In Stuttgart konnte ich diese Woche die Frau treffen, die für mich sowohl das Album als auch den Song des Jahres aufgenommen hat. Die argentinisch-schottische Songwriterin Alejandra Ribera ist in Toronto aufgewachsen, und hat entlang von Klassik, Folk, Latin-Einflüssen, Vorbildern wie Odetta und Jane Siberry ihre eigene Stimme herausdestilliert – eine Stimme, die mit ihren vielen dunklen, hintergründigen, feinfühligen Schattierungen unter die Haut geht. Hier folgt das weitgehend ungekürzte Gespräch mit Alejandra, das ich anlässlich der deutschen Veröffentlichung ihres zweiten Albums La Boca mit ihr geführt habe.
Alejandra Ribera: „I Want“
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Alejandra, du hast einmal gesagt, La Boca sei dein erstes richtiges Album. Aber es ist ja nicht der Start aus dem Nichts. Vielleicht kannst du umreißen, was dich während deiner Jugend beeinflusst hat, wie du deine persönliche Farbe in der Musik gefunden hast.
Ribera: Meine Mutter und meine Großeltern hatten wunderschöne Singstimmen. Wir haben zuhause immer gesungen, einfach zum Spaß. Da kommt die starke schottische Tradition durch. Aber sehr früh zog mich auch die klassische Musik an und ich studierte mit einem Chor. Das hat mir die Basis für die Technik gegeben, ich lernte, wie ich die Stimmenmuskulatur aufbauen kann. Ich habe dann auch angefangen, faszinierende Stimmen zu entdecken, Odetta zum Beispiel, die hat mich völlig umgehauen und ich versuchte, sie zu imitieren. Ich experimentierte so lange herum, bis ein Destillat herauskam, dass ich meine eigene Stimme nennen kann.
Als Kanadierin stehst du in einer langen Linie berühmter Songwriterinnen wie den McGarrigle Sisters, Jane Siberry…
Ribera: Gosh, ich bin so froh, dass du Jane Siberry erwähnst! Alle sprechen von Joni Mitchell und Leonard Cohen, aber Jane Siberry war in der Tat einer meiner größten Einflüsse auf mein Songwriting. Ihr Album When I Was A Boy war mein spiritueller Leitstern als ich begann, mein Songwriting zu entwickeln, und von da ab bin ich weiter zurück gegangen in ihrem Katalog.
Aber ich denke noch an ein anderes mögliches Vorbild, eine Frau, die auch einen binationalen Hintergrund hatte, das Reisen auch oft zum Thema ihrer Songs machte: die 2010 verstorbene Lhasa de Sela. In deinen spanischen Songs entdecke ich da eine Verwandtschaft.
Ribera: Es gibt so viele Künstler, die mich beeinflusst haben. Aber bei Lhasa ist das nicht so offensichtlich, weder was die Performance noch das Songschreiben angeht. Ihr zweites Album The Living Road hat mir sehr gefallen, aber ihr Einfluss in meiner Musik hat sich erst nach ihrem Tod herauskristallisiert, als ich nach Montreal zog und dort viele Menschen aus ihrer Umgebung traf und zufällig mit einigen ihrer Musiker arbeitete. Der Produzent von La Boca, Jean Massicotte, ist ja der gleiche wie der von The Living Road.
Du hast die Songs auf Reisen durch Spanien, Schottland, die Slowakei und Frankreich geschrieben – klingt das Album also nach Europa?
Ribera: Es ist lustig, denn ich habe nie viel darüber nachgedacht, dass die Songs in Europa entstanden sind. Aber dann kamen Leute in Toronto auf mich zu und sagten: Dein Album hat eine wirklich europäische Stimmung! Ja, ich glaube, dieses Element steckt drin, die Energie von jemandem, der ein Ausländer ist, und in dieser fremden Umgebung hyperaufmerksam und wach ist, denn es strömt soviel Stimulanz auf ihn ein: die Architektur, das Visuelle, die Spiritualität, die Gefühle. Wenn du reist, dann durchtränkt eine Magie alles, was normalerweise die alltägliche Aktivität wäre. Das bringt diesen Funken hervor, der letztendlich das ist, worüber ich schreibe, wonach ich Ausschau halte.
