Foto: Nick Merzetti
Jaron Freeman-Fox (British Columbia)
aktuelles Album: Jaron Freeman-Fox & The Opposite Of Everything (Eigenverlag)
Kanada kann sich zwischen Halifax und Vancouver mit einer ganzen Riege erstklassiger Violinisten schmücken, doch unter den lebenden Meistern des Instruments ist er derjenige mit dem universellsten Ansatz: Jaron Freeman-Fox. Während meiner Reise war es nur möglich, ihn an einem ganz bestimmten Tag zu treffen, und dafür musste ich zehn Stunden im Zug sitzen. Wie sich schnell herausstellte, hat sich jede einzelne Minute der Fahrt gelohnt, denn selten habe ich ein so profundes und anregendes Gespräch führen können.
Als ich nachmittags um drei in der ruhigen Straße im Westen von Toronto eintreffe, sitzt Jaron auf seiner Veranda und frühstückt. Es ist noch Ende Februar und die trügerische Frühlingsluft, die vom Lake Ontario in die Stadt weht, lässt die Temperatur auf sieben, acht Grad plus hochschnellen. Jaron geleitet mich in sein Arbeitszimmer, wo seine Instrumente und sein kleines Studio untergebracht sind, und schon mit seiner ersten Antwort tauche ich in eine faszinierende Welt ein.
Jaron, wie stellte sich deine musikalische Kindheit dar? Welchen Einflüssen warst du ausgesetzt? War da von Anfang an die Geige?
Jaron Freeman-Fox: Mit vier wollte ich schon Geige spielen, mit sieben bekam ich dann eine. Ich wuchs ganz im Norden von British Columbia, in der Nähe zu Alaska auf, und dort zählte die Musik der Indigenen zu den Highlights. Was die, nennen wir sie mal „koloniale Musik“ angeht: Sie wird durch die Freiheit von Geschichte bestimmt. Das gilt für Kanada im allgemeinen, aber besonders für British Columbia, das ein sehr junger Bestandteil des Landes ist. Es gibt dort keine richtige eigene Tradition. Wofür ich dankbar bin! Im Gegensatz zu einem Fiddler, der in Schottland mit einer immensen Tradition aufwächst oder einem jungen Inder, dem man nahe legt, zuerst die indische klassische Musik zu lernen, ist es für mich einfach Fiddlemusik, ganz gleich, ob ich eine keltische Melodie oder Bluegrass lerne. Es gibt dort oben viele Musikfestivals, die nach dem Prinzip der Hippiezeit funktionieren. Die Leute kaufen einen Flecken Land, entscheiden sich, eine große Party zu schmeißen, und über die Jahre wächst es zu einem großen Festival. Und das macht die Musik da zu etwas sehr Eigenem. Als Teenager klagte ich darüber, dass ich keine Tradition hatte, die ich meine eigene nennen konnte, in die ich eintauchen konnte. Aber jetzt, wo ich älter werde, merke ich, dass es wirklich ein Spektrum gibt zwischen Geschichte und Kreativität: Je größer die Abwesenheit von Geschichte ist, desto notwendiger, dringlicher die Kreativität. Und das siehst du sehr gut an der kanadischen Westküste.
Nochmal zur indigenen Musik deiner Herkunftsprovinz. Welcher Art war sie und wo hast du sie hören können?
Freeman-Fox: Ich habe meine Sommer oft auf Haida Gwaii verbracht, die werden auch die Queen-Charlotte-Inseln genannt. Dort gibt es eine First Nations-Tradition, die noch sehr intakt ist. Es gibt zur Zeit ja eine Menge indigener Musik aus Kanada, die weltweit populär wird: Tanya Tagaq mit ihrer Inuitmusik, A Tribe Called Red aus Ottawa, die Powwow mit elektronischen Einflüssen spielen. Es ist toll, das mitzubekommen. Ich will die Leute aber daran erinnern, dass es so viele verschiedene First Nations-Musik gibt, und alles, was jetzt gerade populär wird, hört sich komplett anders an als die indigenen Sachen, mit denen ich aufgewachsen bin, als ich in den Reservaten Zeuge war, wenn zum Beispiel die Totempfähle aufgestellt wurden.
