Bom dia, Carminho. Für Ihr drittes Album „Canto“ haben Sie sich vom Fado etwas entfernt. Sie widmen sich der portugiesischen Folklore und arbeiten mit brasilianischen Künstlern. Welche Idee steckt hinter diesem Schwenk?
Carminho: Für mich ging es auf der neuen CD darum, die Wurzeln meines Seins, aber auch des Fados und der traditionellen portugiesischen Musik zu untersuchen. Ich bin in Lissabon geboren, aber auf meinen Reisen hatte ich viele Begegnungen, die mich beeinflusst haben. Es ist mir eine Ehre, dass die brasilianischen Künstler sich auf meinen Gesang eingelassen haben und Teil haben an diesem portugiesischen Universum. Es entstand eine natürliche Einigkeit zwischen uns, Portugal und Brasilien sind ja auf ewig miteinander verbunden, allein schon durch die Sprache.
Eine der Gastsängerinnen auf dem Album ist Marisa Monte, mit der Sie „Chuva No Mar“ im Duett singen. Mir kommt es vor, als sei besonders dieses Lied geeignet, die Brücke über den Atlantik zu zeigen.
Carminho: Das Werk von Marisa Monte hat mich schon beeinflusst, bevor ich ahnte, dass ich sie kennenlernen würde. Und dann gab es diesen unglaublichen Augenblick der Begegnung. Wir hatten die Idee, ein unveröffentlichtes Lied von Marisa zu suchen, das in meine Platte einfließen sollte. In ihrer Schatztruhe fanden wir eine poetische Komposition. Marisa sagte: „Ich habe das Gefühl, dass dieses Lied zu dir wollte.“ Es hat einen sehr tiefgehenden Text und ist trotzdem sehr schlicht.
Sie haben auch einen Text vom großen Caetano Veloso aufgegriffen. Hat er ihn eigens für Sie geschrieben?
Carminho: Caetano wurde mir backstage bei einer Preisverleihung in Brasilien vorgestellt. Unsere Freundschaft ist in vielen Gesprächen gewachsen, wir haben eine große Offenheit und Bewunderung füreinander. Das Lied ist eine Gemeinschaftsarbeit zwischen ihm und seinem Sohn Tom, ich habe mich total in es verliebt. Und dann nahm ich mein Herz in die Hand und fragte ihn, ob ich es aufnehmen dürfte. Es bekam bei mir eine sehr portugiesische Färbung und Caetano meldete mir zurück, dass er es toll findet, wie ich es in einen Fado verwandelt habe.
Ihr neues Repertoire ist nicht nur brasilianisch geprägt, sondern auch rhythmischer als die Lieder der ersten beiden Platten. Wollten Sie eine erdigere Note in Ihr Werk einbringen?
Carminho: Es stimmt, diese Platte hat mehr Perkussionsanteile. Ich habe erkannt, dass in meinen Wurzeln mehr drinsteckt als die große Liebe zum Fado. Ich habe gewissermaßen meinen künstlerischen Embryo entdeckt. Und das sind die Janeiras und Corridinhos aus dem Algarve, wo ich selbst viele Jahre gelebt habe. Die Lieder aus dem Alentejo und den Beiras, die Perkussion der Adufe-Trommel und anderen Instrumenten der portugiesischen Volksmusik, Akkordeon, und unsere Ukulele, das Cavaquinho. Ich fühle mich verpflichtet, diese Traditionen aufrecht zu erhalten.
Zum ersten Mal haben Sie auch selbst Lieder geschrieben. Zum Beispiel das schöne „Andorinha“, das „kleine Schwalbe“ bedeutet. Was hat es mit diesem Vogel auf sich?
Carminho: Ich bin stolz drauf, dass ich jetzt auch meine eigenen Stücke vorstellen kann, denn ich bin in einem Prozess des Wachstums, habe mehr Selbstvertrauen und große Lust darauf, zu zeigen, dass ich auch Komponistin bin. „Andorinha“ war tatsächlich das erste Lied, das ich geschrieben habe. Musik und Text kamen zeitgleich, während ich sang. Ich habe lange über den Text gegrübelt und dabei gemerkt, dass ich ein Motiv gefunden habe, das der portugiesischen Folklore sehr verwandt ist. Wir sind die Schwälbchen, die auf der Suche nach dem Frühling des Lebens sind. Es geht darum, immer wieder Kraft zu schöpfen, um das Wiederbeleben von guten Momenten, die einmal waren. Denn der Herbst ist das Symbol für schwerere Zeiten. Mit diesem immer wiederkehrenden Frühling können wir dem Herbst begegnen.
Können Sie beschreiben, wie Sie Ihre individuelle Stimme, Ihr Timbre gefunden haben? Haben Sie eine spezielle Fado-Gesangsschule besucht, lernt man eine bestimmte Technik?