Was hast du denn an Einflüssen von deinem argentinischen Vater mitbekommen, stecken da irgendwelche Rhythmen wie die Chacarera oder der Chamamé in deiner Musik? Es gibt ja ganz ausgefeilte Percussionspuren in etlichen Stücken.
Ribera: Ich muss ganz ehrlich sein: Weil ich Halbargentinierin bin, werde ich oft nach dem Einfluss südamerikanischer Wurzeln auf meine Musik gefragt. Aber viele von uns mit südamerikanischen Eltern wurden mit Nescafé statt Mate-Tee erzogen und nicht mit Mercedes Sosa, sondern mit Julio Iglesias und den Gypsy Kings. Ich fürchte, da muss ich euch enttäuschen, aber das ist die Wahrheit. Ich wünschte, ich könnte erzählen, dass ich in den Anden aufgewachsen bin und immer einen Poncho getragen habe, aber so war es nun mal nicht! Viel über lateinamerikanische Künstler habe ich selbst herausgefunden, denn mein Vater war ein großer Jazzfan, der eher Louis Armstrong aufgelegt hat als Folklore. Ich bin ganz natürlich angezogen worden von der Folklore. Doch für die Perkussion, die man auf dem Album hört, ist der Produzent Jean Massicotte verantwortlich .Wir haben sehr früh entschieden, dass wir keine Drums auf dem Album wollen. Ich glaube, wir haben auf wirklich jedes Objekt im Studio mindestens einmal draufgehauen, Ventilatoren, Wände, Heizung, Lampen mit Sticks bearbeitet.
Hast du beim Schreiben schon Arrangements in deinem Kopf gehabt?
Ribera: Nein, da habe ich Jean Massicotte wirklich freie Hand gelassen. Ich hatte mich verliebt in das Universum, das er auf La Forêt Des Mal-Aimés von Pierre Lapointe, The Living Road von Lhasa und Close To Paradise von Patrick Watson kreiert hatte. Ich wusste, dass da etwas in meinen Songs ist, was zu diesem Universum passt, aber wusste auch, dass sie trotzdem noch meine Songs bleiben würden. Wir arbeiteten die meiste Zeit zusammen, aber die Arrangements stammen von ihm.
Du lebst jetzt in Paris, aber die Musiker auf dem Album sind alle Kanadier?
Ribera: Um das Album aufzunehmen, zog ich von Toronto nach Montreal. Jean und ich arbeiteten sehr langsam, wir gaben uns viel Zeit, ein ganzes Jahr hat es gedauert, bis es fertig war. Wir haben es lange mariniert und vor sich hin köcheln lassen. Alle Musiker stammen aus Montreal. Yves Desroiser, der alle Songs auf Lhasas La Llorona geschrieben hat, spielt fast alle Gitarren, Mario Légaré, der ebenfalls mit Lhasa gearbeitet hat, spielt auf „Un Cygne, La Nuit“ Kontrabass. Claudio Palomares ist dabei, ein fantastischer Perkussionist, der ursprünglich aus Mexiko kommt. Jean Massicotte selbst spielt Piano und eine Menge anderer Instrumente, und ich hatte einen fantastischen Bassisten namens Bryan Kobayakawa aus Toronto. Das Album ist ein eigenes Universum. Wenn ich dagegen live spiele, dann ist es sehr reduziert, nur mit Bass und Gitarre. Sehr intim, ganz andere Versionen, die gestalte ich mit zwei Musikern aus Paris.