Heute tauchst du in viele Fiddle-Traditionen ein. Aber wie begann dein Weg mit der Geige? War der klassisch?
Freeman-Fox: Ich sollte da zuerst über meine ungewöhnliche Kindheit sprechen. Ich hatte keinerlei Schulerziehung bis ich zur Uni ging. Ich lebte mit meiner Mutter und meinem kleinen Bruder von vielleicht 100 Dollar im Monat, wir sind einmal pro Jahr umgezogen, haben uns von Sachen aus dem Garten ernährt. Ein Freund hat mir die ersten Geigenstunden gegeben, dann hatte ich Unterricht bei einem der größten Violinisten der Westküste in Smithers, aber da wir ständig umgezogen sind, war das schwierig. Ich war also auf mich selbst gestellt und bedauerte das sehr. Auf der Universität musste ich mir dann die Zähne ausbeißen, um all das Versäumte nachzuholen. Aber für diesen autodidaktischen Weg bin ich heute sehr dankbar, denn für meinen musikalischen Weg war er sehr gut geeignet.
Gibt es einen typisch kanadischen Fiddlestil, oder ist alles einfach zusammengesetzt aus den verschiedenen Immigranteneinflüssen, keltisch, ukrainisch usw.?
Freeman-Fox: Nicht da, wo ich herkomme, in BC. Aber je weiter du nach Osten rübergehst, gibt es eine Menge verschiedener Traditionen. Da hast du die Métis-Tradition, die ist unglaublich und erinnert mich fast an die norwegische Tradition. Es gab meistens nur einen Fiddler im Dorf, und die Melodien sind ganz verschieden von Dorf zu Dorf. Dann gibt es die bekannteren kanadischen Stile aus Cape Breton und Prince Edward Island, über die ganze maritime Region verstreut. Darüber hinaus gibt es Canadian Old Time Music. Als ich aufwuchs, habe ich mich an keine dieser spezifischen Traditionen drangehängt. Als ich mehr und mehr Fiddle-Stile aus aller Welt kennenlernte, wurde mir klar, dass die kanadischen Traditionen leider zu den unattraktivsten gehören, aber zum Glück gibt es ja das Internet, wo du nach allen möglichen Stilen auf die Jagd gehen kannst.
Aber du suchst ja nicht nur im Internet nach Fiddle-Stilen, du reist ja viel. Was würdest du sagen, ist dein favorisierter Stil weltweit?
Freeman-Fox: Schwierig, diese Frage zu beantworten. Zur Zeit höre ich viel norwegische und skandinavische Sachen. Ein anderer großer Leitstern ist die südindische Musik. Seit kurzem höre ich auch die einsaitige Geige aus Westafrika. Das sind momentan meine drei Lieblingsstile.
Welche Geigen spielst du? Sind das ausschließlich akustische oder sind auch E-Violinen dabei?
Freeman-Fox: Ich spiele fünfsaitige Geigen seit ich ein Kind bin. Aber das Instrument, das ich am meisten spiele, ist 12-saitig. Du kannst sie hier an der Wand sehen, sie ist zwar auf mich zugeschnitten, aber von der Grundanlage her ist es eine Viola d‘amore, eine Barockvioline mit 6 spiel- und 6 Resonanzsaiten, wie bei einer Hardangerfiedel oder einer indischen Sarangi. Ich mag es auch, dass sie etwas tiefer ist und die tiefen Frequenzen unterstützt. Selbst auf einer fünfsaitigen Geige klingt die tiefe Saite oftmals nicht so schön wie auf einer Bratsche. Außerdem spiele ich die fünfsaitige Violine, die ich von meinem Mentor geerbt habe, als er gestorben ist. Aber auch die habe ich verändert, um sie weniger wie eine Violine klingen zu lassen, denke ich. Ich will einfach in der Lage sein, jeden Sound, den ich in meinem Kopf höre, physikalisch zu erzeugen. Bei der Viola d‘amore passieren in den hohen Lagen ein paar merkwürdige Sachen, einige Töne sind lauter, andere leiser als bei der normalen Violine. Sie ist ausgeglichener als die Violine, die dir ins Gesicht springt mit scharfen Zähnen.
