Pedro Canale alias Chancha Via Circuito ist einer der originellsten Kreativköpfe der argentinischen Digital Cumbia-Szene, die dort Cumbia Villera heißt und auf die sich das Label ZZK Records spezialisiert hat. Eine der frühen Inspirationsquellen von Canale waren die lärmenden, schepprigen, holpernden Zugfahrten vom Zentrum Buenos Aires‘ in den Vorort Bernal, wo er elektroakustische Musik studierte – Chancha Via Circuito ist zusammengesetzt aus dem Kosenamen für die Lokomotive (Chancha = Schwein) und der Bezeichnung der suburbanen Bimmelbahn. Die futuristisch-folkigen Tracks auf seinen bisher drei Alben aus Keyboard- und Percussion-Textur sowie Vokalspuren von Gastsängerinnen beherbergen heute zwar auch noch Cumbia-Rhythmik. Man kann aber ebenso andinische Melodien und Instrumente darin finden, Afro-Elemente oder das uruguayische Karnevalsgenre Murga. Der Mann ist außerdem als Remixer begehrt, etwa für das Gotan Project oder das niederländisch-südafrikanische Electro-Duo Skip & Die. Hätten Kraftwerks Latin-Zwillinge den Soundtrack zu HerzogsFitzcarraldo geliefert – und hätte der nicht ein Schiff, sondern einen Zug gesteuert!) – dann hätte sich das vielleicht so angehört.
Chancha Via Circuito: „Cumbion De Las Aves“
Quelle: youtube
Die Molkerei ist fast zum Bersten voll – alle sind sie gekommen, um den neuen Orpheus zu sehen, diesen 27 Jahre jungen Nordlondoner ghanaischer Herkunft, der aus seiner Heimat aufbrach, um in Paris sein Glück zu machen. Zu absonderlich war es in Edmonton gewesen, dass ein schwarzer Junge sich für die Klänge von Erik Satie, Giacomo Puccini und Claude Debussy begeisterte, im Klavierspiel seine Zuflucht suchte. Von der Métro hat sich Benjamin Clementine nun bis auf die Weltbühne gespielt – nicht nur mit dem Piano, auch mit einer Stimme, die in ihrem Timbre an Scott Walker und Antony Hegarty erinnert, in ihrer melancholischen Verzweiflung an Nick Drake.
Nur sein Flügel nimmt die Bühne ein. Der hochgewachsene Mann mit kantigem Afro und gehrockartigem Anzug über der nackten Brust sitzt auf seinem hochgeschraubten Hocker in der Vogelflugperspektive über den Tasten. Die Klassik hat er für sein Universum adaptiert, rollende Arpeggien hier, zarte Triller da, doch die Struktur der Songs, sie ist reiner Pop. Wären da nicht die Geschichten, die er erzählt, von London, das ihn obsessiv verfolgt, von der Steinbox, in der er an Einsamkeit fast verendet, vom triumphalen Sieg über die Angst, der er ein Kondolenzschreiben schickt. Denn diese Geschichten sprengen jedes Versmaß, ihnen muss sich der Verlauf des Stückes beugen, und manchmal berichtet der Dichter gleich mit Sprechstimme weiter, lässt den Song innehalten.
Diese Stimme, sie glimmt verletzlich im engelsgleichen Falsett, sie donnert soulig, manchmal trotzig in den tieferen Lagen. Sie ist einzigartig, und die Straßburger lauschen gebannt, brechen in frenetische Sympathie aus, wenn der letzte Akkord verklingt. Macht Clementine Ansagen, flüstert er allerdings so krankhaft schüchtern, dass man ihn nicht versteht. Oder kokettiert er mit seiner Unnahbarkeit? Frei von Prätention ist das, was sich da auf der Bühne abspielt nicht: Sein Schweigen vor den Stücken, um den Genius herabzurufen, das Kreisen der Finger über der Taste, das Zelebrieren von schlichten Halbtonrückungen. Dass ihn bei manchen Stücken dann die Cellistin Barbara Le Liepvre begleitet, meist mit warmen Liegetönen, manchmal auch mit gerupften Staccati, macht das Klangbild zwar angenehmer, führt aber auch in die Nähe eines klischierten Schönklangs, der seinen Songs die Intensität nimmt. Als er Nick Drakes „River Man“ covert, seine einzige Adaption, funktioniert das nicht. Man fühlt, seine eigene Musik ist schon einen Schritt weiter, jeder Rückverweis auf seelenverwandte Weltverzweifler überflüssig.
Wenn Pop und Klassik sich treffen, kann das genauso abgründig wie gekünstelt enden. Benjamin Clementine könnte einen Brückenschlag etablieren, der mehr als ein flüchtiger Flirt bleibt. Meine größte Befürchtung: Dieser Mann ist von seiner geheimnisvollen Anmut geradezu prädestiniert dazu, dass er nicht nur von der Musik- sondern auch der Modeindustrie in Beschlag genommen wird. Hoffentlich strahlt er uns demnächst nicht von einem Yves Saint Laurent-Werbeplakat entgegen.
Astronomisch gesehen sind diese Tage ja äußerst spannend. Nach der SoFi vom Freitag folgt hier die Sophie, die in wenigen Wochen ihr neues Album Supermoon veröffentlichen wird, passend zu den sechs Supermonden, die es in diesem Jahr gibt (einer davon war parallel zur Sonnenfinsternis).