Deine Lyrics sind auf Englisch, Französisch und Spanisch. Ich habe den Eindruck, dass du fast deine Persönlichkeit wechselst, je nachdem, in welcher Sprache du singst…
Ribera: Ich will das eigentlich gar nicht (lacht). Ich denke, da ist was dran, dass eine Sprache in deinem Körper widerhallt. Es verändert deinen Ausdruck. Alle Synapsen sind mit den Muskeln verbunden, mit den Gefühlen. Wenn du die Stirne runzelst, und im gleichen Moment versuchst hochzuschauen, dann ist das wirklich sehr schwierig. Ein bisschen ist es so, wenn ich versuche auf Spanisch zu singen ohne meinen tiefsten Stimmenregister zu verwenden. Ich fühle, dass da eine richtig männliche Energie durchkommt. Wenn ich dagegen auf Französisch spreche, dann geht meine Stimme nach oben, sie wird mädchenhaft, denn ich bin dann immer nervös und denke, ich mache Fehler. Es ist ziemlich faszinierend, wie verschiedene Sprachen verschiedene Persönlichkeiten in uns unterstützen und hervorbringen. Das Ganze ist immer da, aber es fällt dann immer mehr Licht auf eine bestimmte Stelle.
Wenn du auf der Bühne stehst, dann hast du eine sehr reiche Mimik und Gestik, man könnte fast denken, du hast Theatererfahrungen.
Ribera: Nein, ich habe keine Erfahrungen mit dem Theater. Ich habe das selbst gar nicht wahrgenommen, bis ich vor vier Jahren ein Video sah, das jemand aufgenommen hat. Und dann dachte ich mir: Wow, das mache ich? (lacht) Das ist ein bisschen peinlich! Ich bin sehr expressiv und mit meinen Händen und Füßen passieren viele Dinge, wenn ich auf der Bühne bin. Die Leute, die in meinen Shows in der ersten Reihe sitzen sagen mir, dass sie nur meine tanzenden Zehen anschauen, denn ich bin immer barfuß, ich kann es nicht aushalten, da oben Schuhe zu tragen. Da gibt es etwas, was ich während des Singens nicht kontrollieren kann. Es gibt da eine Stelle in dem Khalil Gibran-Gedicht über die Kinder, wo er sagt: „Sie kommen durch euch, sind aber nicht von euch.“ So fühle ich mich hinsichtlich meiner Songs, wenn ich schreibe und auch während der Performance. Es ist, als ob ich ein bisschen in Trance gehe, die Musik geht durch mich und was ich mit meinem Körper mache, gerät ein bisschen außer Kontrolle.
Lass uns über die Songs sprechen. Im Titelsong gibt es die Zeile: „you were swallowed up in the mouth of a whale for a year of my life“. Das ist eine Metapher, nehme ich an?
Ribera: Ja, für den Instinkt, für Intuition. In der National Geographic las ich einen Artikel über den Wostok-See, den die Russen in den 1960ern entdeckten, als sie in der Antarktis nach Öl bohrten. Dieser See, der unter dem Eis liegt, so groß wie der Lake Ontario, und der möglicherweise all die Geheimnisse über die Erde enthält, vielleicht sogar prähistorische Bakterien und Lebewesen. Das Dilemma war: Wie bohren wir 300 Meter unter dem Eis in ihn hinein, ohne ihn zu verschmutzen, denn er war ja seit Ewigkeiten nicht mehr mit Sauerstoff in Berührung gekommen. Und die Idee, in etwas einzudringen, die Weisheit von etwas zu entnehmen, das so kostbar ist, ohne es zu verschmutzen, das ließ in meinem Kopf dieses Bild von den Lebewesen entstehen, die seit Millionen von Jahren im Dunkeln gelebt hatten. Plötzlich hören sie das Geräusch des Bohrers und werden sich bewusst, dass es ein Leben da draußen gibt und sie folgen den Flüssen im Untergrund bis zur Mündung in den Ozean.
Wow, das ist tiefsinnig.
Alejandra Ribera: „La Boca“
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Ribera: Ich hoffe, es klingt nicht schizophren!
Eigentlich nicht! In „Goodnight, Persephone“ erzählst du von der griechischen Göttin der Unterwelt, aber dann kommt plötzlich ein irischer Dudelsack rein. Eine geheime Verbindung vom antiken Griechenland zu den Kelten?