Jaron Freeman-Fox: „Clarity“
Quelle: youtube
Wenn du ins Ausland gehst, ist es dann dein Ziel, vor Ort Unterricht bei Meistern zu nehmen und mit einheimischen Musikern zu spielen?
Freeman-Fox: Ja und ja, aber das sind zwei sehr unterschiedliche Unterfangen. Wie du wahrscheinlich weißt, habe ich in verschiedenen Kulturen studiert. Ich denke beim Studieren aber nicht an ein Endziel. Das wird dann ganz natürlich ein Teil von mir, fließt in meine Kompositionen ein, und wenn ich einen bestimmten Stil studiere, dann höre ich zu dieser Zeit auch nichts anderes an. Ich hatte das Glück, mit meinen favorisierten Meistern zu lernen, in Schweden Mats Edén, bei dem ich in der Küche stundenlang bei Kerzenlicht gespielt habe. Er hat digitale Versionen von all den Zylinderaufnahmen. In Indien habe ich bei M. Narmadha, der Tochter von M.S.Gopalakrishnan gelernt.
Kollaborationen sind ein ganz anderes Feld. Ich mag jede Musik, die sich anhört, als sei sie zufällig. Ich setze mich nicht hin und stelle mir vor: So, jetzt will ich eine irische Melodie haben, einen südindischen Rhythmus und schwedische Verzierungen – das ist ein Rezept für fürchterliche Musik. So rufe ich auch nicht einen malaiischen Gitarristen an, weil ich gezielt einen haben will. Mir geht es eher um die Persönlichkeiten von Musikern, die Resonanz muss stimmen, sie müssen die gleichen Intentionen haben. Es gibt eine Menge Gründe Musik zu machen, und ich möchte mit den Leuten zusammenspielen, die aus den gleichen Gründen wie ich spielen wollen, aus welcher Tradition sie dann kommen, ist egal.
Es gibt auf deinen Alben so viele verschiedene Einflüsse, von indischer bis zu jiddischer Musik, von Skandinavien bis Latino-Flair. Manchmal wechseln diese Einflüsse mitten im Stück. Entsteht das alles spontan in Sessions mit deiner Band?
Freeman-Fox: Ja, spontan, was aber nicht heißt, dass nicht eine Menge Arbeit drin steckt. Ich habe meinen Kopf ein Jahr lang gegen die Tasten des Keyboards gehämmert, um dieses letzte Album fertig zu kriegen. Es war sehr aufreibend, bis alle Songs so standen, wie ich sie wollte. Ich würde nicht sagen, dass ich alle meine Musik zufällig geschrieben habe, aber alles, was ich mit einem bestimmten Zweck gemacht habe, klingt nicht richtig gut.
Schreibst du Musik auf?
Freeman-Fox: Gut, dass du fragst. Wir haben in meiner Band The Opposite Of Everything nicht viele Regeln, aber eine ist: Nichts berührt Papier. Alle sind ausgebildete Musiker, haben studiert, ihren PhD. Aber es ist meine tiefe Überzeugung, dass der Prozess zwischen dem Moment, in dem ein Stück wirklich gut und in dem es lediglich brauchbar klingt, auf Papier vielleicht schnell geht, aber nicht, wenn es so gut wie möglich soll.
Wenn du ein Stück wie „Sweden“ spielst, hast du dann als Ausgangspunkt eine bestimmte traditionelle Melodie, die du auf deine eigene Art und Weise weiterentwickelst, entfremdest?
Freeman-Fox: Dieses spezielle Stück ist eine Anomalität, denn gewöhnlich spiele ich keine traditionellen Stücke. Aber dieses Stück ist tatsächlich eine traditionelle Tune. Ich weiß nicht, wie ich beschreiben soll, was wir mit dieser Musik machen. Es war sehr angsteinflößend, das in Schweden zu spielen. Wir fragten uns: Werden die uns mit Mistgabeln aus dem Dorf treiben? Wir haben es dann bei einem Festival gespielt und die Leute gingen total ab. Es hat ja ein etwas geisterhaftes Intro, als wir dann in die eigentliche Melodie einstiegen, haben 15-jährige Mädels geschrien, und die Leute haben zum Walzer-Rhythmus Headbanging gemacht. Tolle Erfahrung! Aber ich weiß wirklich nicht, welche Einflüsse da noch mit rein kommen in meiner Version, für die Schweden hat es anscheinend funktioniert!
