Klangreisen für Herbert George

Foto: George Charles Beresford, 1920

Ob er ein  Science Fiction-Autor war oder doch eher ein Meister der fantastischen Erzählung – darüber lässt sich trefflich debattieren: H.G.Wells wäre heute 150 Jahre alt geworden.

Sieben Reisen durch die Zeit zu Ehren seines bekanntesten Buches! Weiterlesen

Glühender Klangsturm

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Noura Mint Seymali
Arbina
(Glitterbeat/Indigo)

Guten Gewissens lässt sich sagen, dass die Frauenstimmen Mauretaniens die eindringlichsten aus dem ganzen Universum der Wüstenrock-Sounds sind. Auf ihrem zweiten internationalen Release entfesselt die Sängerin aus Nouakchott einen glühenden Sandsturm, der sich noch grobkörniger aufschwingt als zuvor. In den atemberaubenden, meckernden Vokalmelismen stecken dabei sehr alltagsnahe Texte über Brustkrebsvorsorge, dann aber auch philosophische Betrachtungen über göttliche Fügung. Unter den gitarristischen Widerhaken und der ruppigen Harfe windet sich ein abgründiger Bass in die Eingeweide, mal wird mit kantigen Tempowechseln gearbeitet, mal wird mit dubbiger, aber nie davondriftender Auffächerung der Horizont geweitet. Für diesen Rock braucht es keine Kasbah, nur den weiten Wüstenhimmel.

Noura Mint Seymali: „Na Sane“
Quelle: youtube

Eiserne Präzision

King Crimson
Liederhalle Stuttgart
08.09.2016

„Wenn Sie Visionen haben, gehen Sie zum Arzt“, riet bekanntlich der verstorbene Altkanzler Helmut Schmidt. Robert Fripp hat das zum Glück nicht getan. Am Tag als Englands zukünftiger König Georg geboren wurde, sei ihm eine neue Besetzung von King Crimson erschienen, beteuert der 70-jährige Gitarrist. Und in dieser Vision spielten drei Drummer vorne am Bühnenrand.

Die Annalen des Rock sind voll von Bands, in denen sich über die Jahrzehnte nur noch ein Gründungsmitglied gehalten hat und die ihren Sound immer wieder drastisch veränderten. King Crimson haben sich seit ihrem Gründungsjahr 1969 jedoch derart oft gehäutet, mit rund zwei Dutzend Mitgliedern und einem Dutzend Varianten, dass man eher von einer Auswechslung der DNA sprechen sollte. Umso erstaunlicher: Die Progressive-Pioniertaten des Anfangs, die brachialeren Ausflüge der Siebziger und die neueren Kompositionen, die an die etwas poppigere Achtzigerepisode anknüpfen, werden in der seit 2014 tourenden Verkörperung des „purpurnen Königs“ zu einer homogenen Handschrift gebündelt. Nicht nur dank Fripp, des akkuraten Masterminds hinter allen Phasen der Band, auch wegen eines auf allen Positionen herausragenden Line-Ups.

Als die sieben Musiker die Bühne im Stuttgarter Beethovensaal betreten, werden gleich einmal etliche Rock-Parameter ausgehebelt. Man trägt Weste und Schlips, eine Lightshow fehlt gänzlich, es fühlt sich fast an wie ein Klassikkonzert. Doch da sind eben jene drei imposanten Schlagzeugaufbauten in der ersten Reihe. Ihnen gebührt auch der Anfang eines jeden der zwei Sets: Ausgehend vom sehr physisch und bevorzugt in den Bassfrequenzen agierenden Gavin Harrison, der die Partituren für die Schlagwerker ausgetüftelt hat, fächert sich der Dreier räumlich zu Pat Mastelotto auf. Er arbeitet den Becken- und Hi-Hat-Bereich heraus, in der Mitte sitzt eher jazzig und feinmechanisch Jeremy Stacey, der aber auch Piano- und Mellotronarbeit zu leisten hat.

Dieses dreiköpfige Monster hat sein Eigenleben, wird aber durch die vier sehr diziplierten Herren dahinter förmlich im Zaum gehalten. Fripp bedient sein Instrument grundsätzlich im Sitzen und nahezu bewegungslos, ganz gleich, ob er in „Larks‘ Tongues In Aspic I“ martialische Rhythmen heraushämmert oder mit sturer Präzision komplexe Minimalkonstrukte im Siebenertakt liefert. Mitunter verzahnt er sich mit dem zweiten Gitarristen Jakko Jakszyk wie in einem unerbittlichen Uhrwerk, etwa im grandiosen „Fracture“, das wie eine Abfolge mathematischer Gesetzmäßigkeiten tönt. Jakszyk mit der verwegenen Lockenmähne ist der Einzige in der Altherrenband, der wirklich Rockgestus zeigt in seinen Soli. Er ist auch für die Vocals zuständig, allerdings ohne jegliches Vibrato oder Pathos, selbst wenn er zum Schrei ansetzt, klingt er noch eigentümlich beherrscht. Zur letzten Paarung sind der King Crimson seit langem verbundene Bassmann Tony Levin und Saxophonist und Flötist Mel Collins gruppiert, sie vebünden sich oft unisono in den bandtypischen chromatischen Ostinati zu einem mächtig stampfenden Biest. Doch in „The Court Of The Krimson King“ umspielt der wie eh und je entspannte Levin Collins‘ Flötenkaskaden auch mal warm und ganz unbeschwert.

