Ein Kontrabass, und wie er die Welt sieht: So könnte man die Vision von Georg Breinschmid beschreiben. Bassist, Komponist, Arrangeur, Bandleader, Liedschreiber, Schauspieler und Wortakrobat: Dieser Mann ist eine der spannendsten Persönlichkeiten Österreichs. Die Wiener Philharmoniker und das Vienna Art Orchestra als Lehrjahre, Experimente zwischen Balkan, Dadaismus und Soul, immer wieder die originelle Rückkehr zum Wienerlied, und vor allem das aktuelle Album Classical Brein: Über all das hat Georg Breinschmid mit mir bei einem langen Frühstück geplaudert.
Für die JazzFacts im Deutschlandfunk habe ich daraus ein Porträt des Wiener Musikers erstellt: Die „Geschichten aus dem Breinländ“ werde am Donnerstag, den 22.6. von 21h05 – 22h ausgestrahlt, danach sind sie eine Woche lang online nachzuhören.
Herr Dreyer, wie kam die Friedensstadt Osnabrück zum Festival beziehungsweise das Festival zur Stadt?
Dreyer: Die Antwort ist ganz banal. Das Festival ist in Osnabrück geboren, weil ich zu dieser Zeit dort gelebt habe. Gerade in den ersten Jahren haben wir viel mit iranischen MusikerInnen gearbeitet. Ich bin damals häufig gefragt worden: „Warum machst du das Festival nicht in Berlin oder Hamburg, wo es große iranische Communities gibt?“ Aber Osnabrück ist wegen seiner überschaubaren Größe für beide Seiten toll, da begegnen sich Musiker und Publikum nach den Konzerten in der Einkaufszone, alles ist fußläufig. Unser Publikum ist über die Jahre mitgewachsen. Wo gibt es das, dass sich Hunderte von Leuten traditionelle uigurische Musik anhören? Wohl nicht einmal in Urumqi. Und natürlich passt der Titel „Friedensstadt“ wunderbar dazu, aber das hat sich nur zufällig so ergeben.
Auf der Website des Festivals heißt es, das Wort „Orient“ rufe unmittelbar positive wie negative Klischees hervor. Aber ist das mit „Morgenland“ nicht genauso? Ist dieses märchenhafte Wort noch zeitgemäß?
Dreyer: Als ich 2005 begann den Blick auf diese Region zu richten, hörte man aus dem „Middle East“ nur schlimme politische Nachrichten, kaum etwas über zivilgesellschaftliche Themen, geschweige denn Musik. Gibt es Jazz in Syrien, HipHop in Iran? Niemand schien das zu wissen. Der Name entstand aus einem optimistischen Spiel mit der Mehrdeutigkeit: Morgenland, aufs Morgen hingedacht. Da jetzt auch die englischsprachigen Besucher von „Morgenland“ sprechen, hat sich das verfestigt, ich komme da nicht mehr raus! Mit der Terminologie ist es nicht ganz einfach. „Orient“ vermeide ich, „islamische Welt“ trifft es natürlich auch nicht. Korrekt müsste man es „Westasien“ nennen. Und musikalisch könnte man sagen, eine Musik, die auf Maqam basiert. Aber auch das stimmt wiederum nur teilweise.
Als einen Schwerpunkt in der Ausgabe 2023 könnte man die Präsenz vieler junger Künstlerinnen ausmachen. Geschah diese Auswahl bewusst?
Dreyer: Das Morgenland Festival Osnabrück wollte immer Klischees entgegenwirken, und eines dieser Klischees besagt, dass die Gesellschaften östlich des Mittelmeeres sehr patriarchalisch geprägt sind. Aber was wir etwa im Iran schon vor den Unruhen gesehen haben, ist ja das genaue Gegenteil, nämlich, was für eine starke Kraft vor allem junge Frauen dort haben. Im Iran sind die am besten ausgebildeten Menschen die jungen, schlauen, aktiven, selbstbewussten Frauen, und sie sind oft Anstoß gesellschaftlicher Prozesse. Die große Anzahl von Frauen beim Festival trägt diesem Aspekt Rechnung.
