Während der 150. Geburtstag Kanadas näher rückt, ist nicht allen zum Feiern zumute. Diejenigen, die vor 1867 schon seit Jahrtausenden auf kanadischem Boden gelebt hatten, mussten nach der Ankunft der Kolonisatoren Vertreibung, Missbrauch und Ermordung über sich ergehen lassen. Die lange Leidensgeschichte der First Nations, Inuit und Métis wird seit 2008 durch die Truth & Reconciliation Commission aufgearbeitet, doch die Aufklärung der Verbrechen ist nur ein erster Schritt. Wer mit den Ureinwohnern sprechen möchte, deren Kultur in Kanada am 21.6. mit dem National Aboriginal Day geehrt wird, trifft oft auf Einsilbigkeit oder Schweigen – ich habe das auf meiner Reise selbst erfahren müssen.
Doch das Thema ist in der öffentlichen Diskussion angelangt und wird auch musikalisch aufgearbeitet. Im letzten Herbst hat Gord Downie, der krebskranke Sänger der Rockband The Tragically Hip mit seiner Platte The Secret Path die Geschichte des 12-jährigen Anishinaabe-Jungen Chanie Wenjack erzählt, der 1966 in einer kirchlichen Residential School in Ontario missbraucht wurde, floh und auf seinem 600 Kilometer langen Nachhauseweg an Entkräftung neben den Bahngleisen starb. Ihm bleibe noch Zeit, eine Geschichte zu erzählen, sagte Downie, und es war klar für ihn, dass es diese sein müsse.
Gord Downie: „The Stranger“
Quelle: youtube
Auch in die klassische Musik sind Versöhnungsversuche eingeflossen: Der Komponist Christos Hatzis lässt in seiner Musik zum Tanztheaterstück Going Home Star, das eine ähnliche Story wie die von Chanie Wenjack erzählt, Katajaq, First Nation-Gesänge und eine Orchesterpartitur aufeinander treffen. Mit We Are The Halluci-Nation hat die in Ottawa beheimatete Band A Tribe Called Red ein HipHop-Statement für die Fortdauer der First Nation-Kultur veröffentlicht. Und schließlich treten auch Inuit-Künstler wie die progressive Tanya Tagaq oder die tanzbaren Jerry Cans für das Erstarken eines neuen arktischen Selbstbewusstseins auf den Plan. An dieser Stelle möchte ich gerne nochmals verweisen auf mein Anfang des Jahres auf diesem Blog veröffentlichtes Interview mit den beiden Inuit-Frauen Cynthia Pitsiulak und Annie Aningmiuq.
Mit einem zweiten Interview möchte ich jetzt nachlegen: Der Plattensammler Kevin Howes vom Label Light In The Attic, Experte für marginalisierte Musikkulturen seiner Heimat, ist der Protagonist. Nach fünfzehn Jahren Nachforschungen in unzähligen Plattenläden und den Archiven der Canadian Broadcasting Corporation hat er 2015 Native North America, ein CD-Buch mit 34 Titeln von First Nations- und Inuit-Künstlern kompiliert, die von Mitte der 1960er bis in die 1980er entstanden. Das von mir transkribierte Interview hat mein Kollege Peter Disch mit Howes geführt – ich stelle Exzerpte daraus vor.
Various Artists:
Native North America
(Light In The Attic)
Kevin Howes: Seit 20 Jahren sammle ich Platten, das ist mein Lebensstil. Das hat sich aus meiner Tätigkeit als DJ herausentwickelt, diese Liebe zu Musik aus der Vergangenheit. Es mag seltsam klingen, aber mein Startpunkt war tatsächlich Rap, DJs, die in den 70ern alte Musik gesampelt haben. Ich wollte diese großartige Musik mit Menschen teilen, Musik, die sonst noch niemand entdeckt hatte. Mein Ausgangspunkt war Vancouver, doch dann fing ich an, durch ganz Kanada zu reisen. Ein Hippie war dabei mein Führer, der hat mich auf die Undergroundmusik aufmerksam gemacht, und schließlich wollte ich dadurch mehr von unserer der kanadischen Geschichte erfahren, die Musik bietet dazu großartige Gelegenheiten. Ich fuhr mit einem portablen Plattenspieler herum, damit ich gleich in den Archiven hören konnte. Und wenn ich zuhöre, dann entdecke ich Dinge, die auch heute noch relevant und wichtig sind. Und so kam ich dann auch in Kontakt mit indigenen Musikern.
Was war denn das Schlüsselerlebnis, diese Kompilation namens Native North America auf den Weg zu bringen?
