1968 – Ein guter Jahrgang I

Feine Dinge, die dieser Tage 50 werden.

Joni Mitchell: „Marcie“ (aus Song To A Seagull, 1.3.1968)
Quelle: youtube

Aram Khachaturian: „Gayane – Adagio“ (aus: 2001 – Odyssee im Weltraum, 2.4.1968)
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Simon & Garfunkel: „America“ (aus Bookends, 3.4.1968)
Quelle: youtube

Luxus für die Lauscher

Ist das, was da in der hereinbrechenden Nacht wie ein Raumschiff daliegt, der schönste europäische Konzertsaal? Als ich kürzlich für zwei Abende in der linsenförmigen Philharmonie Luxemburg sein durfte, habe ich mich das immer wieder gefragt. Zwischen 1996 und 2003 hat der französische Architekt Christian de Portzamparc hier ein Gebäude in geschwungen-futuristischer Eleganz entworfen, das die umliegenden kalt-funktionalen Bauten des Europaviertels enorm aufwertet. Für mich als architektonischen Laien werden da sogar Erinnerungen an die organischen Gebäude von Oscar Niemeyer in Brasilia und Rio wach.

Danke an Sílvia Pérez Cruz für ein berührendes Chill at the Phil-Solokonzert im Kammermusiksaal, der mit seinem ineinander verschachtelten, fast biomorphen Aufbau an eine Muschel erinnert.  (Hier findet sich ein schöner Bericht von einem französischsprachigen Kollegen!) Danke an Vince Mendoza, Joshua Redman, das Trio Reis-Demuth-Wiltgen und das Philharmonische Orchester Luxemburg für ein fulminantes Klangfarbenerlebnis zwischen Klassik und Jazz.

Fotos: Stefan Franzen

Debussy im blauen Gras

Foto: Félix Nadar

Claude Debussy ist heute vor 100 Jahren gestorben.

Ich möchte ihn ohne Worte würdigen – mit einer Bluegrass-Interpretation seines „Passepied“ aus der „Suite Bergamasque“.
Das allein zeigt, wie universell seine Musik ist – und wie genial die Punch Brothers, die sich auf diesen Spagat eingelassen haben.

Punch Brothers: „Passepied“ (live)
Quelle: youtube

Flirrendes Saitendreieck

3MA
Anarouz
(Mad Music/Galileo)

Die panafrikanische Idee bewegt politische Visionäre seit vielen Jahrzehnten, und auch musikalisch wurde die Umsetzung immer wieder versucht – allerdings mit Ergebnissen von wechselnder Qualität zwischen akustischen Gemüseeintopf und gelungener Synthese. Bei 3MA funktioniert der Ansatz, weil man vom Minimalismus statt von Bigband-Opulenz ausgeht. Drei herausragende Solisten mit ihrem Instrument, mehr braucht es nicht, um ein begeisterndes Netzwerk von Marokko über Mali bis Madgaskar zu spinnen.

Zehn Jahre nach dem Debüt haben sich Oudist Driss El Maloumi, Koraspieler Ballaké Sissoko und Rajery an der Röhrenzither Valiha mit Anarouz zu einer Fortsetzung der Trioarbeit entschlossen. Reizvoll ist vor allem die klangfarbliche Abstufung zwischen der hellen Kora, der Staccato-artigeren Valiha und der dunkleren Oud, gerade wenn Unisono-Passagen gespielt werden. Virtuose Solo-Ausflüge bleiben immer im zeitlichen Rahmen, kehren immer wieder zu den sanglichen Themen zurück. Im Fokus steht der gemeinsame Groove, der zum Beispiel in „Anfaz“ wunderbar herausgearbeitet wird.

„Moustique“ bildet das Schwirren einer Mücke mit der Kora und Valiha grandios nach, „Lova“ mutet wie ein entspannter Wüstenritt an, in „Jiharka” hat die Oud ihre Sternstunde mit einem fließenden Intro. Bei zwei Stücken wagt man sich auch mal ans Mikro, Rajerys warme Stimme fällt hier besonders auf („Aretina“). Ansonsten gibt es nur ein klein wenig perkussive Unterstützung vom Pakistani Khalif Kouhen. Toller Saitenzauber, crosskontinental.

© Stefan Franzen

3MA live:
19. + 20.3. Bonn, Over The Border Festival

3MA: „Anarouz“
Quelle: youtube

Endspurt: Nonobillag – Schweiz muss sein


Über die Qualität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks lässt sich bekanntlich streiten, Stichwort „Programmreformen“, hinter denen sich hierzulande meist Streichungen der Sendeformate verbergen, die Tiefgang und Nischenfarben haben.

