Foto: Rob C. Croes, Creative Commons
Olivier Messiaen
Turangalîla-Sinfonie
Konzerthaus Freiburg 14/10/14
Keinerlei Beschränkung in Besetzung, Gattung und Dauer – eine traumhafte Vorgabe für einen Komponisten, die Serge Koussevitsky, der Chef des Boston Symphony Orchestra 1945 aussprach. Und was macht Olivier Messiaen? Er schreibt eine Sinfonie in 10 Sätzen für 100 Musiker, die ein 80-minütiges Liebeslied ist. Die Themenwahl könnte eine Plattitüde sein, sie erweist sich aber als das völlige Gegenteil davon, wie ich im Freiburger Konzerthaus feststellen durfte – berührt, ergriffen, aufgewühlt.
Konzeptalbum nennt man sowas in der Rockmusik, und würde man die Turangalîla auf Vinyl pressen, dann käme eine opulente Doppel-LP heraus. Die durchaus Charakterzüge von rockgleicher Wucht hat. Im riesigen Klangapparat – das Philharmonische Orchester Freiburg unter Fabrice Bollon musste ganz schön viele Gäste hinzukaufen – treffen in den Themen brüllende Fanfaren und sanftes Liebkosen aufeinander, ungestümer Frohmut und verzweifelter Schmerz. Ein Geflecht von verschiedenen rhythmischen Ebenen ist die Bühne für die Abwandlungen. Hinten scheint eine riesige Perkussionsabteilung nach den Prinzipien des indonesischen Gamelan zu funktionieren, vorne stößt der extrem physische Pianist (Florian Uhlig) an die Grenzen des Flügels, hämmert sogar auf dem Holz. Und das überirdische Wimmern und Glissandieren der Ondes Martenot, Opa aller elektronischen Instrumente (Fabienne Besnard)!
All diese Mittel waren Messiaen recht, um die kosmische Dimension der Liebe, ihre zerstörerische und heilende, ihre becircende und ihre grausame Seite zu zeigen. Und ihren Kampf gegen die Zwänge, Unwägbarkeiten und Lächerlichkeiten des Zeitlaufs. Das Orchester arbeitet all das so plastisch heraus, mit so großem Engagement in jeder Instrumentengruppe, dass es zum Niederknien ist. Im Publikum aber leichte Unruhe schon nach dem ersten Satz, vereinzelt entzücktes Seufzen, aber ich spüre auch wie Ratlosigkeit im Raum steht, ein Drittel der Plätze ist gleich leer geblieben.
Doch ich erlebe hier eine nicht kleine Offenbarung, die sich immer weiter steigert: Ein überschäumendes Scherzo hat einen Namen wie ein Klee-Gemälde: „Freude des Sternenblutes“. Und funkelt eruptiv wie ein Urknall. Im Zentrum dann ein Gebilde von unfassbarer Schönheit: „Garten des Liebesschlafes“, was sich natürlich auf Französisch viel besser anhört: „jardin du sommeil d’amour“. Umflattert von Myriaden feinziselierter Vogelgesänge liegt das Paar selig schlafend da und ist der Zeit entronnen. „Lasst sie uns nicht wecken“, schreibt Messiaen über diesen Klang gewordenen Kokon in Fis-Dur. Ich denke in diesem Moment kurioserweise an die Spiritualität von Van Morrison in seinem Song „In The Garden“: „Just you and me and nature, in the garden, wet with rain.“
Olivier Messiaen: Turangalîla-Sinfonie, VI
Quelle: youtube
Die größte Erschütterung folgt aber in der „Durchführung der Liebe“: Gewaltig zerdehnt in gefühltem zehnfachen Forte erscheint Wagners „Liebestod“-Thema. Das ist so elementar, dass es weh tut, jenseits von Gut und Böse, Shiva der Erschaffer und Zerstörer zugleich. Doch alles endet nach 80 Minuten – für mich sind die vergangen wie acht – „mit großer Freude“ (Anweisung Messiaen) im Finale rauschhaft, aber nicht kompromisslos bacchantisch wie in Ravels Daphnis Et Chloë. Dafür fehlte Messiaen vielleicht der dämonische Wesenszug.
Etwas betäubt verlasse ich den Saal, auch andere sehen mitgenommen aus. „Das war das entsetzlichste Konzert, das ich seit langem gehört habe“, so eine Frau in Hörweite zu ihrem Begleiter. Und auf ihre Weise hat sie Recht: Die Liebe ist das Erhabenste, aber auch das Erschütterndste. Genau das hat Messiaen auskomponiert.
© Stefan Franzen