Höhepunkte in der 150-minütigen Show zählt man reichlich: „Red“, das Titelstück der Siebziger-Kultplatte gerät in der neuen Version noch scharfkantiger, ein zähnefletschendes Ungeheuer mit großer Wirkung der drei Drumsets zu den emporkletternden Gitarren. In „Epitaph“, dieser großen Morbiditätshymne vom ersten Album, wirkt die perkussive Fülle dagegen überzeichnet, raubt der Melancholie Raum. Tiefer ist die Trauer am Anfang von „Starless“: Zu den düsteren Mellotronwolken und den bedrohlichen Tonwiederholungen, die wie eine hartnäckige Stechmücke ins Ohr kriechen, wandelt sich schließlich erstmals das Bühnenlicht: zu einem tiefen Purpur.

Kaum jemand hätte mit dem Aufgebot in der Zugabe gerechnet: Das Schlagzeugtrio begibt sich auf die Fährte der balinesischen Gamelan-Musik, nahtlos daran schließt sich David Bowies „Heroes“ an, mit dem wohl am längsten gehaltenen E-Gitarren-Ton der Rockhistorie – paradoxerweise wohl jener Ton, der Fripps Gitarre für immer unsterblich gemacht hat. Allerdings wird der Song durch Jakszyks Stimme zum Fremdkörper: Man kann ihn wirklich nur von Bowie hören. Unvermeidlicher Finalakzent: „21st Century Schizoid Man“ mit einer Free-Jazz-Orgie aus Collins‘ Sax über dem Trommelgewitter. Das Faszinosum King Crimson ist 47 Jahre nach der Gründung ungebrochen: Mit sieben fulminanten Persönlichkeiten, die sich zu eiserner, kühler Präzision vereinigen, dürften sie auch heute die beste Rockband des Planeten sein.

© Stefan Franzen

Nichelle, ma belle

Als das letzte Mal auf dieser Seite ein Trekkie auftauchte, war das mit dem Tod von Leonard Nimoy ein trauriger Anlass. Jetzt gibt es Grund zum Feiern: In der kommenden Woche wird Star Trek 50 Jahre alt. Den Soundtrack dazu liefert uns das Mitglied aus dem Bordpersonal, das am besten singen konnte, mit Abstand!: Nichelle Nichols alias Lieutenant Uhura von ihrer Soulplatte Down To Earth aus dem Jahre 1967. James „Scotty“ Doohans Version von „Muss i denn zum Städele hinaus“ hätte ich gerne kredenzt, habe sie aber nicht gefunden…

Herzlichen Glückwunsch!

Nichelle Nichols: Know What I Mean“
Quelle: youtube

 

Schatzkiste #26: Süßer Gitarrenschmelz

franco & t.p.o.k.jazz - en colèreFranco & Le T.P.O.K. Jazz
En Colère – On Entre O.K. On Sort K.O.
(Makossa International Recordings, 1980)

gefunden auf: ebay

Der 1989 verstorbene kongolesische Gitarrenkönig mit seiner Bigband in Hochform. Die Aufnahme stammt aus der Phase, als die rootsige kongolesische Rumba sich zum plakativen Soukouss verdichtet hatte, aber noch nicht mit Drummaschinen und klebrigen Keyboards aufgefüllt wurde.  Vier epische Stücke, in denen sich elegante Mänerchöre, Bläser, die mich schon fast an die Basler Guggenmusik erinnern, swingende Polyrhythmik und vor allem Francos glitzernde Gitarrenphrasen zwischen dem 22. und 24. Bund austoben. Mein Soundtrack zum Augustausklang.

Franco & Le T.P.O.K. Jazz: „Tomkoma Bacamarade Pamba“
Quelle: youtube

 

 

Genesis in Belo Horizonte

graveola - camaleo borboletaGraveola
Camaleão Borboleta
(Mais Um Discos)