Ribera: Es war Herbst, fast schon Winter, als ich den Song schrieb. Ich mache immer eine schwierige Zeit durch im Winter, besonders wenn es so ein langer, kanadischer ist. Ich stellte mir vor, wie ich als Persephone für die nächsten sechs Monate in die Unterwelt absteigen würde, und wie ich in der Dunkelheit da unten überleben sollte. Als Jean Massicotte und ich an diesem Song arbeiteten, entdeckten wir, dass wir beide schottische Wurzeln haben und beide Dudelsack lieben. Wir schauten uns an und sagten zueinander: „Meinst du, dass werden sie uns verzeihen?“ Denn es gibt so viele Leute, die Dudelsäcke inständig hassen. Und wir beschlossen: „Egal, lass es uns tun!“ Die Session mit dem Dudelsackspieler Jérémy Tétrault-Farber wurde dann die intensivste, berührendste, die wir überhaupt hatten, wir weinten beide, als er anfing zu spielen. Es gibt also kleine clevere Verknüpfung zwischen griechischer Sagenwelt und Dudelsack, es war einfach eine Wahl bei der wir uns sagten: Das wird unsere Herzen zum Singen bringen!
Ich glaube, seit Sting mit einer Dudelsackspielerin gearbeitet hat, muss sich niemand mehr für das Instrument schämen.
Ribera: Genau. Wenn Sting das kann, kann ich das auch!
Dann gibt es den spanischen Song „No Me Sigas“. Klingt fast wie ein Gangstermovie. „Folge mir nicht“. Wer ist da auf der Flucht?
Ribera: Ich verrate dir ein Geheimnis. Ich bin nie besonders gut darin gewesen, über Liebe zu schreiben. Die romantische Liebe meine ich. Als ich diesen Song schrieb, war ich gerade auf dem Scheitelpunkt einer Trennung, und da ging es um eine der wichtigsten Beziehungen in meinem Leben. Ich war gerade in Spanien und profitierte davon, dass ich mehr Übung in der Sprache bekommen wollte. In sehr direkter Weise versuchte ich also auf Spanisch auszudrücken, was ich empfand, aber eben versteckt, denn ich lebte in Kanada und wusste, dass dann nicht viele Leute dort meine Geschichte verstehen würden. Kurz vor dem Ende der Beziehung ging ich also für ein paar Wochen nach Spanien, um meinen Kopf frei zu bekommen und mir darüber klar zu werden, was ich mit der Situation anfangen sollte. Die Stimmung des Songs ist wirklich: „Ich muss weggehen, ich muss in die Berge gehen, im Meer umherwandern, ich muss mich ein bisschen verlieren, und alles, worauf ich hoffen kann, das ist, dass du mir vergibst.“
Du hast gerade gesagt, du wolltest Übung im Spanischen bekommen. Wurdest du nicht zweisprachig erzogen?
Ribera: Nein, wir zogen nach Argentinien, als ich zwei oder drei war, Spanisch war also in gewisser Weise meine erste Sprache. Aber es hat dort nicht so geklappt, wie es sollte, wir kamen zurück und als meine Eltern sich trennten, war das Spanische nicht mehr in unserem Haus. Es hat mich viel Zeit gekostet, diese Texte auf Spanisch zu schreiben, ich musste meinen Freunden viele Grammatikfragen stellen. Die Aussprache ist sehr einfach für mich, aber ich spreche es nicht fließend.
„Bad Again“ erinnert mich an Dinah Washington, ihre frechen, verruchten Songs. Es könnte eine Kreuzung aus „Evil Gal“ und „Drinking Again“ sein.