Foto: Derek Gray
Wie kam der Name deiner Band zustande: The Opposite Of Everything?
Freeman-Fox: Ich würde sagen, dass ich mich da selbst aufs Korn nehme, da ich meine eigene Musik nicht gut beschreiben kann, wie das bei Künstlern ja oft der Fall ist. Außerdem ist es eine großartige Sache, welche große Rolle in Kanada und generell in der englischen Sprache der Sarkasmus spielt. Etwas zu sagen und das Gegenteil zu meinen ist eine der der „erlösenden“ Qualitäten des Englischen. Zwischen britischem und kanadischem Humor gibt es schon große Unterschiede, aber da ich kein Experte bin, wäre es für mich sehr schwierig, das in Worte zu fassen. Und ich mag das Konzept der Opposition im Allgemeinen, das ist in den Schreibprozess der Band übergegangen.
Welche Musiker kommen in der Band zusammen? Sind die alle aus Toronto?
Freeman-Fox: Wir hatten Musiker aus ganz Kanada und aus der ganzen Welt dabei. Im Moment sind alle aus Toronto, das macht die Koordination leichter. Die Band funktioniert als Kollektiv von neun oder zehn Musikern, von denen nie mehr als fünf gleichzeitig auf Tour gehen. Wir sind alle Freunde und sie sind meine Lieblingsmusiker aus verschiedenen Stilen.
Ist es also eine multistilistische UND multikulturelle Band?
Freeman-Fox: Eine gute Frage. Jeder in der Gruppe hat eine bestimmte Form von traditioneller Musik studiert, und das ist wichtig für mich, um die Verbindung zu etwas zu haben, das älter als man selbst ist. Ich habe vorhin die verschiedenen Gründe des Musikmachens angesprochen, und wenn du dich mit traditioneller Musik beschäftigt hast, dann kommst du mit Beweggründen in Kontakt, auf die du nie gestoßen wärst, wenn du nur zeitgenössische oder klassische Musik spieltest. Wenn ich meine Musiker aussuche, dann danach, dass sie befreit sind von jedwedem kulturellen Zwang, aber zugleich eine tiefe Affinität spüren für irgendeine Tradition. Denn dann weißt du, dass sie die Liebe für jede Art von Musik entwickeln können. Aber es ist nicht zusammengestellt nach dem Motto: Oh, toll, wir haben einen malaiischen Gitarristen und einen argentinischen Saxophonisten! Es geht viel eher darum, dass jeder seine einzigartige Stimme hat, dass er zugleich nach sich selbst klingt, aber im Kontext der Band auf die offenen Fenster der Musik reagieren kann.
Hast du eine besondere Bindung an jiddische Musik? In manchen deiner Stücke hört man so etwas wie eine Nähe zum Klezmer heraus.
Freeman-Fox: Ich mag überhaupt osteuropäische Musik, Klezmer im besonderen. Bei The Opposite Of Everything kommt der Klezmereinfluss deshalb so raus, weil der Klarinettist der von den Musikern ist, mit dem ich am längsten zusammenspiele. Er ist so alt wie ich, aber in ihm steckt ein hundertjähriger Kerl. Wir haben uns in einer sehr erfolglosen Klezmergruppe getroffen. Deshalb kommen wir so oft zum Klezmer zurück, weil der uns tief verbindet. Vor kurzem habe ich mich noch mehr damit beschäftigt: 2015 haben wir in Ungarn und Serbien getourt. In Ungarn waren das Festivals, wo es vor allem um transsylvanische Musik ging und das hat mich angeregt, da verstärkt reinzutauchen. Ich hoffe, dass ich irgendwann rübergehen und diese Musik richtig studieren kann. Das Tolle an Toronto ist, dass es hier eine wunderbare Klezmerszene gibt. Es gibt keinen anderen Ort in Kanada, wo du als Musiker mit Jobs in der Klezmerszene durchkommst. Die Musiker dort sind auch tatsächlich meist jüdische. Es gibt eine große jüdische Gemeinde, viele Musiker und auch viele Orte, wo sie auftreten können.
