Monty re-visits

Foto: Jean Baptiste Millot

Der neu aufgestellte Verein MPS-Studio e.V. blickt mit einem breiten Kulturangebot in die Zukunft. Zum dreijährigen Geburtstag kehrt ein Star der 1970er und 80er an die Wirkstätte in Villingen zurück.

Als führendes deutsches Jazzlabel hatte MPS weltweit einen klangvollen Namen, mit einem riesigen Katalog von Stars wie Oscar Peterson über die Singers Unlimited bis zu Bill Evans. Hunderte von Aufnahmen entstanden seit den Sechzigern direkt in Villingen, in einem Studio mit edelsten Technikkomponenten. Der Industrielle Hans-Georg Brunner-Schwer (HGBS), Ex-Chef des Rundfunkgeräte-Herstellers SABA und leidenschaftlicher Pianist, hatte es eingerichtet. Nach dem Tod von HGBS kam das Unternehmen in turbulente Fahrwasser, etliche Jahre dauerten die Querelen um die Nutzung und Verwaltung der Studios an. Zum Glück ist das seit 2022 Geschichte: Ein neu gegründeter Verein, MPS-Studio e.V. hat die Räumlichkeiten in der Richthofenstraße übernommen und führt den musikgeschichtsträchtigen Ort tatkräftig in die Zukunft.

„Wir haben in Zusammenarbeit mit dem Denkmalamt renoviert, die Archive in Ordnung gebracht, bieten jeden Monat eine Führung an, haben regelmäßig Konzerte in den Studios“, sagt Töni Schifer, erster Vorsitzender des Vereins. Der gelernte Drucktechniker und Leiter der Kreativagentur Monitorpop war Mitgründer des Kultladens Nastrovje Potsdam, gleiste das Filmmusik-Label Crippled Dick Hot Wax auf und war schon im Vorgängerverein bei MPS aktiv. Aktuell hat der Verein 170 Mitglieder, die nicht nur aus der Regio stammen, sondern auch ideell aus der Ferne unterstützen. Zu den Konzerten kommt ein Stammpublikum, aber sie ziehen auch Besucher aus der Schweiz, aus Hamburg und Berlin an, überregionale Wirkung ist erwünscht.

„Es gibt in Villingen ja einen Jazzclub, und zu dem wollen wir ganz bewusst nicht in Konkurrenz treten“, stellt Schifer klar. „Stilistisch stellen wir die Konzerte breit auf, von klassischem Jazz über World bis zur Avantgarde, auch im Geiste von Joachim Ernst Berendt, der für MPS ja viele Platten produziert hat.“ Auch einen Talk hat man kürzlich angeboten, an dem sich zeigte, dass der Verein die Vorgeschichte der Firma SABA tiefenscharf aufarbeitet, indem man das Thema Zwangsarbeiter während der Nazi-Zeit aufs Podium brachte. Welches Aushängeschild MPS für Villingen ist, hat die Stadt Schifer zufolge begriffen, breite Unterstützung durch die örtliche Politik ist gegeben.

Am 13. Dezember wird nun der dritte Geburtstag gefeiert, und ein besonderer Name ziert das Programm: Mit dem Jamaikaner Monty Alexander kehrt einer der großen Pianisten des Labels in den Schwarzwald zurück. „Wir haben uns angeschaut, wer an MPS-Künstlern überhaupt noch unterwegs ist, da bleiben nicht mehr viele. Und Monty war ein Aushängeschild des Labels, einer der ganz wichtigen Pianisten. Er spielte Hauskonzerte bei den Brunner-Schwers, erlebte hier auch mal Weihnachten und hatte hier sogar eine private Liebesbeziehung.“ Zwischen 1972 und 1985 veröffentlichte Alexander, der auf Empfehlung von Oscar Peterson nach Villingen kam, annähernd ein Dutzend Alben auf MPS, darunter Klassiker wie „We’ve Only Just Begun“. Heute, mit über 80 Jahren gilt er als stilbildend in seiner Verquickung von Jazz mit afrokubanischen Elementen und Reggae. Nostalgische Randnote: Monty Alexander wird schon am Tag vor dem Konzert in der Neuen Tonhalle mit einem Presse-Termin in den MPS-Studios seine alte Wirkstätte besuchen.