Was einige Schweizer unter dem Argumentationsführer Samuel Hofmann (Weltwoche) und mit Unterstützung der rechtspopulistischen SVP nun aber qua Volksentscheid am 4. März anstreben, ist die Abschaffung der nach ihrem Dafürhalten mit 451 Franken viel zu hohen Radio- und Fernsehgebühren. Die Initiative fordert, man solle nur noch für das zahlen, was man wirklich sehen und hören wolle. Ein Erfolg der sogenannten No Billag-Initiative käme dem Ende der SRG (Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft) gleich, die sich dann nicht mehr finanzieren könnte.

Das Aus für das öffentliche Medienhaus würde nicht nur die in der Schweiz tatsächlich noch vorhandene Programmvielfalt in Rundfunk und Fernsehen zugunsten der kommerzorientierten Privatsender beenden. Auch die integrative Kraft im viersprachigen Land und die Sprachrohrfunktion für die vielen Minderheiten eines unabhängigen Mediums ginge verloren. Filmförderungen und CD-Produktionen müssten eingestellt werden. Kurzum: Das gesellschaftliche und kulturelle Leben der Schweiz, wie wir es kennen, wäre nicht mehr dasselbe.

Die Gegenseite hat sich unter Nonobillag und Sendeschluss Nein formiert, wirbt etwa mit vielen Musikern von Sophie Hunger bis Faber in den Clips der #clap4culture-Serie. Originelle Werbevideos flankieren die Argumente für eine Beibehaltung der Gebühren.

Was hat die SRG je für uns getan?“
Quelle: youtube

Als deutscher Staatsbürger kann ich am kommenden Sontag leider nicht abstimmen. Allen Schweizer*innen, die noch unentschlossen sind, empfehle ich ein Besuch auf der Nonobillag-Seite.

Sophie Hunger #Clap4Culture
Quelle: youtube

Von Valencia nach Persien


Efrén López, Stelios Petrakis, Bijan Chemirani
Taos
(Buda Musique)

Ein imaginäres Klangreich von der spanischen Costa de Azahar über Kreta bis in den Nahen Osten – das entfaltet sich auf dieser CD. Den Multi-Instrumentalisten Efrén López kennt man seit seiner Zeit bei der Gruppe L’Ham de Foc als Erkunder jedes nur erdenklichen Saiteninstruments der letzten acht Jahrhunderte. Stelios Petrakis ist ein Meister der kretischen Streichlaute Lyra, Bijan Chemirani Mitglied einer berühmten iranischen Perkussionsdynastie. Nach seinem Debüt Mavra Froudia von 2011 knüpft das Trio jetzt weiter am Netzwerk zwischen Mittelmeer und Asien.

Mit „Helicobtir“, einer Widmung an die Fragilität der Libelle, geleiten uns die drei mit einem feierlichen Hymnenton in ihr Universum. Wie ein mittelalterlicher Veitstanz schließt sich „Shin U Zer“ an, basierend auf kurdischen Folktönen. Damit ist auch schon der ganzen faszinierenden Spannbreite zwischen kontemplativer und tänzerischer Sphäre der Boden bereitet. „Imeres Siopsis“ beginnt in höfisch-schreitender Eleganz, galoppiert dann aber rasant hinweg. In vielen Stücken wohnt solch eine unglaubliche Mikro-Dramaturgie, die innerhalb weniger Minuten eine vielgesichtige Suite entfaltet.

Es ist dabei vor allem López‘ Instrumentenpark, der immer wieder überraschende Räume öffnet: Eine einsame afghanische Laute lässt etwa in „To Katehon“ an eine Einsiedlergrotte denken, schwingt sich dann im Ensemble aber zu spiritueller Feurigkeit empor. Petrakis‘ Lyra übernimmt mit ihren rauchigen Obertönen dagegen in „Siranush“ die Hauptrolle, singt dieses armenische Liebeslied ohne Worte.

Der Höhepunkt ist mit López‘ Komposition „1oo Ulls“ erreicht, einer farbenprächtigen Widmung an die mythologische Figur des Argus‘ und seiner hundert Augen, die Göttin Hera nach dem Tod ihres Dieners in die Federn des Pfaus versetzte. Das Trio gestaltet sie mit einer rauschhaften Drehleiermelodie und majestätischen Rhythmen der nahöstlichen Perkussion Chemiranis. Der hat im Finale der CD einen grandiosen Soloauftritt, bevor die Reise mit „Nekyia“ endet, ein wehmütig atmendes Lamento der Lyra, inspiriert durch Odysseus‘ Ausflug in den Hades.