Sprechen wir über ein paar Stücke ganz konkret: „Auctioneering Everything“, ist das von einer Auktion in Indien beeinflusst?
Freeman-Fox: Tatsächlich hört man da Stimmen von einer kanadischen Rinderauktion! Ich kam aus Indien in einer Art Schwebezustand zurück und fragte mich, nachdem ich so viel Zeit mit der dortigen Musiktradition verbracht hatte: Was heißt es eigentlich, dass ich ein kanadischer Westcoast-Boy bin, der so viel indische Musik gespielt hat? Ich wollte als Nächstes nicht einfach die indische Musik wiedergeben. Was sie in Chennai sprechen, Tamil, ist die schnellste Sprache der Welt. Wenn sie diese Silben sprechen, dann haut dich das wirklich um, diese Schnelligkeit. Ich habe mir dann überlegt, was wohl die schnellste Sprechweise in meiner Kultur ist und dachte mir: Wahrscheinlich Rinderauktionäre! Sie haben eine Melodie drin, einen Rap, sie singen fast. Ich habe mich durch Archivaufnahmen gewühlt und dann diese Auktionäre gefunden, die zufällig ihre Auktion in der gleichen Tonart singen, in der dieser Song steht. Und dann habe ich ein paar Aufnahmen gefunden, die mit einem südindischen Rhythmus funktionieren, den wir in diesem Stück verwenden. Es ist jetzt fast eine Rapbattle zwischen den Auktionären und den südindischen Trommelsilben.
…und sie hören sich wirklich indisch an!
Freeman-Fox: Oft sagen die Leute: Oh, ich liebe die Tabla in diesem Stück! Aber da gibt es gar keine Tabla, mein Drummer spielt 10 Dollar-Bongos und eine Ziegenglocke. Aber da wir diese musikalische Landschaft mit den offensichtlichen indischen Einflüssen erzeugen, haben die Hörer automatisch die Assoziation, dass da eine Tabla drin ist.
Jaron Freeman-Fox & The Opposite Of Everything: „Auctioneering Everything“
Quelle: youtube
Man hat dich oft als „Tom Waits der Fiddle“ bezeichnet, und in Stücken wie „Back To The Boonies“ kann ich diesen Vergleich auch nachvollziehen. Ist das für dich eine Ehre oder fühlst du dich dadurch beschränkt?
Freeman-Fox: Das ist natürlich eine große Ehre, das würde ich nie über mich selbst sagen. Ich war immer ein großer Tom Waits-Fan. Er ist ja eine Referenzgröße für die meisten Leute, die kreativ sind. Was ich bei Tom Waits wirklich bewundere, ist seine Art des Songwritings und sein Produktionsstil, auch wenn er sehr verschieden ist von dem meinen. Da kommen wir wieder zu den Gründen zurück, warum jemand Musik macht, die für jeden verschieden sind. Bei mir und Tom Waits sind es die gleichen, das bewundere ich am meisten an ihm.
Was singt denn der Chor am Schluss des Stückes „Survival“? Ich verstehe da so etwas wie „WiFi“?
Freeman-Fox: Das ist eine Liste, die uns als Musikern auf Tour das Überleben sichert: Wir singen von einer Hippiemedizin, du nimmst drei Tropfen unter deine Zunge und denkst, dein Kopf explodiert. Alle Krankheiten aus deinem Körper werden verjagt von diesem extrem potenten, grauenhaft schmeckenden Kraut. Dann geht es weiter in der Liste: Manuka Honey, ein heilender Honig aus Neuseeland. Espresso. Und gratis WiFi!
Was hat dich zu „Rainwood“ inspiriert, meinem Lieblingsstück auf dem Album?
Freeman-Fox: Es ist ein älteres Stück, vor langer Zeit habe ich angefangen, dass zu schreiben und irgendwann haben sich die vielen kleinen Melodien zu diesem Stück zusammengefügt. Ich bin nicht sehr gut darin, eine Geschichte zu finden. Wenn ich Musik schreibe, denke ich sie als Musik, und manchmal dauert es Jahre, bis ich die Geschichte dahinter verstehe.