Der Verein blickt unterdessen schon über das kleine Jubiläum hinaus: Das analoge Mischpult soll von einem Spezialisten hergerichtet werden, eine Digitalisierung des Archivs steht an. Und es gibt es Pläne, die Jugend und Nachwuchskünstler verstärkt mit Workshops und Führungen einzubeziehen, Aufnahmesessions mit Nachwuchskünstlern einzufädeln – damit MPS auch bei der nächsten Generation seinen klangvollen Namen behält.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 09.12.2025

live Neue Tonhalle Villingen, 13.12., 20h30
mps-studio.de

Monty Alexander: „Where Is Love“
Quelle: youtube

Unsterbliche Gaita

Topfit mit 93 Jahren und ein neues Album draußen: Das ist nur wenigen Musikern vergönnt. Der Brasilianer Maurício Einhorn schrieb seit den 1950ern mit seiner Mundharmonika Musikgeschichte in der Bossa Nova und im Jazz, spielte mit und für Größen wie Tom Jobim, Baden Powell oder Toots Thielemanns.

Jetzt veröffentlicht der Freiburger Frank Kleinschmidt auf seinem Label In & Out Records Einhorns neue Scheibe Maurício & Horns, eingespielt mit exzellenten Sessionmusikern aus Rio um den Saxophonisten Idriss Boudrioua und Arrangements des Posaunsiten Rafael Rocha.

Zu diesem Anlass habe ich mit der Legende über den Atlantik hinweg ein lebhaftes, anekdotenreiches Gespräch geführt – der Schweizer Rundfunk SRF 2 Kultur sendet meinen Beitrag am Dienstag, den 25.11. in der Sendung Jazz & World aktuell.

Viel Spaß beim Hören!

Maurício Einhorn: „Chorinho Carioca“
Quelle: youtube

Winterglück im Wohnzimmer

Sílvia Pérez Cruz & Salvador Sobral
Elbphilharmonie Hamburg, 16.11.2025
Philharmonie Köln, 21.11.2025

Bunte Vintage-Lampen, ein paar Stühle, dazu das kleine Beistelltischchen mit Wählscheibentelefon, ein schlichter Teppich. Das Bühnenbild soll die Atmosphäre eines intimen Wohnzimmerkonzerts vermitteln – und das inmitten der größten, philharmonischen Konzerthäuser Deutschlands. Doch wer kann einen solchen Spagat mit Leben und Authentizität füllen?

Arm in Arm kommen die beiden, die das vermögen, auf die Bühne – er in sportiver Freizeitkleidung, sie, als möchte sie mit Rock und schicker Bluse auf ein dörfliches Tanzfest gehen. Gefunden haben sie sich, weil sie sich in ihrer gegenseitigen Bewunderung wohl einfach finden mussten: die schönste, warmherzigste und virtuoseste Stimme der katalanischen Musik, und der einstige Eurovision Song Contest-Held, nach dramatischer Herztransplantation einer der führenden Kreativköpfe der neuen portugiesischen Szene. Ihr gemeinsames Album Sílvia & Salvador ist ein unspektakulärer, intimer Meisterstreich, der die Kraft der Menschlichkeit und die Liebe zur Stimme in allen Facetten feiert, ohne Angst vor Sentimentalitäten und Wohlklang, von Barcelona und Lissabon hineingreifend nach Uruguay, Mexiko, Brasilien und auch ins Chanson und in Country-esques.

In Deutschland hat das Paar ungleiche Voraussetzungen: Sobral ist durch den ESC und vorherige hiesige Tourneen bekannt, und er kann sich auf eine große Anzahl von Exil-Portugiesen im Auditorium stützen, spricht ein wenig Deutsch, was er in augenzwinkernden Ansagen charmant ausprobiert. Sílvia Pérez Cruz ist nach 25 Jahren Karriere tatsächlich das erste Mal auf deutschen Bühnen zu hören – doch es ist schnell spürbar: Ihr fliegen dank ihres ergreifenden, gewinnenden Naturells und ihrer überwältigenden, vokalen Wärme schnell die Herzen zu.