© Stefan Franzen

López – Petrakis – Chemirani spielen in der Schweiz:
26.2. Lausanne, Forum du Rolex
27.2. Zürich, Moods
1.3. Delémont, Centre Culturel Régional

Efrén López, Stelios Petrakis & Bijan Chemirani: „Taos“ EPK
Quelle: youtube

Der Mann mit den Fledermausohren

Foto: Stefan Franzen

Jon Gomm
Jazzhaus Freiburg, 17.02.2018

Ein nervtötendes Fiepen durchdringt das Jazzhaus-Gewölbe, niemand kann es lokalisieren. „Da ist ein Scheinwerfer kaputt“, sagt Jon Gomm, und als der Pultmeister ihn abblendet, ist das Fiepen weg. Als er mit seiner Gitarre eine Kick-Drum imitiert und es seltsam scheppert, weiß er gleich: Ein Bierglas auf einer Monitorbox ist der Übeltäter. Schwer vorstellbar, wo die Wahrnehmungsschwelle dieses Mannes endet. Er habe „Fledermausohren“, sagt der 40-jährige Brite über sich selbst, und die nutzt er auf die bestmögliche Art.

Aus der Gitarre ein Einmannorchester machen, das ist in den letzten 80 Jahren von Bukka White bis Andy McKee immer wieder versucht worden. Doch Jon Gomm treibt es auf die Spitze: Wer ihm zuschaut, hat manchmal den Eindruck, dass da ein Mann zum organischen Zahnradwerk wird, dass ein Bildhauer ein Artefakt aus einem Stück Holz heraus schnitzt. Seine sechssaitige Lowden, die er „Wilma“ nennt, muss tatsächlich Einiges aushalten: Im Laufe der Jahre ist sie durch die Bearbeitung mit Handflächen, Fingerkuppen und Knöcheln arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Der „shabby look“, dank Jon Gomm ist er auch im Gitarrenmetier angekommen.

Foto: Stefan Franzen

Selten schlägt Gomm noch die Saiten, er praktiziert ein rasantes Tapping mit beiden Händen, zaubert glasige Oberton-Melodien, erzeugt Slide-Effekte mit den Stimmwirbeln. Durch zwei Dutzend verschiedene offene Stimmungen erweitert er den Tonumfang bis in abgrundtiefe Bässe hinein, und Decke, Zargen und Hals werden zu Basstrommel, Snare und Tom. Wohltuend: Unter seinen Effektpedalen findet sich nicht das ausgelutschte Werkzeug namens Loop-Station, um Rhythmen und Melodien zu schichten, selbst Echos setzt er nur sparsam ein. Dieser Working Class-Guitarrero aus Blackpool ist sich selbst Kontrapunkt genug. Nun könnte das alles in akustischer Akrobatik enden, in Trapezkunst zum Selbstzweck.

Als er mal zwei Minütchen rasanten Barock einschiebt, wirkt das wie eine Persiflage auf die selbstverliebten Saltoschläger seiner Zunft. Denn Gomm ist eben nicht die eierlegende Wollmilchrampensau, sondern ein eigentlich bescheidener Musiker mit Wärme und großer Seele, was sich sofort wahrnehmen lässt, wenn man mal die Augen schließt, um das zappelige Bühnengeschehen auszublenden. Bei einem zärtlichen, fast indisch angehauchten Lied für seine kleine Tochter begleitet er sich mit Falsettgesang, an filigranes fernöstliches Lautenspiel erinnert ein Stück, dass er enteigneten chinesischen Bauern widmet.

Und Gomm groovt, völlig unverkopft: etwa, als er für Chaka Khans „Ain‘t Nobody“ zum kompletten Funkorchester wird, oder wenn er seinen Workshop „Wie imitiere ich mit einer Gitarre eine komplette Reggae-Band“ gibt. Richtig unterhaltsam wird die Show, wenn er das Publikum anspricht, teils auf Deutsch, schließlich hat er schon vor zehn Jahren Gig-Erfahrung in kleinen bayrischen Bierbeisln gesammelt, und ein „Fuck Brexit“ kommt ihm herzhaft von den Lippen. Genauso wütend ist er auf die Musikindustrie mit ihren zweifelhaften Erfindungen namens „X-Factor“ und „The Voice“. „Burn the factories down!“, ist denn auch seine Forderung, singend vom Gewölbe unterstützt. Er entzieht sich dieser Maschinerie konsequent, nutzt aber sehr agil die sozialen Medien: Deshalb sitzen im gut besuchten Jazzhaus nicht nur ältere Gitarrenfreaks, sondern auch viele junge Pärchen.