Howes: Willie Dunn war da ganz wichtig, er ist ein Katalysator für dieses Projekt gewesen, das vor 15 Jahren begann. Zuvor hatte ich schon die Filme von Willie gekannt, ich erinnerte mich, das mein Geschichtslehrer in der High School „The Ballad Of Crowfoot“ (1968) gezeigt hatte. Da geht es um die Kolonialisierung und ihre Auswirkungen auf die Ureinwohner. Und auf der Platte begegnete ich dann wieder dem Stück „The Ballad Of Crowfoot“. Willie war sogar in Deutschland in den 1980ern auf Tournee.
Das deutsche Label Trikont hatte damals drei Platten von ihm veröffentlicht. War er dagegen in Kanada ein „König ohne Land“?
Howes: In Kanada ist das Problem oft, dass wir unseren eigenen Künstlern nicht die Anerkennung geben, die sie verdienen. Sie müssen oft das Land verlassen, um Erfolg zu haben, Neil Young und Joni Mitchell sind da gute Beispiele dafür.
Welche Rolle spielte Willie Dunn unter den Native-Künstlern, ist er eine Art indigener Pete Seeger?
Howes: Er hat nicht nur unglaubliche Musik und Filme veröffentlicht, er war auch ein Aktivist, der die Natives ermutigte, stolz auf ihr Erbe zu sein, das lange Zeit durch den Kolonialismus unterdrückt wurde. Er zelebrierte sein Erbe. Auf der mütterlichen Seite ist seine Herkunft Mic’maq, väterlicherseits ist er Ire und Schotte. Er ermutigte seine Leute, Gitarre zu lernen, Songs zu schreiben, sich an der Produktion von Kunst und Filmen zu beteiligen. Er ist auch ein Dichter, und viele der an der Compilation beteiligten Künstler sind der Meinung, dass Willie ihr Leonard Cohen ist. Er hat auch in Jugendcamps jungen Menschen als Mentor gedient. Er lebte schnell und hart, nahm aber alles mit Humor. Wir sind wirklich froh, ihn noch getroffen zu haben, bevor er starb.
Waren die Künstler, die auf den CDs vertreten sind, alle politisch und sozial bewusst?
Howes: Allein der Umstand, in Kanada ein Indigener zu sein, macht aus dir einen politisch bewussten Menschen, aufgrund der Unterdrückung, die du all die Jahre erfahren musstest. Es wird politisch, spirituell und leidenschaftlich. In den Texten sind Tragik, soziale Kommentare, aber auch Freude und Liebe enthalten. Sie umfassen das ganze Spektrum menschlicher Erfahrungen.
Wie war die Situation für diese Künstler als sie in den 1960ern begannen?
Howes: Willie Mitchell zum Beispiel wurde als junger Kerl von einem Polizisten für eine Lappalie in den Kopf geschossen. Es wurde ihm dann nur eine mickriges Schmerzensgeld gezahlt, nach Abzug der Reisekosten für seine Mutter waren da gerade noch 500 Dollar übrig, von denen er sich dann eine Gitarre gekauft hat. Er hat diese Tragödie dazu genutzt, sie in Inspiration zu verwandeln und mit seiner Musik weiterzumachen. Dann gibt es die Geschichte vom Inuit William Thrasher, der in ein Internat gezwungen wurde, um ihn vom traditionellen Leben mit seiner Familie abzuschneiden. Den jungen First Nations und Inuit wurde unter Strafandrohung verboten, in ihrer Sprache zu sprechen, ihnen wurden die Haare abgeschnitten. Aus Verzweiflung fing Thrasher an zu trinken und nahm Drogen, wie einige andere auch, die durchs Residential School System mussten. Durch die Musik konnte Thrasher wieder die Verbindungen zu seinem Erbe herstellen, er ging zu den Alten, um über die Geschichte seines Volkes mehr zu erfahren. Thrasher kommt aus den North West Territories, die eine große Veränderung erfahren haben. Seine Eltern haben noch gejagt und waren auf Powwows, aber diese Region wurde sehr stark modernisiert. Musik ist für alle diese Leute eine Möglichkeit gewesen, zu ihrem Erbe Kontakt zu bekommen. Natürlich müssen sie darum kämpfen, dass ihre Stimme gehört wird, wie alle unabhängigen Künstler ganz gleich mit welchem Hintergrund.
Über dieses Schulsystem zu hören, war für mich sehr verstörend, ich dachte so etwas gäbe es nur in nichtdemokratischen Staaten….