Bereits im Eröffnungsstück ist klar, dass das Intime im philharmonischen Großbau bestens funktioniert: „Ben Poca Cosa Tens“, mit Worten des Dichters Miquel Martí i Pol, erzählt von der Trennung und der Einsamkeit, und wie diese in einem gewagten Aufschwung im frischesten Licht („llum fresquíssima“) Trost findet. Die beiden Stimmen, verwandt in Timbre und hohem Register, schrauben sich mit großem Atem in höchste Höhen, fliegen schließlich, als würden die Schmerzensschreie in Schwerelosigkeit münden. Und hier muss gleich auch das Loblied der drei Bandmusiker gesungen werden: Berklee-Absolventin Marta Roma bringt durch ihren feinen, eleganten und genauso pfiffig-rhythmischen Cello-Strich kammermusikalisch-klassisches Flair hinein, Dario Barroso aus Tarragona ist ein souveräner, ideenreicher Riff-Kapitän. Die Überraschung im Trio ist aber der Mallorquiner Sebastià Gris, der vor allem mit Mandolinen und Banjo eine feinmaschige Zupf-Textur gestaltet, Volkstümliches clever mit Virtuosentum verknüpft.

Familiäre Nährstoffe bezieht die Show von vielen Freunden und Verwandten der Protagonisten: Der Uruguayo Jorge Drexler hat Sobral und Pérez Cruz „El Corazón Por Delante“ geschenkt, ein mit seligen Terzen gefüllter Gesang, der bei vielen anderen Interpreten ein wenig kitschig anmuten könnte, hier aber zum leutseligen Walzer mit Publikumsbeteiligung wird. Schwester Luisa Sobral und Ehefrau Jenna Thiam sind in der Autorinnenriege zu finden – letztere sorgt mit „L‘Amour Reprend Ses Droits“ (Musik: Carlos Montfort) für den Chanson-Moment des Abends: In Sílvia Pérez Cruz‘ Phrasierung leuchtet hier ein wenig Édith Piaf durch, allerdings befreit von jeglicher Härte der Pariserin. Endgültig zum Wohnzimmer werden die Elb- und die Kölner Philharmonie aber durch „Someone To Sing Me To Sleep“. Barroso leitet hier mit vielen Themenanspielungen romantisch und wehmütig ein, dann verschmilzt er mit den beiden tiefempfundenen Stimmen (der sonst so falsett-verliebte Sobral in erstaunlichen Bass-Lagen) zum spätnächtlichen Lagerfeuer-Moment. Hinter mir sind bewundernde Seufzer zu vernehmen.

Es ist ein Abend, der auch von wechselnden Konstellationen lebt: Sobral lässt es sich nicht nehmen, mit Marta Romas Pizz-Begleitung Max Raabes „Kein Schwein ruft mich an“ aus seiner Überraschungskiste frei zu lassen, in Hamburg lässt das alle hanseatische Reserviertheit schmelzen, im karnevalesken Köln sowieso. Dann schaltet er radikal auf die waidwunde Samba-Ballade „Ella Disse-Me Assim“ um, brüllt seinen Liebesschmerz ohne Mikro in den Saal. Pérez Cruz sorgt für Atemlosigkeit im Auditorium, als sie Lorcas Gedicht „Pequeño Vals Vienés“ von Leonard Cohen zurückstiehlt – dunkler und mit allmählicher Steigerung in Hamburg, dramatischer in Köln mit großer Ornamentik und improvisatorischer Fantasie, die auch einen Seitenpfad zu „Hallelujah“ öffnet. Hier zeigt sich: Aus jedem Song schöpft sie ihr eigenes lichterfülltes Universum.

Der finalen Kurve sind die lebhafteren, mitreißenderen Stücke vorbehalten: Mit beherztem Schlag auf der großen Trommel kommt Erdigkeit in Sobrals „Mudando Os Ventos“. Und in „Muerte Chiquita“ geht Pérez Cruz auf eine genauso spielerische wie feurige Flamenco-Exkursion, die einen in die Knie zwingt. Das Publikum fordert Zugaben und bekommt zwei denkbar grandiose: Für ihr „Mañana“ im Stil einer bittersüßen mexikanischen Ranchera wird Sílvia Pérez Cruz zur Gesangslehrerin, und die steifen Ränge der Philharmonie quellen über vor Herzschmerz. Schlussschwung gibt es mit Sobrals „Anda Estragar-Me Os Planos“, mit einem zarten Hauch von Western-Saloon. Der Abstecher der beiden Koryphäen von der Iberischen Halbinsel brachte eine große Portion Winterglück in diese klirrend kalten Novembertage.