Das Miteinander von Musikern aus dem „Morgenland“ mit den Musikern aus dem „Westen“ ist ja die Essenz des Festivals. Wie stellt es sich in einer globalisierten Welt dar? Gibt es noch mehr musikalische Durchmischung, oder im Gegenteil wieder eine Berufung auf die jeweils eigene Tradition?
Dreyer: Die eigene Tradition zu pflegen ist ja etwas sehr Schönes. Heikel finde ich, wenn man von kulturellem Austausch spricht, aber defacto spielen nur MusikerInnen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen ihre Soli über einem Bordun. Ich lade MusikerInnen ein, die offen sind für einen Austausch, der darüber hinausgeht. Das funktioniert gut mit MusikerInnen der Alten Musik, weil sie auch nicht wohltemperiert spielen, und im Jazz, weil alle als improvisierende MusikerInnen schon per se sehr offen sind. Es geht mir darum, dass man die Begegnung nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner runterbricht, bei der beide Seiten ihre Komplexität und Schönheit verlieren, sondern beide Seiten sollen ihre Identität behalten und daraus Neues entstehen lassen. Das ist eine Metapher auch für ein gesellschaftliches Miteinander.
In den Begegnungen zwischen Ost und West spielt im Rahmen des Festivals nicht nur Alte Musik und Jazz, sondern oft auch der Orchesterklang eine Rolle. Dieses Jahr ist die kurdische Sängerin Aynur sogar mit dem gesamten Osnabrücker Symphonieorchester auf der Bühne.
Dreyer: Ich habe 2009 das Morgenland Chamber Orchestra gegründet. Das war eine Antwort auf Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra, dem ich iranische MusikerInnen vermittelt hatte. Damals dachte ich mir: Da treffen sich jetzt jüdische, arabische und persische MusikerInnen und spielen Schubert, Brahms, Schönberg. Das ist doch total verrückt! Warum laden wir nicht eher Musiker, Solisten und auch Dirigenten aus ihren Reihen ein und arrangieren ihre Musik. Im Morgenland Chamber Orchestra spielten Studenten aus Iran, Aserbaidschan, Syrien und Irak, und ein paar KollegInnen aus dem Osnabrücker Symphonieorchester. Es gab in diesem Rahmen etwa Konzerte mit Alim Qasimov, Djivan Gasparyan oder eben Aynur. Seitdem, und das ist 11 Jahre her, war es mein Wunsch, einmal Aynur mit einem vollen Symphonieorchester zusammenzubringen. Die Arrangements hat Wolf Kerschek geschrieben, ein begnadeter Musiker. Er leitet die Jazzabteilung der Musikhochschule Hamburg, arrangiert auch für Rammstein oder Helene Fischer, aber seine Liebe gilt ganz besonders dieser Art von musikalischen Projekten.
Eine weitere Klassik-Begegnung bezieht sich auf Vokalmusik. Die Cappella Amsterdam wird Werke der libanesischen Geigerin Layale Chaker und der iranischen Komponistin Aftab Darvishi realisieren. Wie sind die beiden Werke verbunden?
Dreyer: Layale Chaker hat dieses Stück für Chor und Violine zu Texten des irakischen Dichter Nineb Limassu geschaffen, der auf Neuaramäisch schreibt. Eigentlich wollten wir diese Komposition namens „The Bow and the Reed“ einem Konzert gegenüberstellen, für das der syrische Spezialist für frühchristliche, aramäisch gesungene Musik schlechthin, Nouri Iskandar, nochmals zu uns gekommen wäre, er ist jetzt 85. Es stellte sich als zu aufwendig für den Chor heraus und ließ sich auch nicht sinnvoll kürzen, da es sich um religiöse Musik handelt. Dann kam der Vorschlag von der Cappella Amsterdam, eine Auftragskomposition der Iranerin Aftab Arvishi mit Chor, Duduk und Kamancheh dazu zu gruppieren, auch das ist Poesievertonung, vom iranischen Dichter Hooshang Ebtehaj.
