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Nive Nielsen ist eine der momentan auffälligsten Persönlichkeiten der kleinen grönländischen Songwriterszene. Die Frau aus Nuuk hat ihre Musik mit ihrer amerikanisch-dänisch-schwedischen Band The Deer Children zwischen der Wüste Arizonas und der Küste Westgrönlands zu einer verspielten bis melancholischen Indierock-Klanglandschaft entwickelt. Auf dem Rudolstadt Festival konnte ich sie zu einem – leider zeitlich knapp bemessenen – Interview treffen.
Nive, deine Band nennt sich Deer Children – nach einem Tier, das ich ja eher mit den Sámi in Verbindung bringen würde…
Nive Nielsen: Es gibt viele Rentiere in Grönland, aber sie werden nicht in Herden gehalten. Wir essen viel Rentierfleisch, aber wir jagen sie, sie leben wild in der Natur. Ich musste einen Namen finden, um all die verschiedenen Musiker aus verschiedenen Ländern zusammenzufassen, mit denen ich in der Band spiele. Das war schwierig, aber ich dachte, „Deer Children“ sei ein liebenswertes Wortspiel.
Was verbirgt sich hinter dem Titel deiner neuen, zweiten CD „Feet First“?
Nielsen: „Feet First“ heißt für mich ins tiefe Ende des Schwimmbeckens zu springen. Denn das entspricht meiner Arbeitsweise beim Aufnehmen und auch meiner Lebensweise. Manchmal ist es besser, du lässt Dinge einfach geschehen, bevor du sie durchdenkst. Denn so kommst du raus und erlebst Abenteuer, lernst neue Dinge und Menschen kennen, wenn du wirklich mit deinem Flow gehst und nicht deinen Kopf folgen lässt.
Die Arrangements der Songs scheinen sehr spontan zu sein und stecken voller kleiner Details wie Glockenspiel und singender Säge – entstehen die Lieder ad hoc im Studio?
Nielsen: Gewöhnlich ist der Song fertig, die Melodie, die Akkorde und die Lyrics stehen, wenn ich ins Studio gehe. Dann experimentiere ich mit den Jungs. Ich bin keine gute Leaderin, ich arrangiere die Musik, indem ich es den anderen in einer sehr lockeren Art erkläre. So versuche ich mich meiner ursprünglichen Idee anzunähern. Ich sage zum Beispiel Sachen wie: „Stellt euch vor, es ist stürmisch und kalt, und ihr müsst immer kälter werden. Es soll immer intensiver werden, aber gleichzeitig nicht wild.“ Ich entwerfe also Bilder als Erklärungen und dann sage ich den Musikern, dass sie das umsetzen sollen. Wir probieren viel herum, bis es sich richtig anhört. Am Ende haben wir vier oder fünf Versionen von einem Song, dann fügen wir etwas hinzu oder nehmen etwas weg.
Es war zunächst nicht geplant, dass du Musikerin wirst, kannst du deinen Werdegang erzählen?
Nielsen: Ich habe mein Studium in Ottawa in Politikwissenschaft durchgezogen und meinen Master in visueller Anthropologie in London gemacht. Aber während meines Politikstudiums merkte ich, dass das sehr trocken war und ich brauchte einen Ausgleich. Mein damaliger Freund gab mir eine Gitarre und ermunterte mich, Songs zu schreiben. Ich sagte: „Ich singe doch nicht mal!“ Doch plötzlich passierte etwas Seltsames: Die Songs flossen einfach aus mir heraus. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich sie geschrieben hatte, ich wusste nicht, woher sie kamen. Das Musikmachen hat sich dann ganz langsam entwickelt, am Anfang war es sehr schwierig, denn ich war so schüchtern, ich schwitzte und zitterte, wenn ich vor Leuten spielte, das war nervenzerfetzend für einige Jahre. Jetzt bin ich dabei, mich auf der Bühne langsam wohl zu fühlen. „Feet First“: Ich sprang hinein und jetzt schwimme ich!
Wer waren deine Idole am Anfang? Offensichtlich kommen die ja nicht nur aus der Inuit-Kultur. Du bist ja auch in diesem Desert Rock-Ding drin, denn ein Teil des Albums wurde in Tucson aufgenommen.