Doch dann wird es ganz still. Jon Gomm erzählt von seiner bipolaren Störung, und im anschließenden Stück, ein ergreifendes, verzerrt-verzweifeltes Lamento, reist man mit ihm in seinen Kopf, erlebt die Depressionen, die Schlaf- und Hilflosigkeit. Wie in keinem anderen Stück an diesem Abend werden Gomm, seine zerfurchte Wilma und das Publikum eins.

© Stefan Franzen

Jon Gomm: “ The Secret Of Learning To Fly Is Forgetting To Hit The Ground“
Quelle: youtube

The Healer

Foto: HP Mosebach

Als er gestern im Volkshaus Zürich an die Bühnenkante trat und ohne jede Mikrofonverstärkung „Grace Beneath The Pines“ sang, war das einer der größten Momente unter meinen Konzerterlebnissen der letzten Jahre. Glen Hansard kann mit seinen Texten und Tönen heilen. „Mission Save-A-Soul“ steht passend auch an der Bühnenorgel, und er hat es zusammen mit seiner 12-köpfigen Band in jedem Song bewiesen. Besonderes Faszinosum: Das Streichertrio mit Paula Hughes, Katie O’Connor und Una O’Kane. Danke, Glen für diesen fantastischen Abend.

Glen Hansard: „Grace Beneath The Pines“ (live)
Quelle: youtube

Geburtstagskind mit Goldkehle

Heute feiert die katalanische Sängerin Sílvia Pérez Cruz Geburtstag.
Genau in einem Monat (15.3., 19h) wird sie in der Philharmonie Luxemburg mit einem Solokonzert gastieren, das ich allen Leser*innen dieses Blogs wärmstens empfehle. Denn oft tritt sie im – in diesem Falle erweiterten – deutschsprachigen Raum nicht auf. Auch das Geburtstagsvideo, das ich ausgesucht habe, ist daher ein Solorecital: Ihre akustische Version des Stückes „Iglesias“ aus ihrem Debütalbum 11 de Novembre.

¡Feliz cumpleaños, Sílvia!

Sílvia Pérez Cruz: „Iglesias“ (off TV)
Quelle: youtube

Aus der gälischen Anderswelt

Julie Fowlis
Alterum
(Machair Records)

Mit Julie Fowlis verbindet sich für mich ein ziemlich amüsante Erinnerung: Als ich 2015 im marokkanischen Fès das Festival des Musiques Sacrées besuchte, musste die Schottin im strömenden Regen ihr Konzert bestreiten, bis von den Veranstaltern eine ziemlich unbürokratische Lösung gefunden wurde.

Jetzt hat Fowlis ihr drittes Album Alterum herausgebracht, dessen Titel sich aus einem Zitat von Plinius dem Älteren ableitet: „alterum orbem terrarum eam appelant“, „sie nennen es die Anderswelt“. Die Anderswelt war auch in den keltischen Sagen stets präsent, und Fowlis hat für ihre Scheibe traditionelle gälische Songs gesammelt, die vom Jenseits, von Aberglaube, vom Übernatürlichen sprechen.

Trotzdem ist Alterum alles, nur keine düstere Angelegenheit: Selten habe ich eine schottische Folk-CD gehört, die mit so viel Detailliebe, Ideenreichtum, Bedacht und l(e)ichter Hand textiert wurde. Zum Folkensemble mit Whistles, Geigen, Bouzouki, Harmonium und Bodhrán tritt hin und wieder ein Streichquartett mit kontrapunktischen Melodien.  Mit Dónal Lunny, Michael McGoldrick oder Donald Shaw sind Eminenzen der letzten fünf Jahrzehnte im Ensemble versammelt.

Viele der Songs sind auf den Äußeren Hebriden wie Barra, North oder South Uist beheimatet. Sie erzählen von einem mythischen Wasserpferd, von Menschengestalt annehmenden Seehunden. Doch die Poesie wird auch mal ganz zeitgenössisch, wenn eine Vertonung eines Abschiedsgedichts der Schriftstellerin Catriona Montgomery ertönt.

Es macht gerade den Reiz des Albums aus, dass Fowlis nicht streng im schottisch-gälischen Reich bleibt: Mit der eleganten Ballade „Camariñas“ geht es auch mal zu den südlichsten keltischen Anrainern nach Galicien, und das melodieselige „Go Your Way“ ist eine berührende Hommage an die große englische Folklady der 1960er, Anne Briggs. Zusammen mit der kürzlich vorgestellten CD von Blue Rose Code, bei denen Fowlis auch gastiert, ist dieses Kleinod für mich ein wunderschöner Beleg für die Zeitlosigkeit des Scottish Folk.

Julie Fowlis: „Dh’èirich Mi Moch Madainn Cheòthar“
Quelle: youtube