Es sind dieses Jahr viele Künstlerinnen und Künstler aus Ländern zu Gast, die politische Brandherde sind: Iran, Türkei/Kurdistan, Palästina. Hat das Morgenland-Festival den Anspruch, sich in politische Fragestellungen einzumischen?
Dreyer: Nein, es ist sogar explizit das Gegenteil. Als wir einmal aus dem Iran zurückkamen, hat Henryk M. Broder in einem langen Artikel geschrieben, wir würden Propaganda für die Mullahs machen. Ich habe daraufhin Hunderte wütender Emails bekommen, man fragte mich: Wie können Sie Ihren Kindern noch in die Augen schauen? Man merkt, wie man von allen Seiten instrumentalisiert wird. Ich betone: von allen Seiten. Wir machen ein Musikfestival, wir geben überhaupt keine politischen Statements ab. Ich habe natürlich eine Meinung zu politischen Themen, doch die gehört hier nicht hin. Vielleicht ist es an sich schon ein gesellschaftliches Statement, wenn wir uns uigurischer Musik oder kurdischer Musik widmen.
Können Sie Ihre Motivation, dieses Festival zu programmieren, mit wenigen Worten zusammenfassen?
Dreyer: Man kann aus dem Negativen heraus agieren. Zurzeit reden wir viel über Postkolonialismus, Eurozentrismus, all das sind ganz wichtige Themen, um die wir uns kümmern müssen. Man kann aber auch sagen: Auf der Welt gibt es so viel tolle Musik, wie dämlich wäre es, die nicht zu hören. Und ich möchte aus dieser positiven Motivation heraus handeln. Für mich hat sich in dieser Hinsicht nicht viel geändert seit ich elf war. Da bin ich zu meinem Nachbarn rübergelaufen und erzählte ihm: Hey, ich habe eine Platte von AC/DC gehört, und die ist so toll, die musst du hören!
Nach den beiden Produktionen „Female Voice Of Iran“ und „Female Voice Of Afghanistan“ (greenbeltofsound.de berichtete) wendet sich die Zeitgenössische Oper in Berlin jetzt den Sängerinnen Kurdistans zu: Für den 24. und 25. Juni ist ein neues Festival namens „Female Voice Of Kurdistan“ geplant. Vor Ort haben die iranische Musikethnologin Yalda Yazdani und der künstlerische Leiter der Oper, Andreas Rochholl, Vokalistinnen aufgenommen und sie interviewt.
„Gerade in diesem Jahr mit der Präsidentschaftswahlen der Türkei gibt es dort eine sehr, sehr angespannte Situation für Kurden“, erzählte Rocholl WDR Cosmo. „Umso mehr ist es unsere Aufgabe als Kulturinstitution, sich dem Reichtum der Kultur zu widmen, der Diversität. Und die Faszination dieser Diversität ist ein Antrieb unserer Arbeit.“
Unter den porträtierten Sängerinnen wird etwa Jînda Kanjo aus Kobanê sein, die in der kurdischen Sprache Kurmandschi singt und als Geflüchtete in der Türkei lebte. Weil sie an der TV-Castingshow „Kurd-Idol“ teilgenommen hatte, musste sie das Land verlassen und lebt derzeit im Irak. Mit dabei ist auch Kawyar Hadi aus Halabdscha, das Saddam Hussein 1988 mit Giftgas angreifen ließ, und mit Wajeda Khero wird auch eine jesidische Kurdin porträtiert. „Female Voice Of Kurdistan“ wird multidisziplinär zu erleben sein: durch Konzerte von vier der Sängerinnen vor Ort in Berlin, filmische Porträts und ebenso durch einen Youtube-Kanal. Die Konzerte finden in der Villa Elisabeth in Berlin statt.