© Stefan Franzen

 

Beflügeltes Horn

Maite Hontelé & Ramón Valle
Havana
(In & Out Records)

Kuba steht bei Bläsern aus Europa gerade hoch im Kurs. Nach Sarah Willis, der Hornistin der Berliner Philharmoniker, ist es nun die holländische Flügelhorn-Virtuosin Maite Hontelé, die die Reize von Havanna in Gestalt eines Duos mit dem Pianisten Ramón Valle entdeckt hat. Valle konnte durch seine klassische Ausbildung eine Tastenkunst entwickeln, die sich freigeschwommen hat von den üblichen Buena Vista-Klischees. Beide haben ihre Heimat in Holland. Valle brachte seine Duopartnerin nach fünf Jahren Pause wieder zur Musik zurück, nachdem sie bereits seit 2008 ihre Latin-Vorlieben in Kollaborationen mit Größen wie Rubén Blades oder Oscar D’Léon offenbart hatte. Wie das Spiel „zweier Kinder, offen, frei neugierig“, so sei jede Begegnung der beiden, sagt Hontelé.

In ihren Dialogen tritt neben dem Spielhaften auch eine große Konzentration zutage, die enge Verzahnung von Flügelhorn und Piano trägt in den intensivsten Momenten gar Anflüge von barocker Fugentechnik. Das sonnige Repertoire becirct vom Opener der CD an („Lo Que Tienes Tú“) durch schwungvolle Spielfreude. Der durchweg sangliche Ton auf dem Horn und Valles bestechende Grooves und Montunos erlauben augenzwinkernde Dialoge. Die sind mal mollgetönt wie in „La Mulata Rumbera“, können aber auch als ekstatischer Ritt enden wie „Almendra“. Introspektive Einschübe gibt es etwa mit Valles Eigenkomposition „Johanna“ und dem lyrischen „Havana Morning Light“.

live: Waldsee Freiburg, 11.11., 20h / 64 Darmstadt, Darmstadt, 15.11., 20h

Maite Hontelé & Ramón Valle: Lo Que Tienes Tú“
Quelle: youtube

Brasilianische Traumbilder

 

Céline Rudolph – Henrique Gomide – João Luis Nogueira
Amaré
(Challenge Records)

Die deutsch-französische Sängerin Céline Rudolph ist für ihr Faible für brasilianische Töne bekannt und setzt diese auf Albenlänge einfühlsam und mit tiefem Verständnis um. Auf Amaré wählt sie hierfür ein Jazztrio mit den kongenialen Gewährsmännern Henrique Gomide (p) und João Luis Nogueira (g). Die Begegnung eröffnet durch den Verzicht auf Drums neue Flow-Optionen, bietet Platz fürs Auskosten spannender Reharmonisierungen, kündet von konzentriertem Interplay. In „Embaixo Da Imensidão“ umgarnen Akustikgitarre und Klavier mit flinken Läufen Rudolphs fantasievolles Scatting. „Emoriô“ entführt in die Atmosphäre erdiger afrobrasilianischer Anrufungen, während Bahias Küste in den offenen Akkorden von „Itacimirim“ wie in einem Traumbild verewigt wird.

Von belebendem Reiz sind die teils perkussiven, teils lautmalerischen Dialoge von Teco Cardosos Gastflöte mit den Vocals in „Toca De Arara“. Kernstück ist „Beijo Partido“: Hier atmen die vier Musiker in gegenseitiger Beseeltheit, Gitarrengast Horta vereint sich im Stück aus seiner Feder mit dem Piano zu grandios fließender Chromatik. Und ganz großartig ist schließlich, wie Rudolph den schwermütigen Samba-Klassiker „Preciso Me Encontrar“ von Cartola in eine zeitlose Zero Gravity-Zone entführt.