Der Song, den ich für die Side Tracks ausgesucht habe, stammt allerdings noch vom Album 1983. Zum starken Bild eines Zuges, in dem wir alle zusammen sitzen, und den wir nicht mehr anhalten können, obwohl wir wissen, dass wir das dringend müssten, wurde sie während der Finanzkrise inspiriert. Man kann das Bild auch auf die Klimakatastrophe übertragen. Oder auf den religiösen Fundamentalismus. Zum Aussteigen ist es wohl zu spät. Ihr Landsmann Friedrich Dürrenmatt wusste dazu in seinem Tunnel: „Gott ließ uns fallen, und so stürzen wir denn auf ihn zu.“
Die beiden Live-Versionen sind so faszinierend, weil sie so unterschiedlich sind. Die Pause am Ende des La Cigale-Konzerts hat schon Popgeschichte geschrieben. Dass ein Publikum eine ganze Minute den Atem anhält, das schafft niemand außer ihr.
Sophie Hunger: „Train People“ (live at La Cigale, Paris)
Quelle: youtube
Sophie Hunger: „Train People“ (live für ZEIT online)
Quelle: ZEIT online
Am 4.1.2011 konnte man reinschauen, es war milchig-bewölkt. Bitte heute nicht nachmachen! Meine psychedelische Begleitmusik zur SoFi kommt vom großartigen Arrangeur Charles Stepney, der sie für eines der großen Soul-Orchester der 1970er geschrieben hat.
Rotary Connection: „I Am The Black Gold Of The Sun“
Quelle: vimeo
…und so war’s heute gegen 10h30. Brille auf die Linse gepresst und erstaunlich gutes Ergebnis.
Ich liebe dänische Schriftzeichen. Aber nicht nur deshalb soll das Album hier vorgestellt werden. Harald Haugaard ist der künstlerische Leiter des großartigen Festivals FolkBaltica und hat nebenbei noch Zeit gefunden, in seiner Eigenschaft als famoser Violinist Lys Og Forfald einzuspielen – ein Meilenstein des zeitgenössischen skandinavischen Folks. Haugaard und seine Band sind Meister darin, sich von der Tradition der Heimat inspirieren zu lassen und feine Akustiktexturen mit Cello, Flöte, Mandoline, Gitarren, Flügel und der hellen Stimme von Helene Blum zu schaffen. Dabei hat Haugaard einen so klaren Ton auf seinem Instrument, wie man ihn eigentlich nur von klassischen Geigern kennt. Beglückender, fließender Nordic Folk, dem nur noch ein Gastauftritt der Fraunhofer Saitenmusik das glitzernde Krönchen aufsetzt. Diese feine Musik lässt sich übrigens auch mitten im Schwarzwald erleben, am 21.3. auf dem Klausenbauernhof in Wolfach.
An diesem Samstag (14.3.) wird sie ihre Tournee in Neuves-Maisons bei Nancy starten. Es wird ihre letzte sein, Juliette Gréco hat mit 88 Jahren ihren Rückzug von der Bühne bekannt gegeben. greenbeltofsound schaut mit sieben eher raren Chansons zurück auf eine 65-jährige Karriere.
Der schönste Soundtrack, den ich mir zum heutigen Weltfrauentag vorstellen kann. Die wunderbare Akua Naru, die ich vor einer Woche in Freiburg erleben konnte, spricht hier über den Text zu diesem starken Song. „Self-love ist the very first romance.“
Die Brücke, über die der Präsident heute ging, ist immer noch nach einem Ku-Klux-Klan-Führer benannt. Für den wirklichen Wechsel muss also weiter gesungen werden.
Melody Angel: „A Change Is Gonna Come“
Quelle: youtube
Africa Express presents In C Mali (Transgressive Records/Alive)
Normalerweise bin ich überhaupt kein Fan von den Dingen, die Damon Albarn in Westafrika treibt. Jetzt hat aber der von ihm mitinitiierte Tross namens Africa Express eine grandiose Platte veröffentlicht. Auf afrikanischen Instrumenten wird 50 Jahre nach ihrem Entstehen Terry Rileys Komposition In C nachmusiziert, unter die malischen Musiker hat sich auch Brian Eno gemischt. Von der Wesensverwandtschaft zwischen Minimal Music und afrikanischen Patterns profitierend bekommt der Klassiker eine organisch-erdige Glasur. Es macht einen Riesenspaß mitzuverfolgen, wie die Originalinstrumentation auf den Klangkosmos Malis übertragen wurde. Und man kann sich das in einer Liveversion aus der Tate Modern hier auch komplett anschauen.
Als Virtuose auf dem fünfsaitigen Kontrabass hat Renaud Garcia-Fons in der mediterranen Musik und im Jazz eine einzigartige Klangsprache entwickelt. Mit dem türkischen Streichlautenspieler Derya Türkan hat er sich nun zu einem besonders beglückenden Duo zusammengeschlossen. In vierzehn Klangtableaus ergänzen und umgarnen sich die beiden in grandiosen Konstellationen. Einmal liefert der Bass einen springenden Rhythmus, über dem die Istanbul-Kemence einen zart-rauchigen, obertonreichen Flug vollführt, wie in „A Girl From Istanbul“. Garcia-Fons wagt sich auch in Frequenzbereiche vor, die eher seinem Partner vorbehalten sind, etwa in „Kaman Tché“ – das macht die Interaktion umso reizvoller, die in der gegenseitigen Verzahnung in „Dokuz Sekiz“ auf die Spitze getrieben wird. Ganz intensiv wirkt die orientalische Tongebung im „Prayer Song“, in dem sich der Bass mit glühender, spiritueller Stimme erhebt. Ein wenig Alte Musik-Flair blitzt in der „Bosphorus Nostalgia“ auf, wenn sich Gast Claire Antonini an der barocken Theorbe hinzugesellt. Eine leidenschaftliche, imaginäre Folklore zwischen Nahem Osten, Bosporus und Mittelmeer.