Foto: William Mazzoleni
Joëlle Saint-Pierre (Québec)
aktuelles Album: Et Toi, Que Fais-Tu? (Eigenverlag)
Sie habe ich in einer Kneipe namens Le Verre Bouteille im Norden Montréals entdeckt, in Sichtweise des schiefen Olympiaturms. Dort treten immer wieder Musiker aus dem Songwriterfach auf, die man als ausländischer Kanada-Gast nicht unbedingt auf der Rechnung hat – am fraglichen Abend meines Besuches dort während des Montréal en Lumière-Festivals Mathieu Berubé, Chassepareil und eben sie. Joëlle schreibt ihre eigenen Lieder, zu denen sie sich aber nicht auf der Gitarre oder am Piano begleitet, sondern: auf dem Vibraphon. Das dürfte sie ziemlich einzigartig machen – nicht nur in Kanada.
Das Vibraphon ist ein Instrument, das man ja nicht oft im Chanson oder in der Popmusik findet. Wie hat deine Beziehung, deine Liebe zum Vibraphon angefangen? Kannst du beschreiben, was es für dich bedeutet?
Joelle Saint-Pierre: Als ich ein Kind war, habe ich Piano gelernt und dann Drums. Mit 12 bin ich aufs Konservatorium in Saguenay gegangen und habe dort das Fach Perkussion und klassische Perkussion belegt, ohne zu wissen, was mich erwartet. Ich musste mich da auch mit den Perkussionsinstrumenten mit Klaviatur befassen, also Marimba, Vibraphon und Xylophon. Die haben mir am meisten Spaß gemacht, denn die sind sehr spielerisch. Das Vibraphon spiele ich sehr zart, denn ich mag den Klang, wenn der Anschlag leise ist, die Obertöne sind reicher und das finde ich beruhigend. Der Klang des Vibraphons führt mich zu einer gewissen Einfachheit zurück, und das ist mein Ziel: in meinen Chansons die einfachen Sachen zum Ausdruck zu bringen.
Hast du auch mit anderen Idiophonen experimentiert?
Saint-Pierre: Ja! Früher war mein Lieblingsinstrument die Marimba. Ich habe sogar einen Meisterkurs mit der Marimba begonnen. Heute spiele ich sie viel weniger, denn sie ist zu groß und zu schwer für den Transport.
Profitierst du heute von deinem klassischen Musikstudium, spielen die Färbungen der verschiedenen klassischen Musikepochen eine Rolle in deiner heutigen Musik?
Saint-Pierre : Ich liebe vor allem die Barockmusik. Ich denke, das hört man raus ! Aber ich will bei alldem, dass meine Musik einfach bleibt. Denn was ich mache, soll ja der populären Musik angehören und ich mag die Chansons, die sich vermeintlich einfach anhören – aber es manchmal gar nicht sind.
Wer hat dich inspiriert, die Musik zu machen, die du heute machst. Gibt es da konkrete Vorbilder, sei es hier in Kanada oder auch in Europa?
Saint-Pierre : Ich wundere mich selbst darüber, dass ich heute Musik mache. Ich wollte zum Beispiel nie Sängerin werden. Es gibt Künstler, die ich bewundere und immer wieder höre : Nina Simone, George Brassens, Tom Waits, Urbain Desbois, Félix Leclerc, Johnny Cash, Keith Kouna, Stéphane Robitaille…Insgesamt höre ich mehr frankophone als anglophone Lieder, sowohl québécois als auch europäisch. Es gibt da ein großes Spektrum von Möglichkeiten, wie man Chansons hört, im Hinblick auf das Verhältnis von Worten und Musik. Es gibt Leute, die sich nur auf die Musik konzentrieren und welche, denen vor allem die Texte wichtig sind. Ich würde mich der zweiten Kategorie zugehörig fühlen.
Du bist in einer Region geboren, die zum Norden der Provinz Québec gehört. Inspiriert dich die dortige Natur zum Liederschreiben?
Saint-Pierre: Komplexere, abwegige Bilder lassen sich für mich leicht in etwas übersetzen, was mit der Natur zusammenhängt. Ich finde, dass in der Natur eine große Wahrheit, ein Frieden und eine Ursprünglichkeit liegt. Was mich sehr beeinflusst hat, ist die große Weite, die es in der Region Saguenay gibt, in der ich aufwuchs. Ich glaube, dass das in der Erziehung der Kinder eine gewisse Freiheit gibt, sei es zum Guten oder zum Schlechten – darüber will ich nicht urteilen.
Wenn man deine Videos anschaut, kann man nur erstaunt sein über die Koordination von Vibrahonspiel und Gesang, ein richtiges Multi-Tasking. Kam das ganz natürlich oder erfoderte das ein hartes Training?
Saint-Pierre : Am Anfang war es schwierig, vor allem weil ich es nicht gewohnt war, so kurze Töne zu singen. Heute habe ich sogar Schwierigkeiten, zu singen ohne dabei zu spielen. Für mich sind sie beide ineinander verzahnt und beeinflussen sich gegenseitig.
Du bist Québecoise, würdest du sagen, es gibt etwas typisch Québekisches in deinen Chansons, einen Ton, den man in anderen Provinzen nicht finden würde?
Saint-Pierre : Hmm…Ich glaube, der Sound von Montréal ist in der Produktion des Albums schon ein bisschen zu finden, aber genau die richtige Dosierung nach meinem Geschmack!
Kannst du mir etwas über die Musiker auf der CD erzählen ? Ich spüre da eine gewisse Jazz-Sensibilität, zum Beispiel in der Art, wie Kontrabass und Schlagzeug gespielt werden. Sind das Jazzmusiker?
Saint-Pierre : Haha ! Ich glaube, sie wären beleidigt, denn sie sind nicht gerade die größten Jazzliebhaber…
Auf der anderen Seite erinnern mich manche Passagen an die Música Popular Brasileira, auch an die Bossa Nova. Hast du eine Verbindung nach Brasilien?
Saint-Pierre : Das ist ein schönes Kompliment, denn ich liebe Bossa Nova, sowohl die Melodien, als auch die Sängerinnen des Genres. Aber der Einfluss ist sehr unbewusst.
Deine CD nennt sich Et Toi, Que Fais-Tu? Auf dem Cover sieht man ein Bild eines Bühnenplans. Das könnte eine Beschreibung deines Berufs sein, um jemandem zu antworten, der dich fragt : Und was machst du?
Saint-Pierre : Ja, exakt. Aber der Titel bezieht sich auch darauf, dass die CD so viele Liebeslieder enthält, und ich weit weggehen möchte von der ichbezogenen Sphäre. Die Zeichnung unserer Instrumente ist auch eine Art, unser Projekt zu beschreiben, um es menschlich zu machen und das mit einer Anti-Star-Ästhetik auszudrücken.
Du hast schon in Frankreich und der Schweiz getourt. Wie waren dort die Reaktionen, und konntest du Unterschiede feststellen, wenn du die beiden Zuhörerschaften vergleichst?
Saint-Pierre : Die Leute in Europa scheinen den Texten Aufmerksamkeit zu schenken, für die Québécois dagegen ist die Musik das Wichtigste. Das ist im Kern das Resultat meiner Beobachtungen, die ich während der Konzerte auf den beiden Seiten des Ozeans gemacht habe.
© Stefan Franzen