Und dann musst du sie Journalisten erklären…
Freeman-Fox: Ja, genau! Ich habe nie darüber nachgedacht, dass jedes dieser Melodiefragmente zu mir kam, wenn ich zuhause war und im Wald durch den Regen ging. Erst Jahre später dämmerte mir das. Es ist mein einziges Stück, das ein Palindrom ist: A-B-C-D, und dann gibt es einen Moment im Auge des Sturms und dann spielen wir das Stück rückwärts. Es ist die Geschichte eines Wassertropfens: Er fällt vom Himmel, bahnt sich langsam einen Weg über den Boden zu Flüssen und Strömen in den Ozean, nur um wieder eine Wolke zu werden und den gleichen Zyklus zu wiederholen. Ein anderes Bild ist die Rückkehr zu dem Ort, den du Heimat nennst, nach vielen Jahren. Du kannst den Lauf der Zeit nicht aufhalten: Ich sehe all meine Violinschüler von damals, die kleinen Kids, die jetzt pickelige Teenager sind. Ich hoffe, du kannst das in dem Stück hören, wenn die gleichen Melodien zurückkehren, dass sie dann zugleich im normalen und im halben Tempo gespielt werden. Das fängt hoffentlich das bittersüße Gefühl ein, dass, wenn du zu deinem Ausgangspunkt zurückgehst, du niemals wieder genau das Gleiche antriffst.
Das wunderbare „Stray Camino“ ist sehr introspektiv und spirituell, wie etliche deiner Kompositionen. Würdest du dich als spirituellen Menschen bezeichnen?
Freeman-Fox: Dazu möchte ich ein paar Sachen sagen. Es ist vielleicht eine Binsenweisheit, aber ich denke ich bin genauso spirituell wie jeder andere Mensch, ob er es nun zugibt oder nicht. Ich mehme wahr, wie jede Religion in die andere überblendet und auch in die Wissenschaft. Letztendlich geht es doch darum, Worte für das zu finden, was die Menschen sich noch nicht ganz erklären können. Das Interessante an Musikern ist: Wenn du ein Instrument spielst, bist du in der Lage, kognitives Denken zu umgehen. Als Musiker musst du nicht so viel Zeit darauf verwenden, dir zu überlegen: An was glaube ich? Glaube ich an Gott? Mit der Geige habe ich die direkte Antwort. Es ist schwierig, das in Worte zu fassen, aber das ist ja der Punkt an Instrumentalmusik: Du musst sie nicht in Worte fassen.
Dieses Stück hat zudem eine ganz besondere Geschichte: Ich hatte nie einen Lehrer, bis ich 14 Jahre alt war, dann kam ich zu einem großartigen Geiger namens Oliver Schroer. Ich lebte eine Weile mit ihm, das klassische Lehrlingsverhältnis, wir spielten und schrieben Musik, schälten aber auch eine Menge Kartoffeln. Das war eine großartige Art und Weise zu lernen und ich wurde dadurch auch zu jemandem, der eine Tradition weiterträgt, auch wenn es nur die winzige Tradition einer einzigen Person war. Oliver ging 2004 den St. Jakobs-Pilgerweg in Frankreich und Spanien und hat entlang der Route in Kirchen aufgenommen, und er hat diese seltsame und einzigartige Spielweise auf der fünfsaitigen Geige entwickelt. Er hat dann das Album Camino veröffentlicht, das unter Pilgern sehr beliebt wurde. Als er starb, war ich der Einzige, der sein ganzes Repertoire an geschriebener Musik kannte. Es ist eine Mischung aus Ehre und Rätsel, wie ich diese Musik lebendig halten und bewahren soll. Er hat mir auch seine Violine vermacht, de er auf dem Camino dabei hatte. Ein paar Jahre später war ich auf einer meiner verrückten Touren durch Europa und es war ein Abend, an dem ich nach dem Konzert nicht zu meinem Hotelzimmer zurückgefunden habe. Ich wanderte im bayrischen Niemandsland umher und plötzlich sah ich diese gelben Schilder, die auf den Pilgerweg hinweisen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass der Camino so weit nach Norden, bis nach Deutschland ging. Das war schon ein sehr seltsamer Zufall, dass ich die gleiche Fiddle mit mir herumtrug, auf dem Pilgerweg, auf dem sie schon zehn Jahre zuvor war. An diesem Tag habe ich dann diese Melodie geschrieben, Das war einer dieser seltsamen Momente, in denen das Leben die Kunst imitiert.