Wenn heute die olympischen Spiele in Rio zu Ende gehen, wird sich das mediale Interesse wieder schnell von Brasilien abwenden. Deshalb ein kleiner Beitrag gegen die sportgesteuerte Medienlandschaft. Aus der Metropole Belo Horizonte kamen seit Milton Nascimento schon immer sehr tiefgehende Beiträge zum brasilianischen Rock und Pop. Graveola, ein Kollektiv aus neun Musikern, setzt diese Tradition fort und baut auf dem dritten Werk die abenteuerlustige Mixtur in der Nachfolge der Tropikalisten aus. In ihren Songs siedeln Melodien von sonnigem Überschwang neben den erdigen Rhythmen des Nordostens („Maquinário”), ein nonchalanter Tango-Rock wird mit schrägen Bläsern und verstimmt blubbernder Orgel gewürzt („Aurora”). Was wie ein harmloser Reggae beginnt („Tempero Segredo”), wechselt im Laufe von vier Minuten zur melancholischen Ballade und in einen querstehenden Experimentalblock, und auch die Sambavariante aus Bahia wird mit stolzen Türmen aus E-Gitarren geschmückt. Viele musikalische Welten stecken hier collagenhaft in jedem Song. Wären Genesis in den späten Siebzigern in Brasilien gestrandet, sie hätten sich vielleicht bald so angehört.

Graveola: „Lembrete“ live
Quelle: youtube

 

Der Kuchen im Regen

Es könnten die absurdesten Textzeilen der Popmusikgeschichte sein: „Jemand hat den Kuchen da draußen im Regen gelassen. Ich glaube, das halte ich nicht aus, denn es war so schwierig ihn zu backen und ich werde das Rezept nie mehr auftreiben.“ Die Musik zu dieser Klage über eine Liebe, die sich nicht erfüllen konnte, wird aufs Dramatischste ausgestaltet, mit vollem Symphonieorchester, Tempowechseln und der zutiefst larmoyanten Stimme des Sängers Richard Harris. „McArthur Park“ ist nur eines der einzigartigen Lieder, die Jimmy Webb geschaffen hat. Der Songwriter, Komponist und Arrangeur aus Oklahoma, der heute 70 Jahre alt wird, schaut auf ein halbes Jahrhundert von Hits zurück, im Olymp der US-Songschmiede ist ihm schon jetzt neben Burt Bacharach ein Thron sicher. Zum 70. Geburtstag die – für meine Ohren 7 spannendsten Songs des Songschmiedes.

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Ringos Malapropismus

beatles - revolver
Heute wird das Beatles-Werk Revolver 50 Jahre alt.

Die einzige Art und Weise für mich, das Album gebührend zu würdigen ist mit einer Top 7 der Coverversionen von „Tomorrow Never Knows“, dem zeitlosesten Beatles-Titel (dessen Benennung auf die Kappe von Ringo geht) – und offensichtlich dem universellsten, wie die Interpretationen aus Klassik, Soul und Jazz, aus indischem Ethnopop und brasilianischem Punk zeigen. Weiterlesen

Klangreise zwischen Nuuk und Tucson

nive nielsen 3Foto: Promo

Nive Nielsen ist eine der momentan auffälligsten Persönlichkeiten der kleinen grönländischen Songwriterszene. Die Frau aus Nuuk hat ihre Musik mit ihrer amerikanisch-dänisch-schwedischen Band The Deer Children  zwischen der Wüste Arizonas und der Küste Westgrönlands zu einer verspielten bis melancholischen Indierock-Klanglandschaft entwickelt. Auf dem Rudolstadt Festival konnte ich sie zu einem – leider zeitlich knapp bemessenen – Interview treffen.

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Nah- und fernöstliche Suiten

hawniyazwu wei wang li - overtonesKayhan Kalhor, Aynur, Salman Gambarov & Cemil Qoçgiri
Hawniyaz
Wu Wei & Wang Li

Overtones
(Latitudes/Harmonia Mundi)

Die Philosophie der 2015 gestarteten CD-Serie „Latitudes“ von Harmonia Mundi ist es, Künstler vorzustellen, die durch eine poetische Vision „zu allen Menschen der Welt jenseits von Sprache oder Stil spricht“, so das Label. Im jungen Katalog finden sich in traditionellen Musikformen wurzelnde Interpreten des Nahen Ostens und Asiens, die sich auf zeitgenössisches Terrain wagen: Das chinesische Duo Wu Wei und Wang Li erprobt auf Overtones das Zusammenspiel der Mundorgel Sheng mit der Maultrommel Kouxian, was auch recht anstrengend wird, aufgrund der faszinierenden Lautmalerien verliert man mitunter den dramaturgischen Halt. Hawniyaz, das Quartett um den grandiosen persischen Kniegeigenspieler und die kurdische Sängerin Aynur hat sich auf dem Osnabrücker Morgenland-Festival gefunden. In langen Suiten mit Kamancheh, Stimme, Piano und Langhalslaute forschen sie nach neuen Wegen, wie sich nahöstliche Traditionen gegenseitig durchdringen können, beziehen dabei auch Strukturen abendländischer Klassik und Jazz mit ein. Ein Meisterwerk für alle Ohren, die zu Versenkung in meditative Abläufe bereit sind.

Hawniyaz live auf dem Morgenland-Festival Osnabrück
Quelle: youtube