Nielsen: Auf jeden Fall hat Howie Gelb einen Rieseneinfluss auf mich ausgeübt, er war einer der Gründe, warum ich überhaupt anfing, Musik zu machen. Denn ich hatte ihm ein paar Emails geschrieben, und er schlug vor, dass ich Aufnahmen mit John Parrish in England machen sollte. Howie hat die Sache ins Rollen gebracht. Aber ich habe auch eine Menge Einflüsse aus aller Welt. Cat Power war wichtig, aber ich höre mir auch US-Folk aus den 1930ern an, ich höre auch türkische und thailändische Musik, dieser Mix kommt in meiner Musik durch. Ich überlege mir nicht, einen bestimmten Stil zu kreieren, sondern ich verwende immer die Elemente, die den jeweiligen Song unterstützen, ihn zum Leuchten bringen.
Aber es gibt auch Inuit-Einflüsse in deiner Musik. Du hast vorhin auf der Bühne drei Songs in Inuqtitut gesungen.
Nielsen: Wir in Grönland sagen Kalaallisut.
Inuqtitut ist dann der Name für die Sprache in Nunavut?
Nielsen: Ja, aber da gibt es viele verschiedene: Inuqtitut gibt es auch weiter im Norden Grönlands. Außerdem gibt es zum Beispiel Inuinnaqtun und andere.
Was bedeutet es für dich, in deiner Muttersprache zu schreiben, kannst du dich in ihr direkter ausdrücken, auf poetischere Art und Weise?
Nielsen: Ich denke, es ist eher ein bisschen schwieriger. Vielleicht weil ich die Sprache besser kenne und mich das vorsichtiger macht und ich meine Worte mehr überdenke. Aber ich schreibe und singe schon gern auf Grönländisch. Ich nehme mir ja nicht vor, Songs zu schreiben, sondern sie kommen zu mir. Das passiert dann für gewöhnlich in der Sprache, in der ich denke. Und da ich so lange auf Reisen bin, denke ich auf Englisch. Wenn ich dann mal etwas länger zuhause in Nuuk in Grönland bin, dann kommt auch mal was in meiner Muttersprache an die Oberfläche.
Nive Nielsen & The Deer Children: „Tulugaq“
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Abgesehen von den Lyrics: Gibt es andere traditionelle Inuit-Elemente? Drum Dancing? Katachak?
Nielsen: Der Kehlkopfgesang Katachak ging bei uns verloren. Wir in Westgrönland waren mit die ersten, die kolonialisiert wurden, denn uns konnte man mit dem Schiff sehr leicht erreichen. Die traditionelle Musik wurde uns von den Missionaren als Erstes weggenommen. Was uns erhalten blieb, ist der Trommeltanz aus der Thule-Region im Norden und aus Ostgrönland. Diese Orte waren schwierig zu erreichen für die Missionare und wurden viel später kolonialisiert. Unbewusst steckt in meiner Musik vielleicht etwas aus den Trommeltänzen darin. Ich hatte Unterricht, als ich ein Kind war, und da lernt man, dass man Rhythmen spielt, die sehr unabhängig vom Gesang sind. Das ist wohl der Grund, warum ich beim Songschreiben oft keine regelmäßige Struktur wie einen Viervierteltakt habe. Ich kann sehr seltsame Rhythmuswechsel machen, die der Melodie und den Versen folgen. Darüber denke ich nicht nach, das passiert ganz natürlich. Aber dann stehen meine Bandmitglieder da und versuchen herauszufinden, was in aller Welt ich da mache! Sie müssen dann die Beats zählen.
Ich erinnere mich an eine musikethnologische Vorlesung, die ich als Student besuchte. Das war bei einem Professor, der uns von den Zeitsystemen bei den Inuit erzählte, dass der Gesang, der Rhythmus und die Körperbewegungen sich in komplett unabhängigen Metren bewegen.
Nielsen: Ja, und das ist sehr natürlich, die Leute lernen das ganz selbstverständlich. Sie denken nicht darüber nach, das wäre zu kompliziert! Ich habe hier beim Festival die Trommeltänzerin Lisa Qaavigaq aus der Thule-Region dabei, die morgen einen Workshop geben wird. Sie hat das seit ihrer Kindheit ausgeübt. Im Auto habe ich sie heute gebeten, mich ein paar weitere Trommellieder zu lehren. Und dieser eine Rhythmus ist wirklich schwierig! Wir haben das zwei Stunden lang gemacht und die anderen Bandmitglieder fast zum Wahnsinn gebracht.
Wie sieht es mit der Infrastruktur der grönländischen Szene aus? Können Künstler ihre Karriere von Grönland aus managen oder sind sie vollkommen abhängig von der amerikanischen oder dänischen Musikindustrie?