Jaron Freeman-Fox: „Stray Camino“
Quelle: youtube
Wie sehen deine aktuellen Projekte aus?
Freeman-Fox:Dort, wo ich aufgewachsen bin, bin ich Mentor für junge Schüler, das ist eine kathartische Erfahrung: Zurückzugehen zu der Gegend, in der ich selbst groß wurde und zu versuchen, diese neue Generation zu gewinnen. Als ich so alt war, hattest du einfach keinen Zugang dort zu den Freaks in der Musikwelt.
Ich war dieses Jahr auch in der Mongolei um dort Musik zu studieren. Ich bin sehr glücklich, dass das Canadian Council for the Arts mich unterstützt, und ich habe noch einen Betrag aus dem Fonds übrig. Ich werde nach Tuva gehen, um dort den Obertongesang zu studieren, die Igil-Fiedel und die Morin Khuur-Pferdekopfgeige, und dort auch auftreten. Es sieht auch so aus, als würden wir nach Burkina Faso gehen. Meine Band wird außerdem die Begleitband einer Sängerin werden, die ich in China kennengelernt habe.
Wie sieht es mit neuen Aufnahmen, mit einer neuen Platte aus?
Freeman-Fox: Ich bin dabei mehr mit Drums zu arbeiten, in einem Duo, und dafür habe ich ein Pedalsystem für die Geige entwickelt, mit dem ich einen Bass für die Geige erzeugen kann. Damit möchte ich vom Looping wegkommen, denn ich möchte die Sounds zur gleichen Zeit machen, nicht nacheinander. So bekomme ich die völlige Freiheit, harmonisch und melodisch überall hinzugehen. Ich arbeite auch an neuen Solostücken für die Viola d‘amore. Um ehrlich zu sein, mein Guilty Pleasure zur Zeit ist Banjospielen, ich über wahrscheinlich fünf Stunden pro Tag. Ich mag das einfach. Außerdem ist das neue Album mit den Opposites fast fertig. Ich habe außerdem dieses Top Secret-Projekt, das ich unter Pseudonym veröffentlichen werde, da bin ich eigentlich ein Popsänger. Während der letzten Jahre habe ich immer wieder Menschen gefragt, ob Musik und Songs als verschiedene Formen von Kunst betrachtet werden sollten. Ich persönlich denke, ja, das sollten sie. Aus den gleichen Gründen haben wir ja verschiedene Wörter für Malerei und Skulptur, oder Tanz und Theater. Natürlich sind Musik und Songs untrennbar verknüpft. Aber ich für meinen Teil kann sagen, dass sie in verschiedenen Teilen meines Gehirns stattfinden. Wenn ich ein Songwriter bin, bin ich eine ganz andere Person, auch wenn eine Menge Musik im Song steckt. Es macht Spaß eine ganz andere Person zu sein für dieses Projekt.
Natürlich führt kein Weg daran herum: Die Leute werden rauskriegen, dass ich hinter dem Namen stecke. Es ist einfach, um klarzustellen: Wenn sie zu einer Jaron Freeman Fox-Show gehen, kriegen sie jemanden, der gut auf der Geige ist, und beim anderen Projekt bekommen sie eben Songs, textgeprägte Sachen. Ein Experiment mit „schusssicheren“ Verbindungen von Text und Musik, die jede Instrumentation transzendieren kann, während die Musik, die ich für die Opposites schreibe, genau für diesen Zweck orchestriert ist.
Zum Schluss wird es etwas politisch. Wir in Europa sehen Kanada, gerade auf dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse, als Antithese zu den USA? Sieht man da sauch aus kanadischer Perspektive so?
Freeman-Fox: Was unser derzeitiges politisches Klima angeht, denke ich: Die Politiker sind vor der Kamera wirklich freundlich und offen, und alles Böse scheint hinter verschlossenen Türen zu passieren. Wir hatten ja fast ein Jahrzehnt lang einen relativ bösen Premierminister, der die bösen Dinge VOR der Kamera getan hat, und das war sehr verstörend und unkanadisch. Wir atmeten auf, als die Dinge wieder ins für uns Gewöhnliche zurückgingen, aber es ist weit weg vom Ideal.