SWR 2 Musikstunde Track Sounds – die Musik der Schienen
12.06. – 16.06.2023, 9h05 – 10h
von Stefan Franzen
Schnauben, rattern, pfeifen, quietschen und rauschen – für viele ist die Eisenbahn selbst schon Musik. Von den Signalhörnern der Lokomotiven bis zum rhythmischen Klappern der Schwellen sind die Sounds der Züge während der letzten 180 Jahre in Orchesterstücke, Kammermusik, Jazztunes, Minimal Music, Lied, Chanson, Folk- und Popsongs eingebaut worden.
Doch Eisenbahnmusik ist weit mehr als Klang gewordenes Geräusch. Selten geht es in ihr um eine simple Fahrt von A nach B, gerade die Nebenstrecken und Abstellgleise erzählen die reizvollen Geschichten: von Wartenden am Gleis, von Bahnarbeitern und Hobos, von geheimnisvollen Abzweigungen und verpassten Chancen, vom Rauschen durch die Nacht, vom Geraten auf die schiefe Bahn. Züge gleiten und geleiten in die himmlische Sphäre, oder sie fahren in die Unterwelt, stürzen in höllische Schlünde.
In dieser Woche zeigt die SWR 2 Musikstunde einen Railroad Movie für die Ohren – lassen wir uns überraschen, wohin die Reise auf musikalischen Schienen geht.
Dass sie überhaupt Eingang in die Musikgeschichte gefunden hat, ist ihrer eigenen Beharrlichkeit zum richtigen Zeitpunkt zu verdanken. Am 19. März 1963 sitzen ihr Ehemann Joāo Gilberto und Antônio Carlos Jobim in den New Yorker A&R Studios und kämpfen mit den Aufnahmen zu einem Album. Knapp fünf Jahre zuvor hatten der Gitarrist und der Komponist zusammen die Bossa Nova aus der Taufe gehoben, als frische, freche und schlanke Gegenbewegung zum pathetischen Orchestersamba. Die Bossa ist seit einem Konzert in der Carnegie Hall nun Exportschlager in die USA geworden. Jazzsaxophonist Stan Getz wittert den Erfolg, hängt sich an die beiden dran. Doch im Studio will der Funke zum Amerikaner nicht so recht überspringen.
Als die Mikrophone João Gilbertos näselnde Stimme für das Stück „Garota de Ipanema“ einfangen, besteht seine Frau Astrud darauf, eine Strophe auf Englisch beizusteuern. Übers heimische Wohnzimmer hinaus hat die als Astrud Weinert geborene Tochter eines deutschen Immigranten und einer Brasilianerin bislang kaum Gesangserfahrungen aufzuweisen. Doch Produzent Creed Taylor unterstützt die Idee, denn so könnte sich das Album nicht nur unter Jazzfreaks, sondern breit in der englischsprachigen Welt verkaufen. „Tall and tan and young and lovely the girl from Ipanema goes walking…“ haucht sie ins Mikro. Der Rest ist Legende.
„The Girl From Ipanema“ wird – nachdem Taylor die portugiesische Strophe rausgeschnitten hat – ein Millionenseller, macht die Bossa Nova und Astrud Gilberto weltberühmt. Doch wäre es zu kurz gegriffen, die am Montag Verstorbene nur auf dieses Lied und das Album „Getz/Gilberto“ zu reduzieren. Nach der Scheidung von João 1964 nimmt sie bis Ende der 1970er einige feine Scheiben auf, in denen ihre verhangene, schmollmündige – und nie so ganz treffsichere – Stimme in großartige Easy Listening-Texturen gebettet ist. Das Repertoire reicht dabei von Brasil-Klassikern bis zu Burt Bacharach. Herausragend etwa „The Shadow Of Your Smile“, an dem sich auch der deutschstämmige Arrangeur Claus Ogerman beteiligt, oder „Look To The Rainbow“ mit dem Orchester von Gil Evans. Ab den Achtzigern macht sie sich schon rar. Doch bevor sie sich aufs Kunstmalen und den Tierschutz verlagert, überrascht sie nochmals – mit einem James Last-Teamwork und einem Duett mit George Michael.