer Ästhetik, was wir zwar exotisch finden mögen. Für sie setzt sich daraus aber ein neues Heimatbild zusammen, das sich verabschiedet hat von der bisher so beliebten Imitation der amerikanischen Hiphop-Kultur. Er steht stellvertretend für etliche Kollegen vom Kontinent, die in ihren Videos neuerdings starke afrikanische Bildsprache miteinbeziehen – auch mit humoristischen Elementen, wie die Fokn Bois aus Accra, die man in feinen Anzügen durch den Busch streifen sieht.
„Man könnte zuerst denken, dass sie auf die Klischees aus dem Westen reagieren“, so Burkhalter. „Aber das sind nicht unsere Bilder von ihnen, das sind ihre Parodien lokaler Figuren. Ich denke, wir überschätzen den Einfluss, den wir auf sie noch haben.“ Was Norients Arbeit vor Ohren und Augen führt: Abseits des Mainstreams hört der unter westlichem Diktat angerührte globalisierte Einheitsbrei schnell auf. Dort regiert eine wilde, emanzipierte Klang- und Bildvielfalt.
© Stefan Franzen