Der andere Teil deiner Frage: Ich weiß nicht, ob ich für die Mentalität des ganzen Landes sprechen kann, aber in der Vergangenheit war es ein kultureller Gewinn für uns, auf der ganzen Welt nach Modellen zu suchen, wie wir mit der Versöhnung mit unseren First Nations, mit Umweltfragen und anderen Problemen umgehen. Aber es ist schwierig Vorbilder zu finden. Jetzt gibt es bei uns eine subtile Bewusstseinsveränderung. Jemand hat kürzlich zu mir gesagt: Wir müssen in Kanada einfach akzeptieren, dass wir selbst die Führer sein müssen in bestimmten Dingen, etwa indem wir zeigen, dass wir das Bestmögliche tun, um uns mit den Ureinwohnern zu versöhnen, oder im Klimaschutz. Wir sind sehr höflich und bescheiden und haben diesen starken Minderwertigkeitskomplex, aber ich hoffe, dass wir tatsächlich in Zukunft eine Führungsrolle bei bestimmten Themen übernehmen können.
Hast du Angst, dass die Veränderungen in den Staaten Kanada in Mitleidenschaft ziehen könnten? Etwa, weil jetzt viele verschreckte Schutzsuchende über die US-kanadische Grenze flüchten?
Freeman-Fox: Ich bin nicht schlau genug, um über diese Sachen zu sprechen. Aber wenn man mich fragen würde, dann würde ich sagen: Nur weil meine Eltern früher hierhin immigriert sind, gibt es ihnen nicht ein größeres Recht als den heutigen Migranten. Wenn du in einem Erste Welt-Land lebst, willst du nicht auf deinen Komfortlevel verzichten. An der Massenarmut oder Umweltverschmutzung wird sich nichts ändern, wenn die Bürger nicht den Willen zeigen, ihren Level an Komfort zu reduzieren. Es ist leicht sich vorzumachen, dass das nicht notwendig ist, wenn alle um dich herum Menschen der Ersten Welt sind. Wir haben nicht das Recht jemandem zu sagen, dass er oder sie nicht in dieses Land einwandern sollte, und noch viel wichtiger ist es, dass wir in unserem eigenen Hinterhof ein breites Spektrum an Lebensstandards zu Gesicht bekommen. Das zwingt uns direkt, unseren eigenen Level anzugleichen.
Was Amerika angeht: Natürlich ist das verrückt. Aber warum ist es so weit gekommen? Ich beschuldige mich selbst, dass ich diesem so leicht konsumierbaren Narrativ von Leuten wie Trump erlegen bin, oder unserem früheren Bürgermeister hier in Toronto, Rob Ford. Als Progressiver, oder wie immer du dich nennen willst, ist es sehr leicht, sich machtlos zu fühlen. Wer sind die Bösen? Wir wissen es nicht. Und dann bekommst du einen Namen oder ein Gesicht und denkst: Großartig, hier ist ein böser Bube! Und wenn du dann ab und zu noch einen bösen Buben hast, der auch noch eine Witzfigur ist, dann kann es dich süchtig machen, die Berichterstattung über ihn anzugucken und sich über ihn lustig zu machen. Dann wird es plötzlich sehr einfach: Da ist jemand, der ganz offensichtlich der Böse ist UND er ist dümmer als ich! Da fühlst du dich sehr mächtig. Das ist eine Ablenkungstaktik. Dieses simple Narrativ ist der Grund, warum Trump gewählt wurde. Ich habe seine Wahlkampagnen-Videos angeguckt, mich darüber lustig gemacht, und was war das Resultat? Ich habe dafür gesorgt, dass seine Videos mehr Klicks bekommen und er dadurch mehr Macht erhält. Ich hoffe, ich klinge nicht zu masochistisch, aber es ist wichtig, darauf zu konzentrieren, dass sich positive Veränderungen manifestieren können. Ich weiß nicht genau, wie man das herbeiführen kann, aber ich weiß, wie man es nicht tun sollte.
© Stefan Franzen