© Stefan Franzen

Céline Rudolph, Henrique Gomide, João Luis Nogueira: „Abril“ („Amaré“ Studio Session)
Quelle: youtube

live:
03 Dec 2025 – München, Bayerischer Hof
05 Dec 2025 – Hamburg, Nica Club
02 Mar 2026 – Essen, Rathaussaal
28 Mar 2026 – Hannover, Jazzclub

Radiotipp: SWR Musikstunde „Die Ewigkeit in der Musik“

SWR Musikstunde
Jenseits der Zeit – die Ewigkeit in der Musik
27. – 31.10.2025, jeweils 9h05

Musik ist die Kunst in der Zeit. Will sie nicht abstrakt bleiben, braucht sie das Verrinnen der Zeit, sonst kann sie nicht tönen. Wie aber klingt es, wenn Komponistinnen und Komponisten versuchen, Ewigkeit einzufangen? Und was meinen wir überhaupt mit Ewigkeit – ist es ein „Ort“, auf den wir nach unserem irdischen Dasein hinsteuern, wie das Paradies oder die Hölle, oder vielmehr ein Prozess zyklischer Wiederkehr? Ein allumfassendes Gedächtnis der Welt?

„In der Ewigkeit geschieht alles zugleich“, dichtete der Mystiker Angelus Silesius. All diese Ideen führen, in Töne gefasst, natürlich zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Mit Tonschöpferinnen und Komponisten, Liedermacherinnen und Soundtrack-Schreibern, mit Musikerinnen und Musikern aus allen Erdteilen, allen spirituellen Ausrichtungen stoßen wir hier an die großen und an die letzten Fragen unserer Existenz.

Charles Aznavour: Le Chemin De l’Éternité“
Quelle: youtube

Vom Hauch bis zum Gewittersturm

Aus aktuellem Anlass schalte ich nochmals den Artikel über Simin Tander hoch:
Simin wird zweimal im Süden Deutschlands mit ihrem neuen Quartett gastieren und das neue Album
The Wind spielen:
19.10. Jazzhaus Freiburg
20.10. Karlstorbahnhof Heidelberg (Enjoy Jazz Festival)

Mit multinationalem Team hat die deutsch-afghanische Sängerin Simin Tander ihr fünftes Album The Wind (Jazzland Recordings/edel Kultur) eingespielt. Wie der Namensgeber fließt es grenzenlos zwischen Indien, Afghanistan, Europa und Amerika.

Es passiert etwa in der Mitte ihres neuen Werks: Für die stürmische Jagd einer Wolke über den Himmel greift Simin Tander zum Sprechgesang, rappt fast die Poesie des englischen Romantikers Percy Bysshe Shelley. „Diese Dramatik mit den archaischen Bildern von Natur und Donner, das hat mich berührt, weil es so klar ist und eine unglaubliche Kraft hat“, sagt sie. „Nursling Of The Sky“ ist zugleich ein Schaukasten dafür, was mit ihrer erprobten Rhythmusgruppe möglich ist: Die funky groovenden Kletterlinien des schwedischen Bassisten Björn Meyer und die tribal galoppierende Kraft des Schlagwerkers Samuel Rohrer vereinigen sich hier zu elektrisierender Energie. Die hat so gar nichts Romantisches mehr an sich und konnte „nur mit diesen beiden, die eine starke individuelle musikalische Sprache auf ihrem Instrument entwickelt haben“ gezündet werden. Mit beiden hatte die Deutsch-Afghanin schon auf dem Vorgänger „Unfading“ gearbeitet. Komplettiert wurde das Quartett damals durch die Viola d’Amore des Tunesiers Jasser Haj Youssef, was insgesamt zu einem eher gedeckteren Klangspektrum führte – ihr damaliger Ausdruckswunsch mit einer Stimme, die sich schwangerschaftsbedingt tiefer gefärbt hatte.

Jetzt ist aber Harpreet Bansal neue Partnerin im Quartettgefüge: Die indische Geigerin, geschult im Raga-System, sorgt für helleres Kolorit: „Ihr Ton ist sehr warm und voller als das, was man von einer Geige normalerweise kennt, aber sie hat auch dieses endlos in die Höhe steigende. Und sie ist eine Meisterin darin, meinem Gesang zu folgen. Bei manchen Stücken ist sie wie ein verschnörkelter Schatten der Melodie, bei anderen spielt sie bewusst nur in die Pausen der Gesangsmelodie. Die Herausforderung war, dass ich auf meinem Pfad bleibe, obwohl da eine weitere ‚Stimme‘ ungefähr den gleichen Weg direkt hinter mir geht. Nur so ist das Gesamte wirklich stark.“ Man kann dieses faszinierende Miteinander von Bansal und Tander tatsächlich als Tanz einer Persönlichkeit wahrnehmen, die sich in verschiedene Nuancen auffächert. Gewissermaßen als „Windspiel“ gleitenden und suchenden Charakters.