Howes: Ja, es ist wirklich verstörend. Ich habe bei den Recherchen zum Album ja auch viel gelernt über die Entstehung der kanadischen Nation. Im Ausland hat Kanada ja einen guten Ruf, es herrscht ein positives Bild vor. Doch ich war wirklich traurig, von dieser brutalen Vergangenheit zu erfahren. Wie die USA ist Kanada auf Betrug und gestohlenem Land aufgebaut. Wir sollten schon allein deshalb darauf hören, was die Ureinwohner uns zu sagen haben. Ich will von ihnen lernen und dieses Wissen auch weitergeben. Musik ist dafür eine gute Brücke, auch zwischen Generationen und verschiedenen technologischen Epochen. Deshalb bin ich auch stolz, dass dieses Projekt Menschen von unterschiedlichem kulturellen Background zusammengebracht hat und eine Musikkultur vorstellt, die bislang nicht außerhalb der Communities der Indigenen dokumentiert worden war. Alle diese Künstler sind in den Communities bekannt und gefeiert, aber nicht in der Masenmedienkukltur. Im Gegensatz zu den anderen Musikern reisten die Natives durch diese immense Landmasse Kanadas, von Reservat zu Reservat zu Friendship Centre. Einige von ihnen schafften es auf die Bühne von Folkfestivals, wo es eine Native-Bühne gab, einige von ihnen traten auch in den USA auf. Aber andere hatten eben die Möglichkeiten nicht, auf Reisen zu gehen, wie Künstler aus der Nunavik-Region im Norden Québecs, die Inuitband Sugluk zum Beispiel. Durch die Globalisierung und durchs Internet gibt es heute andere Möglichkeiten als in den 1960ern und 1970ern, als auch die Musikmagazine diesen Künstlern keine Beachtung geschenkt haben.
Was hat eine weiterführende Beachtung dieser Musiker verhindert?
Howes: Rassismus hat sicherlich eine Rolle gespielt, fehlende Infrastruktur, fehlende Unterstützung in den Medien. Das Gleiche galt früher für Künstler jamaikanischer, karibischer Herkunft in Kanada, über die ich auch viel recherchiert habe. Es ist lokal, es hat einen schwarzen Hintergrund, also ab in den Müll damit! Das ist symptomatisch für die kanadische Musikindustrie. Die Ureinwohner sind immer marginalisiert worden, und deshalb ist es umso notwendiger, dass man ihnen nun zuhört, auch wenn es für einen Nicht-Indigenen eine Herausforderung ist, dieser Musik zuzuhören. Das sind bahnbrechende Musiker: Sie waren die erste Generation, die ihr Erbe und ihre Spiritualität mit einer global gespielten Popmusik, mit Rock’n’Roll, Folk, Country kombiniert haben. Heute setzt sich das mit Rap und Techno in der neuen Native-Generation fort. Ohne ihre bahnbrechende Arbeit würden wir heute nicht Künstler wie Tanya Tagaq haben. ich denke, viele von den Jüngeren wissen Bescheid über die Bedeutung dieser Künstler der 60er und 70er. Ich selbst bin kein Native, aber ihre Musik hat mich in sehr tiefer Weise berührt.
Glauben Sie, dass diese Songs stark genug sind, mit den Popsongs der 1960er zu konkurrieren?
Howes: Aber sicher. Ich arbeite nun seit zwölf Jahren für Light In The Attic, und wir haben Re-Issues von Thin Lizzy bis zur Motown Organization veröffentlicht, und diese Musik ist gleichauf, sie hat nur nie die Aufmerksamkeit bekommen all die Jahre. Willie Dunn sollte im gleichen Atemzug mit Bob Dylan, Leonard Cohen und Neil Young genannt werden. Es ist fast kriminell, dass er so unterschätzt würde. Ich arbeite gerade an einer Anthologie aller Werke von Willie Dunn, sowohl Aufnahmen als auch Filme. Wenn du dir ein Stück anhörst wie „I Pity The Country“, dann ist das ein genauso kraftvoller Protestsong wie alle anderen in jener Ära. Seine Worte, seine Poesie, auch wenn er damit an ein sehr schwieriges Thema rührt, macht er es seiner Zuhörerschaft verständlich. Seit ihrer Veröffentlichung hat diese Kompilation breites Interesse erregt, Musikerkollegen haben mir erzählt, dass diese Songs sie zu Tränen gerührt haben, und mir ging es auch so, mich hat sie in den Tiefen meiner Existenz erschüttert, nicht nur die Musik, aber auch die Geschichten hinter den Songs. Unglücklicherweise sind die Themen der Songs, die Zerstörung der Umwelt, die Qualität der Menschenrechte immer noch so aktuell wie damals.
In diesem kleinen Dossier über die First Nations und Inuit konnte ich die komplexe Historie der Ureinwohner Kanadas nur flüchtig und musikalisch skizzieren. Das Finale kommt von einem ebenfalls auf Native North America vertretenen Sänger, David Campbell, halb Arawak, halb Guyaner – und seiner mythischen, mit psychedelischem Moog-Synthesizer begleiteten Geschichte vom „Sky Man And The Moon“.
© Stefan Franzen