Nielsen: Die grönländische Regierung unterstützt Künstler in großem Umfang. Es gibt einen Fonds, und davon bin auch ich abhängig, denn nur um aus Grönland wegzufliegen und wieder zurück kostet schon Unsummen. Es ist lustig, dass du „Infrastruktur“ sagst, denn genau darum geht es. Grönland ist riesig und es gibt keine Straßen zwischen den Orten. Wir legen die Strecken also per Schiff, Hubschrauber oder kleinen Propellermaschinen zurück, die alle sehr teuer sind. Damit wir die verschiedenen Orte erreichen können, unterstützt uns die grönländische Regierung. Wir werden im herbst in fünf grönländischen Städten auftreten. In den Orten werden auch nicht genug Zuschauer kommen, um die Kosten reinzuholen, denn wenn so ein Ort 150 Einwohner hat, werden die nicht alle da sein, da sind ja auch Kleinkinder und Alte dabei. Es ist finanziell also nicht tragbar. Was Festivals angeht: Ja, es gibt eines im Norden, mit ausschließlich grönländischen Künstlern und eines in Nuuk, da treten ab und zu internationale Künstler auf.
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Gibt es einen Austausch zwischen Grönland und der autonomen kanadischen Arktisregion Nunavut oder vielleicht sogar Konkurrenz?
Nielsen: Nein, Konkurrenz gibt es nicht. Im Gegenteil: den riesigen Wunsch, mehr Kontakt zu haben, uns mehr zu sehen. Wir wurden von verschiedenen Nationen kolonialisiert, aber wohnen direkt nebeneinander. Von Nuuk nach Iqaluit sind es vielleicht 800 Kilometer, aber da wir in zwei verschiedenen Ländern leben, ist es nicht so einfach zusammenzukommen. Es gibt in Iqaluit ein verwandtes Festival, zu dem Künstler aus allen artktischen Regionen kommen. Die Grönländer sind sehr begeistert, wenn sie Musiker aus anderen Inuit-Regionen hören. Wir sind uns sehr ähnlich, aber es gibt diese seltsame Tatsache, dass wir als zweite Sprache etwas völlig Unterschiedliches sprechen, wir Dänisch, sie Englisch.
In Europa hören wir viel darüber, wie der Klimawandel besonders Grönland betrifft. Spielt er auch eine Rolle in deinem Songwriting, oder andere Umweltfragen?
Nielsen: Wenn mich das Uranproblem nicht beschäftigen würde, hätte ich nicht darüber geschrieben. Das ist ein gewaltiger Stein, den ich mir da vom Herzen singen muss. Während der Wahlen konnte ich nicht in Grönland sein und gegen die Leute abstimmen, die den Abbau von Uran und die Offshore-Ölförderung unterstützen. Die Umwelt ist so zerbrechlich und so wertvoll in Grönland. Im Moment ist das Land eines der saubersten Orte der Erde. Du kannst aus jedem Fluss trinken, das gibt es sonst nirgendwo. Es ist einfach falsch, das zu verschmutzen. Uran und Öl sind nicht die Zukunft, es ist die Vergangnheit. Die Energiequellen ändern sich, es ist rückwärtsgewandt. Das regt mich sehr auf und ich gehe dafür auf die Barrikaden und hoffe, dass ich eine Diskussion darüber anrege, welche Auswirkungen die Förderung haben kann.
Ist Nuuk von der Eisschmelze betroffen? Muss man über eine Evakuierung nachdenken?
Nielsen: Wenn ein Haus in Grönland nicht auf einem Felsen gebaut ist, dann kann es vorkommen, dass es durch schmelzenden Permafrost auseinanderfällt. Die meisten Häuser stehen aber auf Klippen und es ist sehr bergig, da besteht also nicht die Gefahr der Überflutung. Das Problem ist das Inlandeis, das ist so eine unfassbare Menge Wasser, wenn das schmilzt. Ich glaube, wenn nur die Hälfte davon schmilzt, werden Dänemark und Holland versinken. Wir nehmen einen enormen Klimawandel wahr, verglichen mit der Zeit als ich ein Kind war. Dort oben treten diese Unterschiede zuerst vor Augen. Als ich ein Kind war, gab es soviel Schnee, dass man nicht aus der Tür kam, wir konnten überall Ski fahren, auf jeder Seite der Berge. Heute gibt es nur noch kleine Streifen, die das erlauben, es gibt noch 10 cm Schnee. Wenn du mit alten Leuten sprichst, erzählen sie dir von komplett eisbedeckten Bergen. Die Menge Eis, die schon jetzt verschwunden ist, ist unvorstellbar. Und wir beobachten jedes einzelne Jahr, einen merkbaren weiteren Rückgang. Es geht schneller und schneller.
Nive Nielsen: „Good For You“
Quelle: youtube