Ribera: Es ist ein wenig augenzwinkernd gemeint. Ich habe mir eine alte, fertige, verbitterte Drag Queen vorgestellt, die rauchend vor dem Spiegel der Eitelkeiten sitzt und ihr Make-Up auflegt. Ich fühlte mich auch mal fertig und verbittert, aber ich wusste, dass das lächerlich war, denn ich war Anfang zwanzig. Du hast eine Woche lang zuviel getrunken und bist mit jemandem rumgezogen, der überhaupt nicht gut für dich war. Und nachher sagst du dir: „Ich wusste, dass mir das alles nicht gut tun würde. Warum habe ich das bloß gemacht? Jetzt bin ich verkatert von der Liebe, von Drogen, vom Alkohol.“ Ich pflege diesen Song während meiner Konzerte anzukündigen als: „Das ist ein Stück über meinen Ex-Boyfriend Jack Daniels, wir sprechen nicht mehr miteinander, denn ich hatte eine Affäre mit seinem Cousin dritten Grades Jim Beam und kann nicht zurück.“
Der Song „I Want“ hat für mich Radiohit-Qualitäten. Es gibt da die großartige Zeile „take these seeds and burn them all, so they don’t take root in me“. Geht es darum, alle Brücken abzubrechen, einen Neustart zu wagen?
Ribera: Diese Zeile im Besonderen ist von meiner Cousine in Kanada beeinflusst. Sie ist eine wunderbare Frau, die mit Jugendlichen arbeitet, die mit intensiven emotionalen Problemen konfrontiert werden. Kinder, die im Gefängnis waren zum Beispiel, oder missbraucht worden sind. Sie geht mit ihnen für zehn Tage raus in die Wälder. Sie bringt ihnen bei, wie man campt, wie man überlebt, und sie haben viele Zeremonien. Bei einer davon nehmen sie Samen, die sie verbrennen, die Samen symbolisieren die Dinge, die in ihrem Leben nicht mehr aufkeimen sollen, die schlechten Gewohnheiten, die negativen Gefühle und Glaubenssätze. Ich habe diesen Song nach dm Ende der schon angesprochenen Beziehung geschrieben, als ich ausgelaugt und traurig war. Da habe ich meine Bratschenlehrerin aus der Jugend angerufen, die jetzt einfach ein guter Kumpel ist, und ich sagte zu ihr: „Ich kann mich nicht hinsetzen und schreiben, jedes Mal fange ich an zu weinen.“ Und sie sagte: „OK, wenn du nicht über das schreiben kannst, was du gerade durchlebst, dann schreib‘ über das, was du leben willst, auf was du dich freust.“
Und man kommt sehr leicht in diesen Song rein, weil er am Anfang eine große Wärme und zugleich Weite verströmt, da ist dieses schöne Knistern…
Ribera: Ja, Jean hat da ein Sample von einer Streicheraufnahme genommen, und die Platte war verkratzt.
Außerdem gibt es im Refrain einen Sound, der sich anhört wie ein Handy, das im Stumm-Modus einen Anruf erhält.
Ribera: Oh, keine Ahnung. Muss ich mir nochmal anhören. Das könnte ein elektronischer Bass sein, der wie eine indische Tabla klingt. Ich sage ja, wir haben eine Menge Sounds reingequetscht!
Mein Lieblingssong ist „St.Augustine“…
Ribera: Ehrlich? Meiner auch, der bedeutet mir so viel.
Aber ich kann mir keinen Reim auf den Text machen. St. Augustine könnte ein Stadtteil von Toronto sein, aber dann gibt es im Text ja noch die Emerald City, die ich nur aus dem Zauberer von Oz kenne…
Ribera: OK, also: Ich las die Bekenntnisse des Heiligen Augustinus, zu einer Zeit, als ich mich sehr verloren und niedergeschlagen fühlte. Ich suchte nach einem Weg, wie ich mir selbst vergeben könnte, und was ich am allernötigsten brauchte, das war Glaube. Wenn ich schreibe: „Heiliger Augustinus, ich beneide dich, du hattest immer die Emerald City, nach der du streben konntest“, dann kam das aus dem Bedürfnis heraus, in igrendeiner Hinsicht Sicherheit, Geborgenheit zu spüren, auch wenn es nur eine imaginäre Burg im Himmel sein sollte. Es ist mein Lieblingsstück auf dem Album, das Stück, auf das ich am meisten stolz bin, und auf dem die Arbeit mit Jean Massicotte am gelungensten ist.