Das Album „The Wind“ beherbergt denn auch die verschiedensten Ausprägungen, die die Bewegung der Luft haben kann, vom Säuseln und Hauchen bis zur ekstatischen Entladung. Verblüffend, wie das Quartett eine Synthese zwischen packender Körperlichkeit und der Sphäre des Ungreifbaren in Töne gefasst hat. „Ich scheine eine Vorliebe für die Elemente zu haben“, schmunzelt Tander, die in ihrem neuen Werk Bezüge an die Wasser-Hommage „Where Water Travels Home“ von 2013 entdeckt. „Der Wind hat für mich eine symbolische Bedeutung für etwas, das durch die verschiedenen Epochen und Sprachen zieht und alles miteinander verbindet.“ Das wird durch das denkbar breite Repertoire auf dem Werk belegt. Als Gegenpol zur virilen Shelley-Vertonung wirft Tander die Hörenden mitten hinein in die Ära des neapolitanischen Liedes mit „I‘te Vurria Vasà“ von Edoardo Di Capua („O Sole Mio“), befreit es aber von allem opernhaften Schmelz und Pathos, nur mit begleitendem Geigenhauch. Eine Bearbeitung eines norwegischen Kirchenliedes und ein spanisches Lullaby schaffen weitere Klangräume aus europäischen „Randzonen“. Der inspirative Geist des Windes, er lässt sich von keiner Grenze stoppen.

Simin Tander – „The Wind“ Album Trailer
Quelle: youtube

Linguistische Challenges sind fester Bestandteil in Tanders Repertoire-Auswahl. Schon vor zwölf Jahren setzte sie sich das ehrgeizige Ziel, im komplexen Paschtu zu singen. Näherte sich der Sprache ihres Vaters, indem sie eines seiner Gedichte vertonte, phonetischen Unterricht bei einem Freund der Familie nahm, der ihr auch viele Lieder der Region erschloss. Seitdem ist das paschtunische Idiom fester Bestandteil ihrer Alben geworden. Populäre Songs der Region, die oft aus Bollywood-artigen Streifen stammen, finden sich auf „The Wind“ gleich dreifach und haben eine erstaunliche Metamorphose hinter sich. „Meena“ eröffnet das Album mit einem Gedicht aus dem 18. Jahrhundert, das Tander durch die populäre Sängerin Qamar Gula kennengelernt hatte. An „Jongarra“ zeigt sich, wie einfallsreich sie mit „jazzigen“ Reharmonisierungen arbeitet, das Original ist kaum noch zu erkennen: „Ich habe eine große Affinität zu Harmonien und Akkorden, die habe ich hier ausgelebt.“ Am lebhaftesten ist „Janana Sta Yama“, ein neckisches Stück der Schauspielerin Gulnar Begum.

Nie zuvor war Tanders Stimme ein so selbstsicheres, spielerisches Werkzeug. Vermehrt arbeitet sie nun mit Schichtungen. Eine der Eigenkompositionen, „Woken Dream“, zugleich einer der stärksten Momente des Werks überhaupt, zeigt, wie ein Song dadurch Zugänglichkeit auch für Hörende aus der Popkultur schaffen kann. „Natürlich ist es kein Pop-Album geworden“, stellt Tander klar. „Aber ich hatte schon den Wunsch, mich auf eine Art und Weise ganzheitlicher auszudrücken, weg von einer Nische zu gehen.“ Hier und da ist subtile, aber präsente Elektronik zu hören, getriggert von Rohrer am Schlagzeug. Überhaupt legt Simin Tander sehr viel Wert auf die Charakteristik des Sounds. Daher war es ihr wichtig, für den Mix und das Mastering Persönlichkeiten mit ausgeprägt „physischer Präsenz“ am Pult zu suchen. Gefunden hat sie sie im zweifach Grammy-nominierten Joshua Valleau und im Grammy-Gewinner Daddy Key, die mit der US-Pakistanerin Arooj Aftab, mit Kamasi Washington und Corinne Bailey Rae gearbeitet haben.