Carminho: Im Fado geschieht alles mündlich, es gibt keine Bücher, Schulen oder eine bestimmte Gesangstheorie. Aber natürlich hat die Form ganz spezifische Eigenheiten. Man lernt den Fado wie man seine Muttersprache lernt. Ich weiß nicht, wie oder wann ich angefangen habe, Portugiesisch zu lernen, genauso ist es mit dem Fado. Einen Moment, von dem ab ich eine bestimmte Technik benutzt habe, kann ich nicht festmachen. Es ist etwas Angeborenes, ein Teil von mir.
Sie sind in einer musikalischen Familie aufgewachsen. Haben Sie jemals gegen den Weg rebelliert, eine Fadista zu werden?
Carminho: Ich mochte den Fado schon immer, dachte nie daran, dass meine Freunde es komisch finden könnten, dass ich Fado mag. Und ich war nie eine Rebellin. Nie wollte ich gegen den Weg aufbegehren, den meine Eltern gingen, aber ich war auch niemand, der einfach blind folgte. Ich wusste immer sehr genau, was ich wollte, an was ich glaubte, welche Platten ich hören wollte, als ich sieben, acht Jahre alt war. Nie haben mir das meine Eltern auferlegt. Meine Mutter, selbst Fadista, war eine große Hilfe, eine große Kritikerin und eine große Referenzgröße für meine Arbeit, sie half mir, das zu spiegeln, was ich sein wollte.
Es existiert ja das Klischee vom Fado als einem traurigen Gesang, in dem es immer nur um Schmerz, Verlust, Kummer und gebrochene Herzen geht, aber es gibt ja auch viele fröhliche Fadokompositionen…
Carminho: Der Fado bildet musikalisch die Seele des portugiesischen Volkes ab. Die Portugiesen sind melancholische Menschen und leben ihre Gefühle in einer sehr tiefen Art und Weise. Ich stimme zu, dass der Fado nicht immer traurig ist, aber ausgelassen ist er auch nicht. Er ist ein Spiegel der Gesellschaft, und das seit 200 Jahren. Der Fado erzählt viele Geschichten, von Leidenschaften, Trauer, Enttäuschungen, und er beschreibt auch Szenen aus Lissabon wie die Feste der Volksheiligen im Juni, denen ganz bestimmte Märsche zugeordnet werden.
Für eine Fadista von so hoher Reputation sind Sie noch eher jung. Es gibt die Meinung, dass die vielschichtigen und dunklen Verse der Fadodichtung erst mit einiger Reife verstanden werden können – Sie scheinen diese These zu widerlegen.
Carminho: Wir alle, ob wir 20, 30 oder 90 sind, haben Erfahrungen in unserem Leben gemacht, und über dieses Leben singe ich. Es geht nicht darum, ob ich in einem so jungen Alter schon allen Zwist, alle Leidenschaften durchlebt habe. Für mich ist wesentlich, dass der Fado aufrichtig ist, in dem Moment, in den ich ihn im Konzert singe. Ob ich diese Gefühle ans Publikum weitergeben kann, auch wenn die Sprache nicht dieselbe ist. Es gibt natürlcih auch Fados, für die ich noch nicht bereit bin, und für die ich vielleicht nie bereit sein werde und die Teil eines Universums sind, das nicht das meine ist.
Wie haben sich die Texte des Fados über die Jahrzehnte verändert?
Carminho: Die wichtigsten Themen des Fado sind das Herz, die Gefühle, das Wesen des Menschen, der, ganz egal von wo auf der Welt er stammt, ähnliche Gefühle hat. Manchmal geben wir ihnen verschiedene Namen, aber die Gefühle sind die gleichen. Die Themen des Fado haben immer mit der Liebe zu tun gehabt, mit der Enttäuschung, der Leidenschaft, dem Schmerz. Auf der anderen Seite ist der Fado auch ein sozialer Aufschrei, ein Ausdruck der Gesellschaft und deshalb werden die Themen sich mit der Zeit ändern.
Der Fado hat im 20. Jahrhundert seine Höhen und Tiefen gehabt, und er wurde zwischendurch auch als reaktionär angesehen. Würden Sie sagen, es gibt heute gerade auch bei der Jugend ein verstärktes Interesse am Fado?
Carminho: Die jungen Portugiesen hören Fado und sie tun das immer mehr. Das ist die Frucht der Arbeit einer neuen Generation, die sich dem Fado in sehr intensiver Weise verschrieben hat. Es ist wie ein Motor, der immer mehr an Kraft gewinnt. In dieser Phase, die unser Land gerade durchlebt, mit all den Schwierigkeiten, ist es notwendig, dass die Jungen auf die Suche nach ihren Wurzeln und ihrer Identität gehen. Wir sind ein kleines Land, und die Waffe, mit der wir in der Welt kämpfen können, ist unsere Einheit. Je einiger wir sind, desto besser sind wir, und das ist wichtig zu einem Zeitpunkt, zu dem wir in Portugal und in der Welt viel Feindseligkeit erleben.