Ich finde die Stelle so grandios, wo dann die Tonart wechselt und ein Bläsersatz rein kommt, wie ein Choral.
Ribera: Es gibt Momente, in denen du Musik, die tatsächlichen Noten und Arrangements wie eine buddhistische Weisheit einsetzen kannst. Du nimmst die Botschaft und destillierst sie, so wie sie nicht erklärt, sondern nur gefühlt werden kann. Da musst du lange drüber brüten. Für mich ist dieser Teil mit den Bläsern wie die Unterströmung einer Welle, die dich von hinten erfasst, dich hochhebt und dich mitnimmt. Vielleicht gerätst du unter die Welle, vielleicht schaffst du es, oben zu bleiben. Aber die ganze Sache bleibt immer in Bewegung. Ob du also in einem Zustand von Freude oder von Traurigkeit bist, er wird nie permanent sein. Wo immer du auch bist, Darling, in fünf Minuten wirst du nicht mehr da sein!
Alejandra Ribera: „St. Augustine“ (Live)
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Wir müssen natürlich noch über „Night Swan“ reden, den englisch-französischen Song mit Arthur H. Der klingt für mich wie ein sehr reduziertes Lied von Schubert, oder auch ein bisschen nach Satie.
Ribera: „Un Cygne, La Nuit“ ist der wichtigste Song auf dem Album. Wie fange ich an, über den zu sprechen? Ok. Ich spiele überhaupt kein Klavier. Als ich mal für ein paar Wochen ins Krankenhaus musste, gab es da ein Piano, und ich hatte das dringende Bedürfnis, einen Song zu schreiben. Mein Minimalismus ist nicht von großen Komponisten beeinflusst, sondern von meiner fehlenden Kenntnis, wie ich das Instrument spielen soll. Dieser Song musste am Klavier geboren werden, denn er brauchte viel Raum. Es geht darum, jemanden in der letzte Woche seines Lebens zu begleiten. Es war ein Freund, der Engländer war, aber auch in Quebec lebte, also sowohl Englisch als auch Französisch sprach. Als ich nach Montreal zog, traf ich Arthur H dort, wir sind beide bei einem Tributkonzert für Lhasa aufgetreten. Ich verliebte mich total in seine Stimme. Mein Produzent Jean Massicotte hat früher zwei seiner Alben produziert und ich sagte zu Jean, dass ich sehr gerne mit Arthur meinen Song im Duett singen würde.
Das Album klingt auch sehr zurückhaltend aus, mit „500 Miles“ von The Proclaimers, allerdings erkennt man den Hit kaum wieder.
Ribera: Da gab es einen Freund, der zu jedem meiner Konzerte in Montreal kam, und er sagte zu mir: „Alejandra, du hast argentinische und schottische Wurzeln, du singst auf Spanisch, aber du hast nie einen schottischen Song interpretiert“. Und ich fragte ihn: „Was für einen schottischen Song soll ich denn spielen?“ Er meinte: „Die Proclaimers, jeder liebt sie!“ Und ich: „Das ist Popmusik, ich kann nicht auf und abhüpfen während meiner Show.“ Ein Jahr später heiratete dieser Freund, und er und seine Zukünftige luden mich ein, ein paar Stücke bei der Hochzeit zu singen. Ich überlegte mir „500 Miles“ zu singen, da er diesen Song ja so mag, aber ich hatte keinen Schimmer, wie ich ihn interpretieren sollte. Meine einzige Chance es zu tun, war ihn dramatisch zu verlangsamen, denn ich bin überhaupt keine gute Gitarristin. Sobald ich das tat, traf mich der Song mit aller Wucht und ich merkte, wie wunderschön die Lyrics sind, die gehören ja zu den schönsten Liebesliedtexten, die ich je gehört habe. Und dann fing ich an, ihn in meine Shows einzubauen.
Alejandra, ganz herzlichen Dank für dieses lange und tiefgreifende Interview!
Alejandra Riberas Album La Boca ist auf Jazz Village/Harmonia Mundi erschienen.
Mehr Infos auf ihrer Website.
© Stefan Franzen