Ganz dem Wesen des Windes entsprechend schweift das Geschehen grenzenlos zwischen Indien und Afghanistan, dem Norden und Süden Europas und Amerika. Unser Interview findet in der heißen Phase vor der Bundestagswahl statt, die mit den bekannten Ereignissen die Selbstverständlichkeit solch schlagbaumloser Diversität künftig in Frage stellt. Mischt Simin Tander sich als kosmopolitische Künstlerin in politische Diskussionen ein? „Es geht heutzutage nicht mehr, dass man unpolitisch ist. Früher habe ich immer gesagt, dass mein Wunsch sehr persönlich ist, nämlich, den Reichtum der afghanischen und paschtunischen Kultur in die westliche Welt zu bringen. Das ist immer noch mein Hauptanliegen. Aber wenn es sich richtig anfühlt, mich nicht von der Musik zu sehr wegbringt, spreche ich jetzt auf der Bühne über Frauenrechte und die Situation in Afghanistan. Das ist auch eine Verantwortung, die ich als Künstlerin habe.“

Simin Tander: „Nursling Of The Sky“
Quelle: youtube

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing, Ausgabe 159

Cloudbusting 40

Kaum fassbar: Heute vor 40 Jahren wurde diese zeitlose Hymne der Popmusik veröffentlicht. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als SWF 3-Moderator Bernd Mohrhoff den Einstieg in die UK-Hitparade auf Platz 30 mit dem Kommentar „dieses Mal ganz schön zackig“ vermeldete. Kate Bushs zweite Single-Auskopplung aus Hounds Of Love packte mich sofort, während ich mit dem Erstling „Running Up That Hill“ etwas länger gefremdelt hatte. „Cloudbusting“, die Story um den Psychoanalytiker Wilhelm Reich und seinen Sohn Peter, gehört bis heute zu den Top 5 meiner Kate Bush-Songs.

Vor zehn Jahren habe ich schon einmal einige Cover- und Sample-Versionen zusammengestellt, viel Anhörenswertes ist seitdem nicht dazugekommen. Unten sind die originellen Varianten des Songs, die übrigblieben – inklusive Kates eigener Live-Version aus dem Hammersmith Apollo, die ich im September 2014 selbst live miterleben durfte.

Sef (Marokko/Niederlande): „Lichaam Is Een Club“
Quelle: youtube
The Staves (UK): „Cloudbusting“
Quelle: youtube
Novembre (Italien): „Cloudbusting“
Quelle: youtube
Yules (UK/USA): „Cloudbusting“
Quelle: youtube
Kate Bush: „Cloudbusting“ (Live At Hammersmith Apollo 2014)
Quelle: youtube

Radiotipp: Porträt Kayhan Kalhor

Foto: © Stefan Franzen

SRF 2 Passage
Musik als Refugium – ein Porträt des iranischen Musikers Kayhan Kalhor

Freitag, 10.10.2025, 20h

Er ist ein herausragender Botschafter der persischen Kultur auf der ganzen Welt. Mit seinem Instrument, der Stachelgeige Kamancheh, hat der iranische Kurde Kayhan Kalhor der Menschlichkeit und Völkerverständigung eine sensible Stimme gegeben.

Kalhor engagiert sich in seiner Arbeit für die Zusammenarbeit von Musikerinnen und Musikern verschiedenster Herkunft, knüpft Kontakte zwischen persischer Tradition, westlicher Klassik und Weltmusik. Im Gespräch zeichnet er seinen Weg nach: vom Wunderkind im Iran über seine vielen internationalen Teamworks – darunter das Silk Road Project von Yo-Yo Ma – bis zu seiner politisch bedingten Odyssee zwischen New York und Teheran. Ein Künstler, der zum Spielball der Ideologien wurde, aber unbeirrt seine Vision verfolgt.

Anlässlich der Uraufführung seiner Komposition „Venus In The Mirror“ habe ich Kayhan Kalhor im Sommer in Hamburg getroffen.
SRF 2 Kultur sendet in der Reihe Passage am Freitag, den 10.10.2025 ab 20h mein Porträt über Kayhan Kalhor. Nach der Ausstrahlung steht die Sendung zum Nachhören auf der SRF 2 Kultur-Seite zur Verfügung (auch in der Nichtschweiz).

Viel Spaß beim Hören wünscht
Euer Stefan

Kayhan Kalhor, Yo-Yo Ma & NDR Elbphilharmonie Orchester: „Venus In The Mirror“ (Trailer)
Quelle: youtube

Danny Thompson & Lady Victoria

Foto: David Laws (Creative Commons)

Wenn es um einen Kontrabass ging, der grenzüberschreitend und global unterwegs war, dann gab es im UK seit den 1960ern eine Persönlichkeit, die unangefochten an der Spitze stand: Danny Thompson. Sein 160 Jahre alter Bass trug auch einen Namen, liebevoll nannte Thompson die auf Hunderten von Aufnahmen zu hörende viersaitige Lady „Victoria“. Am 23. September ist der Musiker im Alter von 86 Jahren im südenglischen Rickmansworth gestorben.

Danny Thompson war in den 1960ern bereits Mitglied bei Alexis Korners Blues Incorporated, beim Tubby Hayes Quartet, spielte mit Ginger Baker und John McLaughlin. Ein einziges Mal griff er zum E-Bass, als Roy Orbison ihn 1963 für eine Tour verpflichtete, auf der die Beatles den Support Act gaben. 1968 steuerte er den Bass zu Cliff Richards Grand Prix-Beitrag „Congratulations“ bei. International bekannt wurde er als Gründer der Band Pentangle an der Seite der Gitarristen John Renbourn und Bert Jansch, ab 1967 verband die Gruppe britische Folkmusik mit Blues, Jazz und Barock-Anleihen. Ihr gehörte er bis 1973 an und war auf der stilbildenden LP-Quadrologie „The Pentangle“, „Sweet Child“, „Basket Of Light“ und „Cruel Sister“ mit von der Partie. In den Achtzigern und nochmals für eine Reunion 2008 kehrte er zurück zu Pentangle. Im Folk spielte er außerdem mit dem Sänger und Gitarristen John Martyn, mit dem Folkblues-Innovator Davey Graham, der Incredible String Band sowie mit den Songwritern Nick Drake, seinem – nicht verwandten – Namensvetter Richard Thompson (Fairport Convention) und der Grande Dame des englischen Folksongs, June Tabor.

Einige Ausflüge machte Thompson auch in den Pop: 1982 und 85 steuerte er Basslinien für Kate Bushs Alben „The Dreaming“ und „Hounds Of Love“ bei, stand in Diensten bei Talk Talk und David Sylvian. Erst 1987 erschien mit „Whatever“ sein erstes Soloalbum. Wenig später offenbarte er in mehreren Kollaborationen sein Faible für globale Klänge. Diese Facette seiner Karriere begann mit dem Projekt Songhai, in dem der malische Kora-Virtuose Toumani Diabaté und die spanische Flamencogruppe Ketama über seinen melodischen Basslinien zusammenfanden. Thompson spielte mit der chilenischen Formation Incantation und arbeitete in Dizrhythmia mit dem indischen Perkussionisten Pandit Dinesh. Seine weltumspannende Perspektive hatte auch Einfluss auf seine Tongebung im Britfolk, wie etwa die Tracks „Hopdance“ oder „Basket Of Eggs“ verraten.

Mit Danny Thompson geht ein Großer der scheuklappenlosen englischen Folkszene, der sein warmes und virtuoses Bass-Spiel stets in den Dienst des Songs gestellt hat. Kate Bush schrieb in ihrem Nachruf: „Man hat nie nur mit Danny gearbeitet, sondern auch mit seinem Kontrabass Victoria. Zusammen waren sie die faszinierendsten Geschichtenerzähler – erdig und wild. Danny war der süßeste, liebste Mann und ein echter Charakter. Ein seltener und besonderer Schatz. Danke, Danny, dass ihr, du und Victoria, Feuer und Flamme wart für die Arbeit. Ich werde dich so sehr vermissen.“

© Stefan Franzen

Hier meine Auswahl mit 7 feinen Stücken, die Danny Thompson mit Victoria geadelt hat:

1. mit Nick Drake: „Man In A Shed“ (1969)
Quelle: youtube
2. mit Pentangle: „Light Flight“ (1971)
Quelle: youtube

3. mit John Martyn: „Solid Air“ (live 1998, Original 1973)
Quelle: youtube
4. mit Kate Bush: „Watching You Without Me“ (1985)
Quelle: youtube
5. mit David Sylvian: „Mother And Child“ (1987):
Quelle: youtube
6. mit Ketama & Toumani Diabaté: „Jarabi“ (1988)
Quelle: youtube
7. mit Savourna Stevenson & June Tabor: „The Baker“ (1996)
Quelle: youtube